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Entzauberung

Hello, Freunde der Entzauberung,

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Hätte Hermann Hesse Recht, müssten wir am Ende sein. Denn der Zauber ist vorüber, wir leben im Zeitalter der Entzauberung. Ist der Zauber aber verflogen, gibt es nichts mehr, das uns beschützt und hilft, zu leben. Andiamo, ti prego – oder der Letzte macht das Licht aus.

Max Weber, Zeitgenosse Hermann Hesses, sieht die Moderne entzaubert. Entzauberung sei die Voraussetzung zur Beherrschung der Welt. Sollte Beherrschung etwas Wünschenswertes sein, wäre Entzauberung die Voraussetzung des Wünschenswerten.

Aus Webers Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ aus dem Jahre 1919:

„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und

Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“

Nüchtern und illusionslos die Welt beherrschen – oder der Macht über die Natur entsagen, um von ihr bezaubert zu sein? Das ist hier die Frage.

Bezaubert sein und herrschen wollen: das verträgt sich nicht. Verliebte sind voneinander bezaubert. Beginnen sie, sich zu beherrschen, ist der Zauber vorflogen.

Gab es jemals Menschen, die verliebt waren in die Natur? Die sich von ihr verzaubern ließen? Die Moderne beherrscht die Natur – wie mögen ihre Gefühle zu ihr sein?

Der moderne Mensch sieht sich als Despot der Natur, die ihm knechtisch zu Diensten sein muss. Je despotischer der Herr, je mehr verachtet er seinen Knecht. Je mehr er ihn verachtet, je mehr fürchtet er ihn – denn er ist abhängig von ihm. Der Knecht könnte rebellieren, fliehen oder den lebensuntüchtigen Herrn übertölpeln. Dann wäre der Herr verloren, eine Umkehr der Rollen ausgeschlossen. Denn zum Knecht taugte der Herr nicht – er wäre zu dumm.

Der moderne Mensch ist der Mann, die Frau verkörpert die Natur. Warum lassen die mächtigen Industriemänner keine Frauen in ihre Reihen? Weil sie im Rollentausch zu defekt wären, um die lebenserhaltenden Rollen der Frauen zu übernehmen.

Noch stellen sich die Frauen blind, um die Dummheit der Männer – die allesamt ihre Kinder waren – nicht sehen zu müssen und die aufgeblasenen Missgestalten nicht zum Teufel zu jagen. Männer sind nicht nur pädophil, sie sind physiophil – sie schänden die Natur und sind von der Angst beherrscht, die Natur könnte eines Tages zurückschlagen. (Merkwürdig, dass Philia, die Liebe, auf Deutsch Schändung heißt. Sollte Schändung vielleicht der deutscher Liebesakt sein?)

Den pathologischen Glauben an einen kommenden Messias kann man nur verstehen, wenn man die elementare, aber in den untersten Winkel ihrer Maschinenseele verdrängte Furcht der Männer vor der Rache der Natur – oder der wirklich emanzipierten Frau – verstanden hat. Der phallokratische Naturschänder will vom Acker sein, wenn der Acker zurückschlägt, indem er ausgelaugt und verdorrt jegliche Nahrung verweigert.

Seit den technisch-eschatologischen Beherrschungsphantasien mittelalterlicher Mönche, dem diabolisch-fruchtbaren Schoß der Moderne, ist die Naturliebe des religiös verkommenen Abendländers zur außerberuflichen Kitschreligion verkommen. In der Freizeit beten sie die Natur an, die sie im Beruf tranchieren müssen. In ihrer Freizeit retten deutsche Ökologen jene Frösche, die sie beruflich mit gigantischen Straßenwalzen zu Brei machen.

Weber hegte nicht die geringsten Zweifel an der Herrschaftskompetenz der menschlichen Vernunft. Nicht, dass der Einzelne das ganze zivilisatorische Getriebe verstünde: er könnte aber alles wissen, wenn er es wissen wollte.

Es währte nur wenige Sommer und der technische Triumphalismus der Vernunft – den man gern der Aufklärung zuschreibt – kippte um in die Demut der wirtschaftlichen Unvernunft, die unter dem Namen Neoliberalismus die Welt eroberte.

Ecclesia triumphans, die erbarmungslos militante Kirche, und ecclesia patiens, die sich demütig gebende Kirche, konkretisierten sich zu „säkularen“ Politmächten. Hayek warnt vor der Überheblichkeit einer wirtschaftlich planenden und sozial gestaltenden Vernunft, um unter dem Vorzeichen der humilitas den Triumph einer darwinistischen Ökonomie zu lobpreisen.

„Wenn du mich demütigst, machst du mich groß. Gott ist in den Schwachen mächtig.“ Hayekianisch: „Es ist die Tragödie des kollektivistischen (= sozialistischen) Denkens, dass es darauf ausgeht, die Vernunft allbeherrschend zu machen, aber damit endet, sie zu vernichten.“

Stark und mächtig werden wir nur, wenn wir den Prozessen der Evolution vertrauen, die wir niemals verstehen werden. Hayek ist wie Hiob, der von Gott erst rehabilitiert und mit Macht und Reichtum belohnt wird, als er seine Ignoranz bekennt: „Darum habe ich geredet in Unverstand, Dinge, die zu wunderbar für mich, die ich nicht begriff. Wiederum sah ich unter der Sonne, dass nicht Philosophen das Brot, noch den Vernünftigen Reichtum, noch den Denkenden Gunst zufällt, sondern alles trifft Zeit und Zufall.“

In Demut soll sich das Geschöpf vor dem Schöpfer beugen: der Mensch denkt, Gott lenkt. Triumph und Selbsterniedrigung, Militanz und Leidensfähigkeit, sind keine Widersprüche. Beide Kirchen, beide Strategien, die siegende und die leidende, sind nur verschiedene Seiten derselben Medaille: in diesem Zeichen werdet ihr siegen.

Neoliberale Demut verträgt sich aufs beste mit technischem Triumphalismus. Die Absage an wirtschaftliche Vernunft verträgt sich aufs beste mit dem Glauben an den technischen Fortschritt. Obamas Militärmaschine verträgt sich aufs beste mit Mutter Theresa. Bill Gates‘ rücksichtslose Milliarden vertragen sich aufs beste mit almosenhaften Mitleidsgesten. Ob stark oder schwach, ob zwangsbeglückend oder in leidendem Gehorsam gegen den Herrn der Weltgeschichte: der Siegeszug des Kreuzes ist unaufhaltsam.

Paulus‘ Devise bringt es auf den Punkt: „Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrighaben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“

Christen können alles, im Glauben sind sie allmächtig. „Der Herr tötet und macht lebendig. Er führt ins Totenreich und wieder herauf.“ Kann es eine siegreichere planetenbeherrschende Polit-Ideologie geben als die Kumpanei mit einem omnipotenten Gott, dem kein irdisch Kräutlein gewachsen ist?

Entzauberung ist Abwesenheit der Götter. In Zeiten, als die Natur noch voller Götter war, gab es Entzücken über eine zauberhafte Natur. Als die Götter Griechenlands noch lebten,

„gab man höhern Adel der Natur.
Alles wies den eingeweihten Blicken,
Alles eines Gottes Spur.“

Der Tod war nicht entsetzlich, das Leben keine Last. Christliche Entzauberung – die Herrschaft eines unnatürlichen Gottes über die Natur – änderte alles:

„Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur!

Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem
Blick,
Ach! von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb nur das Gerippe mir zurück.“   (Aus Schillers „Die Götter Griechenlands“)

An Naturgötter muss man nicht glauben. Man sieht und spürt, riecht und tastet sie. Zu allen Tages- und Nachtzeiten erlebt man sie an allen Orten der Erde. Sie verbieten nicht das Denken, verfluchen keine Menschen als perverse Ungeheuer. Natur muss göttlich sein, damit Götter natürlich sein können. Götter sind nichts als familiär-vertraute Symbolgestalten, Präsente der Menschen an die Natur, die sie mit allem überreich bedenkt.

Technik und Wissenschaft der Moderne waren, nach Carl Friedrich von Weizsäcker, erst möglich, als der Christengott alle heidnischen Götter aus der Natur verscheucht und vertrieben hatte. Zurück blieben abgenagte Sehnen und Knochen, quantitative Naturgesetze und rechnerische Formeln, mit deren Hilfe der Mensch sich die Natur gefügig machen konnte. Gott degradierte die beseelte Heidennatur zu einer trostlosen Maschine, die man codieren und nach Belieben herumkommandieren konnte.

Entzauberte Natur war ein toter Mechanismus, den man quälen, ausbeuten, verschlingen und vertilgen konnte. War der Apparat nicht gefühllos genug, um Tiere und Menschen zu foltern? War er nicht empfindungslos genug, um ihn zu häuten und auszuschlachten?

Wohl hatten die Griechen die Naturerkenntnis als Staunen über den vollkommenen Kosmos begonnen. Doch niemals zum Zwecke der Beherrschung. Erst das christliche Abendland benutzte griechische Erkenntnismethoden, um Wissen in technische Macht zu verwandeln.

Moderne Naturwissenschaft will nicht wissen, um zu erkennen. Sie will wissen, um mit Erkenntnissen zu herrschen. Scientia wurde potestas, Naturerkenntnis zur Gewalt über die Natur.

Das ist noch nicht das letzte Wort. Den Empfindsameren unter den hartleibigen Naturwissenschaftlern genügt das ordinäre Herrschen nicht. Die entzauberte Natur benötigt wieder ein künstliches Sahnehäubchen aus Transzendenz. Ordinäres Erkennen von Naturgesetzen versetzt die Wissenschaftler nicht mehr in orgiastische Erkenntnisschauder. Das Erkennen der irdischen Natur muss über sich hinausweisen in höhere Entzückungsräume. Natur wird degradiert zur Durchgangspforte ins Unbekannte und Numinose.

Selbst der sonst so nüchterne Wissenschaftsdenker Ernst Peter Fischer geht bei Novalis hausieren:

„Der Wissenschaft gelingt, was Novalis als das Romantische beschrieb: dem Bekannten die Würde des Unbekannten zu geben. Das Fallen eines Steins etwa kann dank Isaac Newton berechnet werden. Aber wie das Schwerefeld der Erde die Gravitationskraft zustande bringt, bleibt verborgen. Wir brauchen mehr romantische Geschichten aus der Wissenschaft!“ (SPIEGEL Online Interview)

Einst war Erkenntnis die Übersetzung des Unbekannten ins Bekannte. Eine neue unbekannte Substanz habe ich erkannt, wenn ich sie als Variante bekannter Substanzen dingfest gemacht habe.

Fischer stellt alles auf den Kopf, um seine neoromantische Sehnsucht nach Transzendenz zu befrieden. Das Bekannte muss unbekannt, das Erkannte rätselhaft, die vertraute Natur muss zur Fremde werden. Naturwissenschaft wird à la Paulus zur Hilfsdisziplin der Theologie:

„Denn was man von Gott weiß, ist ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart, damit daß Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man des wahrnimmt, an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also daß sie keine Entschuldigung haben, dieweil sie wußten, daß ein Gott ist, und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt.“

Die stolze griechische Naturwissenschaft wird in Paulus‘ Händen zu einer Schariapeitsche, um alle in die Hölle zu treiben, die es wagten, in der Natur zwar Gott zu erkennen, aber nicht den christlichen – und ergo in hybrider Frechheit den christlichen Glauben verschmähten.

Fischers Novalis-Zitat heißt im Original: „Romantisieren heißt dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem endlichen einen unendlichen Schein geben.“

Allmählich verstehen wir, warum die domestizierte Naturwissenschaft zu Sensationsallotria – und zur Dienerin machtgeiler Eliten verkommen ist. Bloße Natur ist gemein, gewöhnlich, würdelos, ihr fehlt der unendliche Schein. Also muss Naturwissenschaft sie erhöhen, ihr ein geheimnis- und würdevolles Ansehen verleihen, sie in ein Unbekanntes und Unendliches transsubstantiieren – wie der Priester Brot und Wein in überirdischen Leib und Blut Christi verzaubert.

Die christliche Entzauberung der Welt soll durch wissenschaftlichen Laborzauber rückgängig gemacht werden. Die Wissenschaftler der Gegenwart wollen nicht nur rechnen und ordinäre Naturgesetze erkennen, sie wollen niederknien und das Unbekannte anbeten.

Welch Zufall, dass Fischers Irrationalisierung der Ratio der Hayek‘schen Absage an die Vernunft wie durch ein Wunder entgegenkommt. Von der Politik (alles zu komplex, um vom Pöbel verstanden zu werden) über die Wirtschaft (der allwissende Markt ist für ordinären Menschenverstand unergründbar) bis zur Naturwissenschaft (das Erkannte und Begrenzte muss unbekannt und grenzenlos werden), feiert die vernunftallergische Gegenaufklärung fröhliche Urständ. Das Mittelalter hat uns wieder – auf technisch und wissenschaftlich höchstem Niveau.

[Nur nebenbei: ausgerechnet Ernst Peter Fischer, dem das Verdienst gebührt, den Vorzeigemoralisten C. F. von Weizsäcker als fanatischen Nationalsozialisten entlarvt zu haben, bezieht sich in seiner Romantisierung der Wissenschaft auf – C. F. von Weizsäcker, der schon in den 40er Jahren die Naturwissenschaft ins Religiöse verklärt hatte:

„Man wird nicht sagen dürfen, dass die Physik die Geheimnisse der Natur wegerkläre, sondern dass sie sie auf tieferliegende Geheimnisse zurückführe“, so der philosophierende Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker in den 1940er Jahren.“ (Bild der Wissenschaft)

Hier der Artikel Fischers über das Heuchelgenie C. F. von Weizsäcker: „Carl Friedrich von Weizsäcker hat wohl gelogen“ (WELT)]

Man weiß, wie biologische, geographische und sonstige Wissenschaften im Dritten Reich dazu dienten, den Status der gotterwählten Herrenmenschen mit pseudowissenschaftlicher Empirie zu belegen. Arier waren nicht nur biologische, sondern vor allem theologisch überlegene Rassen.  

Kommen wir zur Krönung der verklärenden und erlösenden Technik und Wissenschaft: zur digitalen Herrenwissenschaft in Silicon Valley. (Frauen sind unerwünscht im Club der zukunftserschaffenden Titanen.)

Garniert mit ein wenig Alibikritik hat der SPIEGEL (10/2015) einen gläubig aufschauenden und bewundernden Artikel geschrieben (leider nicht auf online). Sein Fazit:

„Die Weltveränderer aus dem Silicon Valley wollen, dass die Menschheit an ihrer High-Tech-Heilslehre genesen soll. Sie glauben an eine bessere Zukunft durch Technologie wie ein überzeugter Hindu an die Wiedergeburt. Sie sind überzeugt, dass ihre Arbeit zum Wohl der Menschheit sein wird, dass sie die Zivilisation in großen Schritten vorwärtsbringen. Doch sie wollen nicht, dass ihnen jemand reinredet. Der Tech-Optimismus wird zur Erlöserfantasie.“

Typisch, dass der Hinduismus als Heilslehre genannt wird. Wie immer wird das Christentum geschont und unter den Teppich gekehrt. Ist Erlösung nicht die übernatürliche Lösung schwieriger menschlicher Probleme?

Vor einer Woche hatte dasselbe Magazin eine Titelstory über den „verheizten Planeten“ vorgelegt. Hätte es nicht nahe gelegen, die Erlöserqualitäten der digitalen Genies daran zu messen, in welchem Maße sie die Umweltprobleme der Menschheit zu lösen versprechen? Kein Wort im ganzen Artikel.

Schaut man sich in Kalifornien um, kann man nicht umhin, eine ökologische Katastrophe zu konstatieren. Das Land verdorrt, die verzweifelten Kalifornier „stehlen Wasser“:

„Im Zusammenspiel mit der biblischen Dürre, die den Südwesten der USA seit rund 14 Jahren im Griff hat, führt der Wildwuchs zu dramatischen Folgen: Die Grundwasserpegel sind stark gesunken, wie die Auswertung von Satellitendaten im Sommer 2014 zeigte. Die Region zehrt offenbar schon seit Jahren von ihren Reserven.“  (SPIEGEL Online)

Nicht nur Nordamerika, auch Brasilien wird heimgesucht von einer der schlimmsten Dürreperioden seiner Geschichte:

„In Brasilien droht nach einer Dürre in Teilen des Landes eine Rationierung der Wasser- und Stromversorgung. Die Reservoirs der Stauseen sind auf Tiefstände gesunken; in São Paulo kommt wegen des abgesenkten Wasserdrucks seit Monaten in vielen Haushalten kaum noch Wasser an.“  (FAZ)

Welch schreiender Widerspruch zwischen angemaßter Erlösung und totaler Problemverdrängung in Silicon Valley, das so tut, als werde es bald übers Wasser laufen. Doch Wasser müsste es aus Wüstensand erst erzeugen. Und der SPIEGEL gafft und springt bewundernd auf den Zug der Geschichte auf. Wie alle deutschen Medien huldigt das Blatt einem unerschütterlichen Glauben an die Zukunft, die kommen wird, weil sie kommen muss.

Popper sprach von Historizismus, dem Glauben an den automatischen Ablauf der Geschichte. Wie schon Frank Schirrmacher betätigt sich der SPIEGEL als Prophet der alleinseligmachenden Digitalpropheten. Silicon Valley wird die Welt erlösen. Und wenn die Welt nicht will, muss sie zu ihrem Heil gezwungen werden.

Dass Erlösung durch Zwang Faschismus ist: solche Kleinigkeiten scheinen Thomas Schulz nicht zu interessieren. Was auf die Menschheit zukommt, muss unvermeidlich sein. Die Demokraten der Welt werden geknebelt und flach gelegt. Ihre Meinungen, Wünsche und Entscheidungen – belanglos. Ein halbes Jahrhundert nach einem der schrecklichsten Faschismen der Welt weiß ein führendes Magazin der Täterrepublik nicht, was ein totalitäres System ist. Und niemand muckt auf im Land der reuigen Henker. Wie schon bei Hayek darf die Pöbeldemokratie nur bei Peanuts entscheiden. In wichtigen Dingen beschließen die Mächte der Geschichte, die Heilsideen wirtschaftlicher und technischer Erlöser.

Gewiss, Schulz verweist auf Dave Eggers, einen der schärfsten Kritiker von Silicon Valley: „In der Circle-Welt begibt sich der Einzelne freiwillig in eine totalitäre Welt, in der es keine Politik mehr gibt, keinen Staat, sondern nur noch den Zwang zum Glück.“

Doch hat Eggers recht? Schulz beantwortet seine Frage nicht. Stattdessen verweist er auf angebliche Chancen, die die Zukunft der Menschheit besser machten als die Gegenwart. Man hält den Atem an. Welche Chancen kann es geben, wenn die Menschheit wie eine dumme Schafherde in eine totalitäre Despotie getrieben wird?

Seit ihren Anfängen lebt die messianische Technik davon, der Menschheit paradiesische Zustände vorzugaukeln. Die Gebrechen des Menschen sollen nicht durch moralisch-autonome Erkenntnisprozesse, sondern durch äußerlich technische Ersatzleistungen kuriert werden. Der Heiland der Christen materialisiert sich zur perfekten Maschine, die den Menschen predigt: kommet her, die ihr mühselig und beladen sein, eure Defekte will ich heilen und euch zur unsterblichen Seligkeit führen.

Die Gurus des Silicon Valley entstammen fast allesamt der Gegenkultur der 60er-Jahre. Die Hippiebewegung wollte einst mit freier Liebe und fröhlicher Anarchie den menschenfeindlichen Kapitalismus und den Militarismus ihrer Eltern ins Menschliche verkehren.

Dann passierte, was in der Geschichte des christlichen Westens stets passierte: die Verbesserung der menschlichen Situation sollte nicht mit Selbstbesinnung und politischem Handeln, sondern mit äußerlichem Tamtam und lächerlichen Maschinen erreicht werden. Maschinen, die eines Tages ihre Schöpfer überwinden und sie überflüssig machen können.

Die Menschheit möchte sich erlösen, indem sie sich abschaffen will. Sie romantisiert die Produkte ihrer Kreativität zu allmächtigen Lösern ihrer Probleme. Das könnte man Erlösung durch Selbstverzauberung nennen.

Doch was, wenn der Zauber ein fauler wäre? Die Menschheit hätte kaum noch Chancen, den faulen Zauber zu durchschauen und zu verwerfen. Der Große Bruder hätte sie mit einer noch nie da gewesenen Überwachungsgewalt im totalen Würgegriff.

Immerhin weiß Schulz, dass die überfällige Debatte um Silicon Valley nicht nur technisch, sondern auch politisch geführt werden müsste. Doch sein Artikel ist kein Beitrag zur philosophisch-politischen Aufklärung. Wie fast immer, bekränzt der SPIEGEL sich selbst, seine eigene Beobachterqualität bewundernd. Sind Edelschreiber keine weltunabhängigen Künstler und Artisten, für die gilt, was der Künstler und Schriftsteller Houllebecq in derselben SPIEGEL-Ausgabe für sich reklamierte:

„Ich bin für nichts, ich weiß nichts?“ Unwidersprochen vom SPIEGEL-Interviewer durfte der französische Nihilist das aufgeklärte Abendland zur tabula rasa machen: „Die Aufklärung ist am Ende. Der Humanismus ist tot. Die Republik ist tot.“

Andiamo ti prego – die Zauberlehrlinge des Westens haben fertig.