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EU

Hello, Freunde der EU,

EU – griechische Vorsilbe – heißt auf Deutsch gut. Das Projekt Europa als friedliche Vereinigung uralter Feinde war glänzend und gut. Nun beginnt es schlecht und miserabel zu werden. Aus Eu-ropa wird Kako-reupa. Putin kann seine Truppen in den Kasernen lassen, die EU zerlegt sich selbst.

In der langen Regierungsphase Merkels wird die EU systematisch tranchiert. Mit Tranchen zerschneidet Brüssel Griechenland – und ganz Europa – in Stücke. Die Starken sichern sich die besten Scheiben, die Schwachen dürfen sich um die Knochen balgen.

„Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“. Scheitert Europa, dann scheitert Merkel – natürlich nicht. Merkel ist unscheiterbar. Dafür sorgen ihre lieben Deutschen, die keine Politik mehr wollen, sondern öffentliche Seelsorge. In der Welt habt ihr Angst, seid getrost, Mutter Merkel hat die Welt im Griff.

Aus lichter Höhe schaute Merkel zu, wie die europäischen Finanzminister ihren Kollegen Varoufakis aus dem Saal warfen. Heute Abend hat sie alle deutschen Parteien zur GA-Groko (Ganz Großen Koalition) eingeladen, um den nationalen Notstand auszurufen und mit mütterlichem Charme die völkische Gemeinschaft zu beschwören. Ein Volk, ein Wohlstand, eine Madonna der Nation.

Gestärkt durch den Zuspruch der Parteigranden, die in der Stunde der Not kein Gezänk mehr kennen, wird sie im Alleingang die Griechen retten und den Nobelpreis in der Kategorie „Rettung in letzter Sekunde“ erhalten.

Merkel besitzt nicht die geringste politische Gestaltungsidee für Europa. Sie kennt nur Zahlen und Bilanzen. Europa hat sie zum neoliberalen Käfig krank geschrumpft.

Seitdem die Griechen verloren scheinen, erwachen die caritativen Gefühle der Deutschen, die über Nacht von griechischen Brüdern und Schwestern zu

flöten beginnen. Die mit Lebensmitteln, Medikamenten und fröhlichen Leichensäcken hochbeladenen Lastkraftwagen der Caritas stehen schon zur Abfahrt bereit. Die Deutschen sind überaus hilfsbereit, sofern Afrika kurz vor dem Kollaps und Griechenland unmittelbar vor dem Krepieren steht.

Das fromme Deutschland ist in den Schwachen mächtig. Es hasset die Starken und widerstehet den Selbstbewussten. „Die Starken bedürfen des Arztes nicht. Ich, Merkel, mache zuschanden, was stark ist“. Möglicherweise hat Frau Mutter die griechische Störrigkeit unterschätzt, zumal Tsipras‘ Idee der Volksabstimmung ein unvermuteter Coup war. Jetzt entscheidet das griechische Volk. Und keine deutsche Madonna von Schmerlenbach, die nach außen schmerzensreiche Trauer trägt und in Wahrheit Gerichtsvollzieher und knallharte Konkursverwalter durchs Dorf jagt.

Gestern brachte Jauch das gefühlte Überlegenheitsverhältnis der Deutschen auf den Punkt: vier rechtgläubige Neoliberale gegen einen Griechen, der die Unverschämtheit besaß, eine stellvertretende Stimme für alle „Armen und Ausgegrenzten“ zu sein, die von linken Parteien Europas nicht mehr vertreten werden.

Gabriel war eine geschlagene Stunde lang Unterstützer des Referendums gewesen. Erst, als er hörte, Syriza würde dem Volk die Ablehnung der „Reformen“ empfehlen, drehte er sich um 180 Grad und wurde zum empörten Gegner.

Selbst dem lammfrommen Steinmeier fehlten die Worte über die Infamie der griechischen Regierung, alle Entscheidungslast dem Volk aufzuhalsen und sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Wir lernen die Lektion der Stunde: Demokratie ist eine in Verfassung gegossene Feigheit der Regierenden, die Dinge der Gesellschaft selbst zu regeln. Auch für die Demokratie muss Römer 13 gelten. Jede Obrigkeit, auch die gewählte, ist „Gottes Dienerin für dich zum Guten.“ Wäre eigenartig, wenn das Volk wüsste, was gut ist für sein Glück.

„Glaubt jemand ernsthaft, dem Ministerpräsidenten in Athen geht es beim Referendum um die Rettung der Demokratie?“ (FAZ.NET)

Als der verwegene Grieche sich zur Behauptung aufschwang, es ginge nicht um quantitativen Pipifax, sondern um Grundsatzfragen des „Wirtschaftssystems“, landete er endgültig in der Abteilung „groteske Selbstüberschätzung, wenn die Griechen die Grundsatzentscheidung im Alleingang zu ändern versuchen sollten. Da kann man sich als Sachwalter der Mühseligen und Beladenen begreifen: Es ist sinnlos, wenn nicht die Schwesterparteien von Syriza im übrigen Europa ebenfalls die Regierungen stellen sollten.“

Wie können andere zum Widerstand ermuntert werden, wenn niemand den Widerstand beginnt und sich als Avantgarde betätigt? Don Quixote wird allenthalben als Roman gerühmt, doch als politische Leitfigur wäre er eine Lachfigur im Wachsfigurenkabinett heutiger Euro-Technokraten, die im „Tun des Notwendigen“ unschlagbar geworden sind.

Europa ist zum Multi-Konzern mutiert. Was ist Merkels Vision für ihr geliebtes Abendland? Ein wettbewerbstüchtiger Kontinent zu sein. Was ist das? Wenn im Ranking der Weltnationen Europa an der Spitze mitmischt und China und anderen nachdrängenden Völkern Paroli bieten kann.

Wäre Europa nicht reich genug, um all seine Gesellschaften satt und friedlich zu machen? Wirtschaft dient nicht der Deckung der Bedürfnisse. Ökonomie ist nicht für den Menschen da, der Mensch ist für die Eitelkeiten der Ökonomie da. Tollkühn und verwegen, dass Griechen die Gretchenfrage stellen. Sag mal Brüssel, wie hältst du‘s mit der Verteilungsgerechtigkeit?

Die FAZ ist großzügig beim Benennen der Systeme: „Das kann man Neoliberalismus nennen, ihn auch ökonomisch und politisch kritisieren. Aber das Argument des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) der Regelgebundenheit kann man nicht einfach ignorieren, selbst wenn man diese Regeln für falsch hält.“

Eine Änderung heiliger Profitgrundsätze kann man nicht durch akademisches Debattieren allein herbeiführen. Man ändert, indem man schlechte Regeln zu ändern versucht. Alles andere ist Gebaren deutscher Revolutionäre, die den Aufstand vermasselten, da sie den Rasen nicht betreten durften.

Wer nur auf „einvernehmliche Änderung“ setzt, sollte hinterm Ofen sitzen bleiben. Ohne partielle Regelverletzung idiotischer Regeln läuft nichts – wenn die Herrschenden zur fairen Debatte unfähig sind. Jauch weiß nicht mal, was ein solches dialogisches Ungetüm ist. Muss erwähnt werden, dass Jauch – der gern den pluralis majestatis nutzt, um als geschlossenes deutsches Tribunal aufzutreten – nicht daran dachte, eine solche Grundsatzdebatte zuzulassen?

In Europa, das den Neoliberalismus als Religion verinnerlichte, ist jede Grundsatzdebatte Blasphemie. Abendländer Stoiber schrie nur noch in heiliger Empörung. Ein EU-Technokrat befahl dem renitenten Neuhellenen, er solle den Mund halten. Dem Publikum musste durch Lautstärke und autoritäres Gehabe vor Augen geführt werden, wer im europäischen Haus Koch und wer Kellner ist.

Jauch ist ein Drei-Sterne-Koch – im unmittelbaren Dienst der Mutter Merkel. Die „Dilettanten aus Athen“ sind schon deshalb unfähig, Reformen anzumahnen, weil sie bankrottierende Volkswirtschaftler sind. Wer nichts im Geldbeutel hat, hat auch nichts im Kopf zu haben. Es ist wie im Dreiklassenzensus des Bismarckreiches. Die Geldsäcke haben den größten politischen Verstand. Hungerleider sollen sich trollen.

(In den USA gelten ähnliche Gepflogenheiten. Schwarze und Arme werden trickreich vom Wählen ausgeschlossen.) Vor Gott sind alle Menschen gleich – wenn sie gleiche Zahlen auf ihren Konten vorzuweisen haben.

„Dieser linke Voluntarismus ist abenteuerlich und muss zwangsläufig außerhalb der Eurozone enden.“

Tja, so ist das mit ungebildeten deutschen Edelschreibern, die irgendwo ein Fremdwort auflesen und nicht wissen, was es bedeutet. Warum gibt es noch kein Mediengesetz, wonach jeder Tintenkleckser per Pisatest nachweisen müsste, dass er auch versteht, was er schreibt?

Die deutsche Presse ist keine Lügenpresse. Sonst wüsste sie, dass sie die Wahrheit verdreht. Sie ist eine Kannitverstanpresse: Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich nicht versteh, was ich schreib. Der Heiland dürfte nicht länger fragen: verstehest du auch, was du liesest? Sondern müsste formulieren: verstehest du auch, was du geschrieben hast?

Ein Voluntarist will ohne rationale Argumente mit einem despotischen Husarenstreich die Dinge verändern. Haben die Griechen nicht weitaus mehr vernünftige Argumente auf ihrer Seite als die darwinistischen Hayekianer, die den brutalen Lauf der Dinge anbeten, weil die Evolution es will?

Freilich, was vernünftig ist, darüber lässt sich trefflich streiten – wenn man streiten könnte. Jauch als Spitze der deutschen Medien weiß nicht einmal, was Streiten ist. Was in der ARD ablief, war eine schändliche Bankrotterklärung des deutschen Journalismus.

BILD hat nicht einmal den Anspruch, das Gruppenbashing objektiv darzustellen. Kritische Stimmen der Talkrunden werden von IHR nicht mal erwähnt. Berichtet wird nur, was sich sensationsheischend vermarkten lässt.

Erst stirbt das Wort, dann der Buchstabe, dann das Streitgespräch auf der Agora. Dann die Flüchtlinge, die Darbenden und Überflüssigen, alle Opfer der Ungerechtigkeit, die ihr Los nur durch geschliffene und bessere Argumente ändern könnten.

Logik ist die Waffe der Benachteiligten. Obrigkeiten und Eliten benötigen keine Logik. Sie haben die Kirchen, die Polizei und die Schuldenfalle. Europa versackt in den Gräbern seines Buchstabengenozids. Wenn der Buchstabe nichts mehr gilt, kann jeder die Realität in eine Brutstätte seiner Phantasmagorien verwandeln.

Rainer Hank, ebenfalls FAZ, begnügt sich erst gar nicht mit Argumenten. Argumente – besonders der moralischen Art – seien dubios, weil jeder Hans Narr seine eigene Meinung haben dürfte:

„Solidarität klingt immer gut, weil sich jeder etwas anderes darunter vorstellen kann.“ (Rainer Hank in FAZ.NET)

Man fasst es nicht. Die wirksamste Waffe beim Import der neucalvinistischen Wirtschaftswalze war das „Argument“, dass es in moralischen Fragen keine Argumente geben könne – weil jeder seine eigenen habe. Argumente seien zudem Profilierungsversuche tugendhafter Wichtigtuer.

Fast jede Debatte um Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit beendeten die Neoliberalen – bevor sie überhaupt begonnen hatte – mit dem Schlagetotsatz: Ach wissen Sie, was ist schon Gerechtigkeit? Jeder habe hier seine eigenen Vorstellungen. Ein Streit über solche subjektiven Einschätzungen sei weder möglich noch sinnvoll. Moralische Schwärmereien könnten objektive Gesetze der Natur nicht tangieren.

Seit Erfindung des Frühkapitalismus gelten die neu gefundenen Gesetze der Wirtschaft als eherne Gesetze der Evolution. So wenig moralische Gefühle die Gesetze der Natur verändern könnten, so wenig die Gesetze der Ökonomie.

Abwerten der Moral ist Bestandteil des Kapitalismus wie des Marxismus. Fast alle deutschen Journalisten verhöhnen moralische Stellungnahmen zu Fragen der Wirtschaft. Lafontaines Beiträge in einer deutschen Talgshow werden regelmäßig als Oskars Langspielplatten verhöhnt (so neulich im SPIEGEL). Monologe der Kapitalismuspriester hingegen werden mit keinem kritischen Wörtlein bedacht.

Hank polemisiert gegen die hehre Idee von Europa, die durch einen Grexit angeblich zerstört werden könnte. Das sei eine „Sakralisierung Europas“, die keiner Überprüfung stand hielte. Herodot, ein „erfindungsreicher Lügner“, habe die sakrale Idee Europas als Mythos ausgebrütet.

„Herodot hat den Mythos vom Abendland erfunden. Von ihm stammt die Erzählung eines Ost-West-Konflikts, den barbarische Perser angestoßen haben sollen. Es ist die klassische David-Goliath-Geschichte, die den Ursprungsmythos Europas umso mehr schmückt: Die Griechen, klein an Zahl, besiegen die vielen persischen Barbaren im Osten. Eine Geschichte, allzu schön, um wahr zu sein.“ (FAZ.NET)

Mit einem Federstrich vernichtet Hank die gesamte Geschichte Europas von Athen bis heute. Warum kann der Freiheitskampf der Griechen gegen die Perser nicht stattgefunden haben? Weil sie zu schön ist, um wahr zu sein. Nicht die geringste Auseinandersetzung mit der Geschichte Europas ab den Freiheitskriegen bei Marathon und Salamis. Was nicht sein kann, weil es zu schön wäre, darf auch nicht sein.

Solche „voluntaristischen“ Dekrete sind ein Verrat an der athenischen Philosophie, Demokratie und Entwicklung der Menschenrechte. Kaum fasslich, dass das Gegenteil alles Heiligen, die irdische Autonomie des gleichen und freien Citoyens, der Inbegriff einer überhöhten Sakralisierung sein soll. Hank, katholischer Ex-Theologe, kennt keine Skrupel, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Für ihn gibt es weder Solon, noch Perikles, weder athenische Volksherrschaft noch den Triumph des politisch mündigen Menschen.

Dass moderne Demokratie nur als Wiedererinnerung und Rekonstruktion der griechischen möglich war, hat sich bei der FAZ nicht herumgesprochen. Nach Hank ist es kein heiliger Vatermord, wenn Europa zerschlagen wird. Ohnehin war es nie eine Einheit. Der Euro hat keine gleichstarken Nationen hergestellt. Im Gegenteil, er zerstört, was von Anfang an untergangswürdig war. Was fällt, das soll man auch noch stoßen (Nietzsche).

Und wer ist schuld an den falschen Grundlagen Europas? Wie immer lautet die neoliberale Antwort: die hybride Politik, die sich in eherne Naturgesetze einmische, wo sie nichts zu suchen und nichts zu steuern habe. Der Markt ist ein selbstregulierender Mechanismus, der seinesgleichen sucht. Wir haben nichts Besseres und Vollkommeneres als den Markt, der in genialer Manier – unbegreiflich für den Menschen – immer das Beste und Günstigste präferiere.

„Es war der entscheidende Konstruktionsfehler bei der Einführung des Euros, dass politische Ziele mit ökonomischen Mitteln durchgesetzt werden sollten.“

Hanks Resumee ist ganz im Sinne des politik- und vernunftfeindlichen Erfinders Hayek: schafft die Politik ab. Lasst den Markt walten. Wie Gott in der Theologie, entzieht sich der Markt dem naseweisen Klügeln des Menschen, der seine kleine Vernunft maßlos überschätzt. Credo, quia absurdum, wir glauben an den Markt, weil er sich unserem Verstehen entzieht.

Zerschlagt den Euro, zerschlagt die EU. Sie verhindern nur den unbarmherzigen Wettbewerb zwischen den Staaten, der allein in der Lage wäre, die Wirtschaft ins Grenzenlose wachsen zu lassen.

Diametral entgegengesetzt die Thesen Henrik Müllers im SPIEGEL, der den Verfall Europas gerade darin sieht, dass es keine tragfähige politische Leitidee gebe:

„Wenn es weitergehen soll mit der europäischen Integration, dann braucht es eine Vision, die übers Ökonomische hinausreicht. Eine Vorstellung davon, was die Europäer außer Geld sonst noch verbindet. Eine emotionale Klammer, die den gelegentlichen Streit erträglich macht – und politische Führungsfiguren, die, anders als die deutsche Kanzlerin, bereit sind, dafür etwas zu riskieren.“ (Henrik Müller in SPIEGEL.de)

In einem Interview der BLZ behauptet Gesine Schwan, Schäuble habe von Anfang die Absicht gehabt, die linken Revoluzzer aus Athen an die Wand fahren zu lassen. Die geschlossene neoliberale Gesellschaft Europas dulde keinen Störenfried, keinen Hecht im Karpfenteich. Jeder Versuch, die Unfehlbarkeit Hayeks anzuzweifeln, müsse mit Schimpf und Schande bekämpft werden. Syriza dürfe Europa nicht mit einem linken Virus anstecken. Deshalb sollte Syriza von Anbeginn scheitern, damit weder Italiener, weder Spanier noch Portugiesen den rebellischen Virus erbreiten könnten.

„Finanzminister Wolfgang Schäuble hat von Anfang an die Absicht gehabt, Syriza an die Wand fahren zu lassen, damit es keine Ansteckungsgefahr in Spanien oder Portugal gibt.“ (BLZ-Interview)

Vermutlich werden Schwans Thesen von deutschen Wirtschaftseliten als „Verschwörungstheorie“ abgetan. Als ob diese Eliten zu dumm oder zu naiv wären, ihre Macht in weit vorausschauender Strategie zu verteidigen.

Ob man Tsipras, Varoufakis & Co für Clowns, Spieltheoretiker oder nur für postpubertierende Rotzlöffel hält: man muss ihnen zur erstaunlichen Leistung gratulieren, die betonierte Festung Europa mit ihren neoliberalen Kathedralen, Kasematten und Trutzburgen ins Wanken gebracht zu haben.

Um die athenische Idee der europäischen Demokratie haben sich die Furchtlosen aus Hellas verdient gemacht. EU – griechische Vorsilbe – bedeutet erneut und schon wieder: gut.