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Erinnern

Hello, Freunde des Erinnerns,

zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz soll im Land der Täter Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten gestrichen werden. Die Deutschen wollen keinen „Tag der Schande“ mehr.

„Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung zu den deutsch-israelischen Beziehungen will eine große Mehrheit der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung lieber hinter sich lassen und sich stattdessen gegenwärtigen Problemen widmen. Einen regelrechten Schlussstrich wollen demnach 58 Prozent der Befragten ziehen. Bei den 40- bis 49-Jährigen ist es jeder Zweite, bei den über 60-Jährigen sogar 61 Prozent. Anders sieht es laut der Umfrage in Israel aus: Dort wollen nur 22 Prozent mit der Vergangenheit abschließen.“ (TAZ)

Israel und Deutschland, die beiden Länder, die befreundet sein wollen, driften auseinander – wie Freunde zu tun pflegen, die keine sind. Was sind sie? Multipel Verkettete, die sich weigern, die Art ihrer Verkettung zu ergründen und sich mit rituellen Straf- und Bußgesten begnügen.

Das deutsche Fernsehen setzt am Tag der von oben verordneten Erinnerung auf Schock. Der Sender RTL will anstelle des Dschungelcamps den von Hitchcock betreuten „Lehrfilm für die Deutschen“: Night will fall – natürlich nicht – senden.

Alliierte Filmteams hatten die Stätten der deutschen Jahrtausendgräuel abgelichtet, wie die Truppen der Befreier sie unmittelbar nach Eroberung vorfanden. Die auf bildungsfeindliche Quote setzende ARD zeigt den Film zur vorgerückten Nachtzeit, in der nur noch Schlafgestörte die Augen

offen halten können.

Psychiatrische Schocktherapien wollen mit „Untertauchen, Sturzbädern, Drogen, Elektroschocks und sonstigen diversen Zwangsmaßnahmen“ eine „Erschütterung in Form intensiver seelischer, vegetativer, hormonaler Reaktionen“ auslösen.

Guantanamo-Psychologen haben keine Probleme, ihre Foltermethoden als langzeitliche Schocktherapien zu deklarieren. (Ohnehin hätten sie keine Informationen zur Vermeidung terroristischer Aktionen gebracht, pflegen Kritiker der Folter als „humanes Argument“ vorzubringen. Wäre sadistische Grausamkeit legitim, wenn sie erfolgreich wäre?)

Das Volk will sich nicht mehr erinnern; die Regierung aber will, dass das Volk sich erinnere. Die Medien sind gehorsame Diener ihrer Herren und verordnen den Massen, was ihre gütigen Patriarchen für volkspädagogisch notwendig halten. Für sich selbst hat die Regierung eine Methode erfunden, durch sakrales Schein-Erinnern alles störende, aufrüttelnde und wahre Erinnern abzuschaffen.

Was ist der Unterschied zwischen Volk und Eliten? Das Volk kann gelegentlich schroff und ehrlich sein; Eliten bieten intransparente Bildungsmethoden auf, um ihre Falschheit und Schlitzohrigkeit als politische Korrektheit darzustellen.

Nehmen wir den deutschen Außenminister mit seinem stets korrekt gescheitelten, weißen Haupthaar, mit dem er seine Chefin, die Engelgleiche, ästhetisch perfekt ergänzt: „Es bleibt die Pflicht der Eltern, ihren Kindern zu vermitteln, dass es keinen Schlussstrich geben kann“, sagte Steinmeier der Bild am Sonntag.“

Nicht der Staat und seine Organe haben versagt, sondern die geschichtsvergessenen Eltern. Nicht das staatliche Bildungssystem mit obligaten Auschwitzbesuchen und rein quantitativen Informationen über Zahl und Technik der Menschheitsverbrechen ist kollabiert, sondern das Privatissimum zufälliger und immer weniger wahrscheinlicher Elterngespräche.

Wo sie auf der ganzen Linie scheiterte, zeigt die Regierung mit dem Finger auf andere, um von eigenem Versagen abzulenken. (Also wie im Falle Pegida, wo die Kanzlerin jene christlichen Horden schilt, die eben noch das hohe C wählten. Die Mutter verleugnet das Fleisch von ihrem Fleisch, um ihren guten Ruf in der Welt nicht zu gefährden.)

Wenn die große Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter die Erinnerung ziehen will, ist die Aufarbeitung der Vergangenheit ultimativ fehlgeschlagen – und kein Steinmeier ist in der Lage, den Bankrott zu konstatieren, geschweige zu analysieren.

In Deutschland wird nichts analysiert; das wäre ja Verstehen. Erklären und Verstehen aber sind wie Komplizenschaft mit dem Lächerlichen und Verwerflichen. Wie wollen sie die Wiederholung ihrer NS-Verbrechen vermeiden, wenn sie nicht verstehen dürfen, welchem Schoß jene entkrochen?

(Wollen Sie Sozialklempner werden?, verhöhnte ein SPIEGEL-Kavallerist seinen Kollegen, der für Sprechen mit Pegida eintrat. Mit Schwachmaten gebe man sich nicht ab. Sprachs, veitstanzte und beklebte sich mit lustigen Hitlerbärtchen. Diese Phönix-Schmiere im Kanal der Chefredakteure ist Grimmepreis-verdächtig in der Kategorie garantiert substanzfreier Diskurs.)

Phänomene, die den oberen Schichten missfallen, sollen durch hierarchische Distanz ungeschehen gemacht werden. Besonders die Linken sind außer Rand und Band in der Disziplin, sich durch neurotisches Abgrenzen zu profilieren. Hier zeigen sich die Langzeitsünden des Marxismus, der jede autonome Moral als illusorisches Haschen nach bürgerlichen Idealen verwarf. Politik muss sich bei Marx der automatisch verlaufenden Geschichte unterordnen. Eigenverantwortliches Tun ist so vergeblich wie spießbürgerhaft.

Marx war Gegner der Aufklärung. Mit seinem Lehrer Hegel und allen Romantikern fiel er ins Heilsgeschichtliche zurück. Adorno und Horkheimer, seine getreuen Paladine, bezeichneten die Aufklärung als totalitär. Die Linken haben dieses ungeheure Verdikt bis heute nicht aufgehoben. Noch immer ziehen sie es vor, Feinde der Aufklärung zu sein. Wenige erwählte Parteipropheten können den Verlauf der ökonomischen Heilsgeschichte dekodieren, die Proletenmassen haben deren Menetekel zu folgen:

„Und dies ist die Deutung der Worte: Mene, das SEIN hat deine Wirtschaft gezählt und preisgegeben. Thekel, dein BEWUSSTSEIN ist auf der Waage gewogen und zu leicht empfunden worden.“

Die Moral des Historizismus – um Poppers unschönes, aber richtiges Wort zu benutzen – ist eine Moral des absoluten Gehorsams unter Geschichtsabläufe, die man partout nicht ändern kann. (Außer vielleicht ein wenig beschleunigen).

Was kann totalitärer sein als der viel zitierte Satz Adornos: im falschen Leben gibt’s kein richtiges? Kein biblizistischer Fanatiker, der diese Weltverachtung nicht unterschreiben könnte. Horkheimer assistierte mit der Bemerkung, wenn die Welt nicht vergängliche Erscheinung wäre, würden die Henker Recht behalten.

Dass die Irdischen die Pflicht haben, die Henker ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen, die ungerechten Weltverhältnisse in mühseliger, aber stolzer Arbeit zu korrigieren, war im Programm des „Grandhotels Abgrund“ – so Lukacs über die Frankfurter Schule – nicht vorgesehen. Am Ende seines Lebens ergab sich Horkheimer nihilistischen Sirenengesängen eines Schopenhauers.

Popper kommentiert Marxens historizistische Sittenlehre: „Es besteht eine weite Kluft zwischen Marxens Aktivismus und seinem Historizismus; und diese Kluft wird erweitert durch seine Lehre, dass wir uns rein irrationalen Kräften der Geschichte unterwerfen müssen. Da er jeden Versuch, unsere Vernunft zur Planung der Zukunft zu verwenden, als utopisch ablehnt, kann die Vernunft an der Herbeiführung einer vernünftigeren Welt keinen Anteil haben. Ich glaube, dass eine solche Ansicht zum Mystizismus führen muss.“

Nicht nur zum Mystizismus, sondern zum passiven Quietismus. Oder zur lutherisch-sklavischen Botmäßigkeit unter die Obrigkeit der Geschichte. Oder zur calvinistischen Vorherbestimmungslehre. Der absolute Geschichtsgehorsam des Trierers steckt noch heute im Es der Gefühlslinken, die alles, was nach Selbstbestimmung des Einzelnen riecht, mit überlegenem Hurra übertrampeln müssen.

Zur politischen Kompetenz mündiger Demokraten gehört auch die Fähigkeit, jede BürgerIn mit „sozialklempnerischer“ Kapazität auszustatten. Ein selbstbewusstes Kind hat größere Chancen, ein aufrechter Demokrat zu werden als ein sozial vernachlässigtes.

Pädagogische und psychologische Fragen aber sind für linke Politfunktionäre nur ein Grund zur Erheiterung. Für Hardcore-Linke ist Bildung ein Karrieremittel, keine Ausstattung mit politischer Verantwortungsfähigkeit.

Kein Wunder, dass die 68er-Bewegung sich blitzschnell spaltete in knallharte Revolutionsphraseure – und Gutmenschen mit Sozialgedöns-Ansprüchen. Zu letzteren gehörte die ganze Psychobewegung (Feminismus inbegriffen), auch wenn sie anfänglich in Mitscherlich und H. E. Richter eloquente Vertreter des Psychopolitischen in ihren Reihen hatte. (Seitdem allerdings ist auch sie zurückgefallen in privatistische Seelsorge.)

Auch Bettina Gaus gehört zu den Verächtern des sozialpolitischen Gedöns, dessen Anführer ein gewisser Gerhard Schröder war, der die gesamte Proletenklasse samt psychischen Unterschichtsproblemen in die Gülle kippte. Ängste und neurotische Gefühle der aufmüpfigen Massen sollen verstanden werden? Das sei ferne von den Maschinisten der Macht, die unter Politik dasselbe verstehen, wie die Digitalisten das Programmieren ihrer Computer.

Man muss Verfolgungswahn nicht ernst nehmen. Wut ist nicht dasselbe wie Angst. Wenn jemand wirklich Angst hat, dann möchte man hoffen, dass eine Mutter, ein Psychiater, ein Lebenspartner das erkennt und Hilfe sucht. Aber das ist nicht die Aufgabe der Gesellschaft. Sobald die Gesellschaft den Eindruck erweckt, weiße Mäuse seien real, wird es gefährlich für diejenigen, die für weiße Mäuse gehalten werden.“  (Bettina Gaus in der TAZ)

Bei Marx ist der Mensch kein vollständiges Wesen mit Denken, Fühlen und Wollen. Er ist reines Untertanenvieh unter der Regie übermenschlicher Geschichtskräfte. Und wehe, wenn der Einzelne private Macken und Schwierigkeiten mitbringt, dann sollte er sich am besten ins Messer stürzen. Der linke Staat ist nicht dazu da, die verweichlichten Jammerlappen und verzärtelten Muttersöhnchen der Bourgeoisie an die Brust zu nehmen.

Während die Neoliberalen – die Gegner der Linken – die wirtschaftlichen Loser erbarmungslos überfahren (die Evolution will es so), überfahren die Linken das degenerierte Menschenmaterial der psychisch Defekten mit ätzendem Hohn. Was tun die Linken anderes und besseres als ihre Ausbeuter?

Jede Klasse hat ihre Letzten, die sie von ihren Bluthunden zerfetzen lässt. Dabei war es gängige Erkenntnis der Linken, dass das Private politisch sei. Dieses Sätzchen hörst du heute nicht mehr.

Zur Erinnerung: als der Psychoanalytiker Wilhelm Reich – potentieller Nachfolger Freuds – das Politische und Psychische zusammenbinden wollte, indem er den Analytikern wie den Marxisten angehören wollte, wurde er aus beiden alleinseligmachenden Vereinigungen ausgeschlossen.

Die Verbindung aus psychischer und politischer Kompetenz ist bei emotional verhungerten Linken bis zum heutigen Tage verpönt. Ein Revolutionär, der auf die Couch müsste, wäre eine Lachplatte für die Selbstbesinnungsverweigerer, die Freud und Sokrates für museale Skurrilitäten halten.

Erst wenn das Private kompetent und selbstbewusst ist, kann es eine selbstbewusste Politik vollbringen. Eine Demokratie ist verloren, wenn ihr Demos zur psychisch ausgebrannten, ihre Vernunft nicht benutzende, dumpfe Masse geworden ist. Nur ich-starke Persönlichkeiten können zu einer wir-starken Gesellschaft und Gemeinschaft beitragen.

Zu dieser Masse gehören auch jene Eliten, die zwar energisch in die eigene Tasche wirtschaften, aber nicht das Wohl des Ganzen im Auge haben. Heutige Eliten sind irrationaler und suizidaler als alle Dumpfbacken der Welt zusammen. Aus psychisch defekten Todeswünschen riskieren sie den Untergang der menschlichen Gattung. Mögen Eliten im instrumentellen Sinn effektiver sein als die – mit Absicht – schlecht ausgebildeten Unterschichten: im Ganzen sind sie zerrütteter und atomisierter als die Insassen aller psychiatrischen Anstalten der Welt.

Im alten Athen nannte man jeden, der sich der Politik verweigerte, einen defekten Privatmann oder Idioten. Wer heute das Private und Soziale als Humus des Politischen ablehnt, lehnt das Politische ab. Er ist ein Vollidiot und wäre er Chefredakteur einer linken Gazette.

Die deutsche Linke ist tot. Sie leidet an seelisch erblindetem Halbiditiosmus, an Verweigerung moralischer Autonomie und an politischer Kastration. Immer nur das tägliche Herleiern von mehr, mehr, mehr – ohne die Forderung radikaler Reichtumsverteilung und weitgehender Enteignung der Milliardäre. Sie haben keine Leidenschaft für Psychologie und Philosophie, stilisieren sich als Hagestolze folgenloser Agitation und selbstzermürbender Inzuchtskämpfe. Mit Brett vor dem Gehirn dümpeln sie im nationalistischen Teich, unfähig, eine kohärente Wirtschaftstheorie aus Gerechtigkeit, ökologischer Wachstumsverweigerung und globaler Solidarität zu entwickeln.

Kein Zufall, dass ein Piketty aus Frankreich kommen muss. Wenn ein linker Kommentator in hiesigen lendenlahmen Postillen extrem sein will, beginnt er seine Kolumne mit dem aufrührerischen Satz, schon bei Marx stehe die revolutionäre Erkenntnis: die Wissenschaft hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält. Drum essen wir auf jeder Reise Marmelade eimerweise.

Wenn das Subjekt der Revolution nicht der Mensch ist, wozu benötigen wir vor Selbstbewusstsein strotzende Ichs, lebenskräftige Demokraten, kritikfähige Teilnehmer der öffentlichen Debatten, verlässliche Kombattanten der Basisgruppen und solidarische MitbürgerInnen mit Nahen und Fernen?

Die Linke ist zur verknöcherten Priesterklasse jener säkularen Heilsgeschichte geworden, die auf die Parusie des ökonomischen Messias wartet und bis dahin – zwar mit notorisch schlechtem Gewissen, aber sind wir nicht alle Sünder vor dem Herrn? – ihre ewig gleichen Phrasen absondert. Zu wirklich solidarischem Verhalten mit den Erniedrigten und Beleidigten – die auch in Pegida mitmarschieren, halten zu Gnaden – sind sie aber nicht fähig.

Diese Erniedrigten und Beleidigten sind jene Vorurteils- und Ressentimentsbesitzer, die nach dem Sozialpsychologen Harald Welzer nur als Untermenschen bezeichnet werden können. Vielleicht sollte man sie kategorisch ausschließen und nach Syrien zwangsemigrieren?

Welzer schreibt im heute modischen verdinglichten Gelehrtenslang über „das Ressentiment“, das „Vorurteil“. Gibt es zu Ressentiments und Vorurteilen auch noch Menschen aus Fleisch und Blut? Mit Vorurteilen, die auf zwei Beinen durch Dresden marschieren, kann man keine Gespräche führen. Wer glaubt, „Fehlinformationen ließen sich durch Informationen bekämpfen“, der glaube an Märchen. „Menschen mit Vorurteil geht es gerade darum, ihr Vorurteil bestätigen zu lassen. Vorurteile sind Orientierungsmarken und Wegweiser in einer komplexen Welt, weshalb man gern an ihnen festhält, insbesondere dann, wenn sie den Vorteil aufweisen, die Welt widerspruchsfrei zu erklären.“ (Harald Welzer in FAZ.NET)

An diesen postmodernen Sätzen ist alles falsch. Es geht nicht nur um Informationen, es geht um politische Bewertung der Informationen. Kein Mensch ist eine Maschine aus Ressentiments – höchstens ein promovierter Sozialpsychologe. Das dumpfe Volk wolle, so Welzer, immer nur das Eine: simple Erklärungen für das Komplexe?

Wem sich hier nicht der Magen umdreht. Alles wissenschaftliche und sonstige Erkennen ist Verwandlung des Fremden, Komplexen in Bekanntes und Einfaches. Das Widerspruchsfreie ist die Logik der Wissenschaft. Nur für Hegelianer und Gläubige der Inbegriff des Heiligen. Nachzulesen bei Ernst Cassirer und jedem kompetenten Wissenschaftstheoretiker. Wenn ich die unbekannte Gesteinsprobe als Variante der mir bekannten Steine erkenne, habe ich erkannt.

Die Verherrlichung des Komplexen ist die in die Wissenschaft gedrungene Idolisierung des Göttlichen, Numinosen: ich glaube, weil es absurd, übermenschlich, irrational ist. Was wäre eine Erlöserreligion anderes als die Reduktion des Unverständlichen auf simple Mythen und absurde Märchen?

Warum wird, wenn das Kindische Exkrement des Teufels sein soll, nie die religiöse Versimplifizierungsmaschinerie angegriffen? Das Kindische ist nicht das Kindliche und das Einfältige nicht kindisch.

Wer es fassen kann, fasse es. Der Asozialpsychologe spricht der Aufklärung jede Fähigkeit ab, neurotische und unaufgeklärte Persönlichkeiten zu belehren. Kein Mensch ist so defekt, dass man ihn a priori abschreiben dürfte. Das wäre ein Glaube an das unbesiegbare Böse.

„Das Ressentiment ist durch Aufklärung nicht zu belehren, es lässt sich daher auch nicht abschaffen. Weshalb die Gesellschaft auch dafür Räume geschaffen hat: das Kneipengespräch, das Schimpfen an der Straßenecke, das Grölen im Stadion. Dort gehört das Vorurteil hin, dort können die es pflegen, die es brauchen. Es zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte aufzuwerten, ist grundfalsch.“

Das ist die Todeserklärung für alles philosophische Debattieren, für jeden „herrschaftsfreien“ Diskurs – der auch ein arroganzfreier ist –, für jede selbstgewisse demokratische Aufklärung. Für Harald Welzer ist Sokrates vergebens gestorben.

Linke glauben nicht an die Vernunft. Sie glauben an die heilbringende komplexe Geschichte, die für simple Gemüter unzugänglich bleiben muss. Die deutschen Linken sind die Erben der platonischen Weisen, die ihre Überlegenheit durch Kujonieren der Schwachen demonstrieren müssen. Schon vergessen? Platon erfand mit Hilfe zwangsbeglückender Weiser den Urfaschismus.

Bis heute haben es die Linken nicht für nötig gehalten, Popper, den schärfsten Kritiker von Platon, Hegel und Marx auch nur mit einem Seitenblick zur Kenntnis zu nehmen. Päpstliche Unfehlbarkeit, dein heutiger Name ist – links.

Nur nebenbei: das Einfältige war das Lautere einer unbestechlichen moralischen Gesinnung, im Gegensatz zu komplexen Lügengeflechten der Sophisten, Gelehrten und Edelschreiber. Man lese gelegentlich den Simplizius Simplizissimus.

Welch eine Erholung, neben dem Schmähpsychologen Welzer die differenzierten Überlegungen des nüchternen Politikwissenschaftlers Werner Patzelt lesen zu können:

„Wer in jenen recht durchschnittlichen Leuten, auf deren Sache sich inzwischen große Aufmerksamkeit richtet, strategische Strippenzieher einer braunen Revolution sieht, der ist irgendetwas zwischen gespensterfürchtig und schlecht informiert. Die allermeisten der vielen Tausenden von Demonstranten gehören in Dresden zum ganz normalen Volk. Es sind Arbeiter und Angestellte, auch etliche Selbständige, von der Mittelschicht bis zu den „kleinen Leuten“, von CDU-Wählern bis hin zum rechten Rand, mit vielen Nichtwählern dabei.“ (Werner J. Patzelt in FAZ.NET)

Wenn Stanislaw Tillich, der sächsische Ministerpräsident, seiner Kanzlerin mit den Sätzen zu widersprechen wagt, Muslime seien in seinem Land willkommen, der Islam aber gehöre nicht zu Sachsen, dann hat er unfreiwillig den Kern des Ganzen bloßgelegt. Das christliche Abendland will unter sich bleiben. Natürlich weiß Tillich nicht, dass muslimische Gelehrte der Frühzeit die Transporteure der griechischen Philosophie ins dunkle Abendland waren.

Nicht nur Evangelikale, auch manche Pastoren wehren sich gegen Überfremdung ihrer Schäfchen durch Moscheen und Burkaträgerinnen: „Nun brodelt es in der evangelischen Kirche. Weil sich immer mehr Pegida-Anhänger als Christen outen und immer mehr Christen als Pegida-Sympathisanten.“ (Anne Hähnig in ZEIT Online)

Gehört das Christentum zu Europa? Ist der Christengott im Vorwort der Verfassung nicht fremdenfeindlicher als alle Sprüche der Pegida zusammen? Sind die Scharia-Sonderrechte der christlichen Kirchen nicht xenophober als das Geblök der Rechten? Wer darf noch mit der ultrarechten deutschen Industrie reden, die keine Lehrlinge ausländischen Namens einstellt? Wer schäkert und schleimt mit den Despoten in Katar inniger als der FC Bayern? Wer lobhudelt dem verstorbenen Menschenrechtsverletzer in Saudi-Arabien heuchlerischer als Angie? Wer hat die NSU-Affäre zehn Jahre lang in fremdenfeindliche Richtungen verfälscht, wenn nicht der Verfassungsschutz? Wer ist zuständig für die Frontex, die täglich Flüchtlinge in Tod und Verderben treibt – wenn nicht die deutsche Regierung?

Ist es nicht pegida-affin, ständig vom christlichen Abendland zu reden – und die Werte der Demokratie lügenhaft der heiligen Schrift zuzuweisen, anstatt den Griechen? Ist es nicht dreist von Merkel und Gauck, all ihre öffentlichen Ansprachen mit christlicher Konterbande zu kontaminieren? Ist es nicht unverschämt, im Zentrum staatlicher Feiern klerikale Soutanenträger zu finden?

Es gibt keine universellen christlichen Werte. Für Fromme gibt es nur Gläubige und Ungläubige, Erwählte und Verworfene. Tillich müsste sagen: das Christentum war eine Geistesverwirrung des Abendlandes. Höchste Zeit, diese Paranoia zu beenden und zu den universellen Werten der Kyniker, Stoiker und Epikureer zurückzukehren, nein, vorwärts zu schreiten.

Wenn Deutschland Vernunft annähme, wäre die Frage nach einem Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit überflüssig. Schlussstrich unter die Erinnerung an die scheußlichsten Verbrechen der Menschheit? Wer dies befürwortet, wird demnächst die deutschen Juden auffordern, so schnell wie möglich das Land in Richtung Israel zu verlassen.

Wer aber einen Schlussstrich unter die falschen Konsequenzen aus dem Holocaust ziehen wollte, der hätte verstanden, dass man aus Verbrechen nur eine einzige Schlussfolgerung ziehen kann: befreundete Nationen müssen in kritischem Wohlwollen und auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen.

Wenn, wie gerade gemeldet, der Zentralrat der Juden für deutsche Schulen Pflichtbesuche der KZ-Gedenkstätten fordert, der beweist nicht nur seine pädagogische Ignoranz, er kennt auch nicht die Voraussetzung einer langfristigen deutsch-jüdischen Annährung: die Freiheit des autonomen Handelns.

Schocktherapie ist keine Mutter der Erkenntnis. Im Gegenteil, in den Zustand ekstatischer Betroffenheit sind Deutsche geradezu vernarrt. Sie lieben das mephistophelische Grauen, dem sie faustisch in den Rachen greifen.

Aufarbeiten der Vergangenheit ist Verstehen derselben. Die Deutschen müssen sich endlich ihrer kollektiven Biografie stellen, in der ihre ungeheure verbrecherische Energie unter den sanften Vorzeichen tiefer Denker und betörender Dichter herandämmerte.