Kategorien
Tagesmail

Europa ist noch nicht tot

Hello, Freunde Europas,

muss man sich um Europa sorgen? Von Krise zu Krise wächst das größte Experiment in der abendländischen Geschichte über sich hinaus. Man sorgt sich um niedrige Wahlbeteiligung? Viele halten Europa nur für ein Elitenprojekt?

Am Wochenende fand eine überwältigende Wahl der europäischen Nationen für Toleranz und Offenheit statt. Tom Neuwirth, homosexueller Sieger des europäischen Sängerwettstreits setzte ein Fanal, „um dem homophoben Teil (Ost-) Europa zu zeigen, wie eine Botschaft der Liebe und eine Mission für bunte Vielfalt und gutes Miteinander in Europa aussieht. Conchita Wurst, im Herbst vom österreichischen Fernsehen ORF intern nominiert und seither selbst Hassbekundungen aus dem sogenannten Volk ausgesetzt, hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Mission ESC als politisch, als Kampfansage und als Symbol für das Andere schlechthin versteht,“ schreibt Jan Feddersen in der TAZ.

Wenn ein androgynes Wesen die „Massen“ in Wallung bringen kann, ist Europa endgültig degeneriert – oder hat an Selbstbewusstsein gewonnen. War es keine klare Absage gegen schwulenfeindliche Milliardäre & Popen in Moskau?

Seltsam, dass dieses exzentrische Mannweib aus jener Alpenrepublik kommt, die sich zu einem Drittel nach einem starken Mann sehnt und auf Demokratie keinen gesteigerten Wert mehr legt. Österreichische Europahasser

waren not very amused über ihren Triumph, auf den sie lieber verzichtet hätten.

Noch ist Europa nicht verloren, wenn seine Nationen einen friedlichen Wettbewerb durchführen, Buntheit und Vielheit der Geschmäcker neugierig erleben. Das TV-Publikum sah nicht nur die verschiedenen Künstler, sondern auch alle diversen Juroren der Länder, wie sie ihre gruppendynamischen Vorlieben und Abneigungen öffentlich auf ihre Verbündeten verteilten.

Der Song-Contest ist die einzige Sendung im Jahr, in der die europäische Großfamilie mit ihren verschiedenen Mitgliedern, Meinungen und Geschmäckern visualisiert wird. Eine Politsendung in ähnlichem Format wäre nicht vorstellbar. Europa hat so viele Gesichter, doch im deutschen Fernsehen erscheinen gerade mal zwei ältere Herren als Konkurrenten, die joviale Späßchen miteinander treiben.

Inzwischen dürfen kleinste Parteien ins europäische Parlament einziehen, doch wer im Fernsehstudio streiten darf, darüber entscheiden Chefredakteure der Öffentlich-Rechtlichen. Soll man sich wundern, dass die Leidenschaft des Publikums für Europa ausbleibt, wenn die TV-Mogule selbst die europäische Politik vernachlässigen und ausblenden?

Der Presseclub und fast alle Talkshows sind narzisstische Nabelschaubetrachtungen, in denen man ausländische Journalisten höchst selten sieht. Amerika wird von einem gewissen Andrew Denison repräsentiert, offenbar dem einzigen Journalisten der Weltmacht, der die deutsche Sprache ungefähr beherrscht und mit treuherzigem, knorrigen Cowboyton auftritt.

Das Mediengeschäft neigt zum Reduktionismus in Humankapital. Je mehr Geld sie für neue Studios und Günter Jauch verplempern – dessen Moderatorenfähigkeit umgekehrt proportional zu seinen Honoraren verläuft –, um so mehr müssen sie an pluralistischem Personal sparen. Allzu viele neue Gesichter verwirren nur das Publikum.

In ihren technisch aufwendigen Studios stolpern die Ancormen und -women deppert im unendlichen Universum herum, in ihren Gesprächsdompteurversuchen sitzen sie wie in einem dostojewskischem Kellerloch, um ihre Zellensicht der Dinge in restringiertem Wortschatz an ihr pflichtzahlendes Publikum zu emittieren.

Es soll Historiker geben, die den deutschen Sonderweg bezweifeln. Die können unmöglich deutsches Fernsehen gucken. Vom Fußball mit national-vergoldetem Rahmenprogramm haben wir noch gar nicht gesprochen.

Ein Programm zu gestalten, haben die gewaltigen Herren der Kameras ohnehin längst eingestellt. Wenn Spitzensport stattfindet, wird Spitzensport übertragen – und wenn‘s länger als 24 Stunden pro Tag dauert. Die Öffentlich-Rechtlichen sind zu verlängerten Werkzeugen der Sportgewaltigen geworden.

Ihr Bildungsauftrag reduziert sich auf das Motto: ein gesunder Körper ist schon der gesunde Geist. Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie ein Windhund: das muss als Basisbildung für eine domestizierte Kohorte unterhalb des Mindestlohns ausreichen. Wessen Überlebensressourcen knapp bemessen sind, der braucht keine Bildung de luxe. Versteht sich, dass die Sportler Putin für einen Wohltäter halten und bei Politik lässig abwinken.

Es konnte nur eine List der Vernunft sein, dass deutsche TV-Gewaltige eine Sendung übertrugen, die einen Blick nach draußen riskierte und Vertreter anderer Länder zu Wort und Gesang kommen ließ. Angesichts glitzernder Unterhaltungsmasken musste sich unvermutet ein gesamteuropäischer Trotz zusammengeballt haben, der es dem putinschen Zarewitsch zeigen wollte.

Möglicherweise galt der Protest auch Deutschland, denn die Treuesten Moskaus sind romantische Deutsche, die zu ihrem Diktator in guten wie in schlechten Zeiten halten. So sprach Parvenue Schröder und fast seine ganze Partei applaudierte. Unter ihnen elder statesmen wie Helmut Schmidt, Erhard Eppler, selbst der sonst aufrechte Egon Bahr musste in Reih und Glied den Parteisoldaten mimen.

Ein Parvenue ist einer, der von unten kommt und es bis ganz nach oben gebracht hat, wo Parvenues aus der ganzen Welt unter sich sind und ihre Netzwerke bilden. Früher nannte man das Korruption, heute müsste man von „Korruption mit Alibigesprächen“ reden.

Man glaubt es nicht; Schröder hat mit Kumpel Putin – ebenfalls Parvenue auf KGB-Niveau – gesprochen und sich für deutsche Geißeln eingesetzt, die man listigerweise vorher fest genommen hatte, damit Parvenue Schröder seinem Kaviar- und Champagnergeburtstag einen patriotischen Flair verleihen durfte. (Vorsicht: Verschwörungstheorie).

Der Spruch von Lord Acton: Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut, trifft für die neue Welt-Parvenue-Elite nicht mehr zu. Jemanden korrumpieren setzt moralische Grundsätze voraus, die verdorben werden können. Solche Kinderkrankheiten haben die Aufgestiegenen überwunden. Absolute Verdorbenheit kann absoluter nicht verdorben werden.

Sie sind jenseits von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Wahr und Unwahr. Was sie tun, ist eo ipso gut, richtig und wahr, und zwar, weil sie es tun. Parvenue Schröder hat durch seine Umarmung der unteren Welt gezeigt, dass sich deren Moralvorstellungen auf Kammerdienerniveau befinden.

Wessen Freund ein Parvenue geworden ist, dem bleibt er ein Leben lang verbunden. Auch in schlimmen Tagen, wie der Hannoveraner – ein echter Kerl, wie die FAZ dichtete – nicht ohne Stolz in der Stimme hinzufügte. In schlimmen Tagen? Putin wird doch keinen nervösen Magen nach erfolgreicher Beute gehabt haben?

Echte Kerle der Welteliten sind jenseits von Demokratie und Despotie, Menschenrechten und Völkerrechten. Schon vor Jahren begann die deutsche Presse, den Unterschied zwischen links und rechts, gerecht und ungerecht zu kappen. Auch der Klassenkampf wurde von SPD-Münte ersatzlos gestrichen. Seitdem gibt’s nur noch Aufgestiegene und Versager, die ihre Startchancen nicht nutzten.

Aber nein, die Deutschen sind doch keine Gegner der Russen, ihrer Brüder im messianischen Blut! Sie sind nur traurig, weil Putin geschmäht wird von der Welt, wo er doch nur zusammenwachsen ließ, was zusammengehörte.

Für Parvenue Schröder ist Parvenue Putin nach wie vor ein lupenreiner Demokrat. Da kennt Schröder nichts, in solchen Dingen ist er irrtumsunfähig. Bis heute kritisiert Schröder nur den Westen, seinen Freund lässt er nicht im Regen stehen.

Natürlich muss der Westen kritisiert werden, der Osten allerdings auch – wenn man wirklich verstehen und gerecht beurteilen will. Das will man in Deutschland nicht. Verstehen ist für Deutsche Billigen. Wer Russland versteht, billigt alles, was Russland tut. Nicht nur Schröder, auch viele Linke wollen verstehen, um zu rechtfertigen.

Doch das ist Lagerdenken und Bergpredigen: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Wer wahrhaft verstehen will, versucht die Welt zu verstehen, nicht nur einen Teil. Wer nur Putin versteht und nicht den Westen, hat nichts verstanden.

Verstehen schließt Beurteilen nicht aus. Wer Putin versteht und beurteilt, beurteilt und versteht auch den Westen. Einseitiges Verstehen ist Parteiergreifen und ist keine Liebe zur Wahrheit. Richtig, es gibt keine unvoreingenommene Wahrheitssuche, aber eine, die ihre Voreingenommenheit zur Kenntnis nimmt und in Rechnung stellt.

Glaubt irgendjemand, dass Schröder Putin versteht oder vice versa? Das wäre lachhaft. Parvenues verstehen nur den Mechanismus des Aufwärtsbuckelns und Nachuntentretens. Sie verstehen nur, was sie selbst nach oben bringt. In diesem Sinne erkennen sie sich gegenseitig sehr schnell. Solange sie nach oben unterwegs sind, hassen Parvenues alle Konkurrenten. Nur, wenn sie oben angekommen sind, werden Parvenues großzügig und souverän – unter ihresgleichen. Nach unten werden sie hämisch und abfällig.

Warum lacht Parvenue Schröder auf die gleiche Art, wie Schwarzenegger seine Muskeln spielen lässt? Weil er allen Losern zeigen will: ihr könnt mich alle. Mich fangt ihr mit eurer Spießermoral nicht mehr ein.

Natürlich muss man miteinander reden. Besonders in Krisen. Wer nicht redet, schießt. Ist es nicht eine selbstverständliche Tat, für Opfer einzutreten? Muss man Schröder deshalb zum Heros machen? Diente sein staatsmännisches Eintreten für die Geißeln nicht vor allem der Rechtfertigung seiner obszönen Feier? War das Ganze nicht ein kalkulierter Coup?

In seinem Tun sollte der Mensch sich vor einem falschen Schein hüten. Dem Schein, dass man zu allem bereit wäre, sogar dem Unmoralischen.

Diese Scheu ist Parvenue Schröder unbekannt. Der ganzen westeuropäischen Mischpoke streckt er die Zunge heraus: denkt, was ihr wollt. Ihr seid doch nur neidisch auf mich. Am liebsten wärt ihr doch an meiner Stelle. Mir jedenfalls macht ihr kein schlechtes Gewissen. Ich hab‘s geschafft und das zeig ich der Welt. Wenn‘s der Welt nicht gefällt, soll sie sich ins Messer stürzen.

Die einen führen Penisverlängerer mit sich, Schröder hat sich sein Siegergrinsen patentieren lassen. Unter Aufstieg versteht SPD-Parvenue Schröder Ankommen in jener Klasse, die nur noch Erfolgreiche kennt, keine Ideologen, Klassenkämpfer oder Moralisten.

Entgegen allen neoliberalen Gleichheitsfeinden: bei Erfolgreichen gibt’s nur noch Gleiche. Vor dem Erfolg ist jeder Erfolgreiche gleich. Wer oben angekommen ist, der ist dem anderen Angekommenen Kumpel, Bruder oder Freund. Es sei –, er stürzt ab, dann könnte er ganz schnell wieder im Orkus der Vergessenheit verschwinden. Nur die nervenstärksten Erfolgreichen ertragen die Gegenwart von Leuten, die sie an die Vergeblichkeit alles irdischen Tuns erinnern.

Schröder scheint es völlig schnuppe, dass sein russischer Kumpel ihn als Gewährsmann seiner neoimperialen Politik benutzen könnte: schaut her, meine russischen Untertanen. Wäre Gospodin Gerhard mein Freund, wenn er meine Raubtierpolitik für falsch hielte? Mein Freund ist nur ehrlich und hat die Heuchelei des Westens überwunden. Er ist auf unserer Seite. Und sein lukrativer Posten im Gasgeschäft hat er aus Überzeugung übernommen und nicht aus billiger Gier.

Schröder umarmt Putin, dessen Politik sein ehemaliger Freund Steinmeier mit allen diplomatischen Mitteln bekämpfen muss, damit sie nicht zum Flächenbrand ausartet. Hat ein einziger Journalist dem Herrn Schröder die Frage gestellt, ob ihm nicht klar sein muss, dass sein Freunderl-Verhalten der deutschen Regierung und den Menschen in der Ukraine das Leben erschwert, weil er dem Feind der Freiheit schöne Augen macht?

Glaubt er nicht, dass er ein falsches Signal nach West und Ost sendet? Signalisiert er nicht dem Osten: alles okay, wenn ihr die Schwulen und Gottlosen hasst? Dem Westen: gehabt euch nicht mit eurem Demokratismus, an den ihr gar nicht mehr glaubt – ich übrigens auch nicht. Na und? Ist nicht längst die Epoche der Postdemokratie angebrochen? Selbst in Amerika? Gebt doch nicht an mit euren westlichen Maßstäben, die ihr innerlich und immer mehr äußerlich schon lange aufgegeben habt.

Die öffentliche Darbietung ihrer entente cordiale soll der Welt zeigen: wir beide, aus verschiedenen Lagern der Welt, gehören zur Herrschaftselite oberhalb aller Kategorien und Politideologien. Wir haben es nicht nötig, unseren Erfolg zu verstecken, um dem Neid gewisser Hinterwäldler zu entgehen. Wir stehen zu unserem Erfolg, der unsere außerordentlichen Fähigkeiten bestätigt.

Lang ist‘s her, als ein Senator Fulbright vor der Arroganz der Macht warnte. Die EinProzentElite der Welt ist sich ihrer Sache derart sicher, dass sie weder Kritik noch Protest oder Revolution fürchtet. Putin & Schröder gehören zur Schicht der Unangreifbaren. Sie fühlen sich immun. Die Alphatiere der Weltgesellschaft verstecken sich nicht mehr schamhaft hinter dicken Villenmauern und betulichen Gönner- und Stiftergesten. Sie gehören zu den neuen Exhibitionisten der Weltmacht, die ohne Feigenblatt zeigen, was sie gehortet haben.

Was halten Schröders schwule Freunde von dem homophoben Verächter des dekadenten Westens? Billigt Schröder die drakonischen Strafen der Pussy Riots, die direkt von Putin ausgesprochen worden sein sollen? Billigt Schröder die Verfolgung der freien Presse, die Unterdrückung der Opposition, die Vergiftung der freien Meinungsäußerung im ganzen Land? Was hält Schröder vom russischen Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew, auf den sich sein Freund im Kreml neuerdings bezieht? Berdjajew hatte dem Westen sündiges Treiben und sittlichen Verfall vorgeworfen?

„Bei seiner jüngsten Rede an die Nation zitierte Putin aus Berdjajews Buch „Philosophie der Ungleichheit“: „Der Sinn des Konservatismus besteht nicht darin, die Bewegung nach vorne und nach oben zu bremsen, sondern die Bewegung nach hinten und nach unten zu verhindern.“ Für Putin, wie übrigens für den frommen Philosophen Berdjajew, bedeutet die Gleichberechtigung Homosexueller einen zivilisatorischen Schritt nach hinten und nach unten.“ (Tim Neshitov in der SZ)

Weiß Atheist Schröder um die Konversion Putins ins Lager der orthodoxen Popen? Weiß Atheist Schröder, dass Religion Interessenpolitik ist und kein interesseloses Wohlgefallen an einer jenseitigen Welt?

Berdjajew vertritt eine religiöse Machtpolitik, die der des deutschen Romantikers Novalis vergleichbar ist. Europa oder ganz Eurasien soll wieder ein christlicher Kontinent werden, wie einst in mittelalterlichen Zeiten, als „eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte. Ein Oberhaupt lenkte und vereinigte die großen politischen Kräfte. Unter ihm die Zunft der Geistlichkeit – eine zum Himmel weisende, friedensstiftende Gesellschaft.“ Mit Recht widersetze sich das weise Oberhaupt der Kirche der „frechen Ausbildung menschlicher Anlagen“ auf Kosten des heiligen Sinns. In der „Philosophie der Aufklärung“ konzentriere sich der Hass gegen das Heilige, gegen allen Enthusiasmus, um endlich in einer zweiten Französischen Revolution zum Durchbruch zu kommen.“

Putin fürchtet die Unbotmäßigkeit seiner Bevölkerung und stranguliert alle Bestrebungen, die zur wahren Demokratie führen könnten.

Ist das die neue Weltsicht Schröders, die er Hand in Hand mit seinem russischen Freund der Welt demonstrieren will? Was müsste Putin tun, damit sein deutscher Freund ihm die Freundschaft kündigen würde: bis hierher und nicht weiter, Wladimir?

Aufrechte Genossen aus dem Ruhrgebiet wollen den Überflieger aus der Partei werfen, Gabriel preist den Parvenue in höchsten Tönen. Die verdienstvolle Arbeiterpartei ist dabei, sich öffentlich zu Grabe zu tragen.

Parvenues stehen am Grab und werfen grinsend ihre Gesinnung hinterher.