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Entscheidung

Hello, Freunde der Entscheidung,

Logik ist kein Luxus. Folgerechtes Denken gehört zu den Notwendigkeiten des Überlebens. Einen Kuchen kann man nicht aufessen – und behalten. Wer gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse tritt, wird das Auto zum Stillstand bringen.

Die EU wollte eine Union der Solidarität sein. Als sie den Euro einführte, verbot sie jede Form von Solidarität (No bail out). Solidarität und Wettbewerb verhalten sich wie Feuer und Wasser.

Europa begann seine Kooperation in naiver Solidarität und zerstört sich seit Übernahme des Neoliberalismus in bedingungslosem Wettbewerb.

Der alte Kontinent muss sich entscheiden. Er muss von vorne beginnen und die Leitideen seiner Zusammengehörigkeit im Licht seiner Erfahrung korrigieren und neu bestimmen. In allen Völkern der EU müssen Grundsatzdebatten geführt werden. In Deutschlands Politik und Medien gibt es nicht das geringste Bewusstsein über die Unverträglichkeit von Solidarität und Wettbewerb.

Jede Erfahrung ist ein Lernakt. Lernen kann man nur, wenn man aus seinen Irrungen und Wirrungen die rechten Schlussfolgerungen zieht. Es war wirr und irre, Verbundenheit und fremdschädigende Konkurrenz für kompatibel zu halten. Moral und amoralische Wirtschaft schließen sich aus.

In seinem BLZ-Kommentar zitiert Daniel Haufler einen der Gründerväter Europas, den französischen Politiker Maurice Schumann:

„Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerläßlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. (…) Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die

zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“

Die Solidarität der frühen Jahre wurde mit Einführung des Euro durch einen Donnerschlag beendet. Es war der europafreundliche Kohl, der in den Maastrichter Verträgen die „Nichtbeistandsklausel“ grundlegend formulieren ließ. Es gibt keinen Unterschied zwischen einem europafreundlichen Kohl und einer europafeindlichen Merkel. Was Kohl als Devise ausgab, vollstreckt „sein Mädchen“ in streberhaftem Übergehorsam.

„Die Nichtbeistands-Klausel war konzipiert worden, um EU-Staaten zur Haushaltsdisziplin zu bewegen. Sie sollten nicht darauf hoffen können, bei unsolider Haushaltsführung später durch andere Mitgliedstaaten unterstützt zu werden. Im Vorfeld des Vertrags von Maastricht forderten die wirtschaftlich schwächeren Länder, insbesondere Spanien, aber auch Portugal, Griechenland und Irland unter Berufung auf die im EG-Vertrag vorgesehene Kohäsion einen Finanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten. Dieser sollte zu den bereits existierenden EG-Strukturfonds hinzutreten und es den wirtschaftlich schwächeren Ländern ermöglichen, die EU-Konvergenzkriterien zu erfüllen und gegenüber den reicheren Ländern an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Vor allem Deutschland, aber auch Frankreich drängte auf eine Regelung, die die Mitgliedstaaten zu finanzpolitischer Eigenverantwortung zwingen sollte. Sie sollte verhindern, dass einzelne Staaten auf Kosten anderer über ihre Verhältnisse leben beziehungsweise eine großzügigere Finanzpolitik (= Haushaltspolitik) betreiben könnten. Im Verlauf der Konferenz setzten sich die deutschen Verhandlungsführer mit ihrer Forderung durch.“ (Wiki)

Kein Mensch in Deutschland wusste etwas von der Nichtbeistandsklausel. Der Griechen-Konflikt erst brachte es an den Tag. Bis heute haben die Deutschen diesen Kohl-Waigel-Paragraphen nicht wirklich zur Kenntnis genommen. In keinem einzigen TV-Gespräch wurde er erwähnt und debattiert.

Ökonomie will eine Naturwissenschaft sein, die ihre philosophischen Grundlagen verleugnet. Wer sie bedenken will, muss philosophisch werden. Grundsatzdebatten wurden von deutschen Export-Rambo-Eilten abgeschafft. Man wirft sich nur noch Zahlen an den Kopf. Was sie bedeuten, wird nicht ergründet. Denken ist zugunsten des Rechnens abgeschafft.

Nun die schönen Lügenwörter. „Eigenverantwortung“ ist das Gegenteil von Solidarität. Wer einer Gruppe beitritt, macht sich abhängig von fremden Gruppenteilnehmern. Eigenverantwortung kann nur Verantwortung für die ganze Gruppe sein. Jedes Mitglied gibt und nimmt, auch innerhalb nationaler Demokratien.

Zu Zeiten der sozialen Marktwirtschaft galt noch das Prinzip: die Starken tragen große Lasten, die Schwachen die kleinen. Heute ist dieser Grundsatz demoliert. Die Starken müssen gestärkt werden, denn sie tragen alle Risiken der Arbeitsplatzbeschaffung und der Wohlstandvermehrung.

George Gilder, rückhaltloser Propagandist des von Reagan eingeführten Neoliberalismus, verteidigt die „schutzbedürftigen“ Reichen: „Eines der sträflich vernachlässigten Kapitel der Sozialgeschichte ist die Feinschaft der Gesellschaft gegen ihre größten Wohltäter.“ („Reichtum und Armut“) Soziale Maßnahmen dienen nur dazu, die Untätigkeit der Schwachen zu unterstützen und die Reichen zu schwächen. Schon die Absicht, die Armen abzuschaffen, sei absurd:

„Wir müssen uns damit abfinden, dass wir trotz des Überflusses, den uns die kapitalistische Wirtschaft beschert, immer in einer Welt voller armer Menschen leben werden.“

Der fromme Gilder wird das Jesuwort gekannt haben: „die Armen habt ihr allezeit.“ Wozu sollte man im Geist des Evangeliums die Armut abschaffen, wenn sie denn mit ewiger Seligkeit belohnt wird? Illusionär wäre auch die Absicht, die Kluft zwischen Reichen und Armen zu verringern. Wer den Armen wirklich helfen wolle, müsse die – Starken noch stärker machen. Nur sie sind in der Lage, für Wachstum der Wirtschaft zu sorgen.

„Um das Einkommen der Armen zu steigern, muss man zunächst die Investitionstätigkeit ankurbeln, um den Wohlstand der Reichen zu erhöhen. In absoluten Beträgen gewinnen immer die Reichen mehr hinzu und so wird sich der Abstand zwischen arm und reich vergrößern. Alle Maßnahmen, die das Einkommen der Reichen – und damit die Investitionen – verringern, um den Armen mehr zu geben (und ihre Arbeitslust zu dämpfen), würden sich nur in sinkender Produktivität, steigender Arbeitslosigkeit und noch mehr Armut auswirken. Der materielle Fortschritt ist elitär – er macht die Reichen noch reicher und vergrößert ihre Zahl. Er hebt die wenigen außergewöhnlichen Menschen, die fähig sind, Wohlstand zu schaffen, über die Volksmenge hinaus, die ihn verbraucht. Der materielle Fortschritt entsteht auf zutiefst undemokratische Weise – er erfordert das Gutheißen von Methoden, die das Volk – und manchmal seine Regierung – nicht überblicken können. Die Armen von heute weigern sich, hart zu arbeiten.“

Man wechsle einige Begriffe aus, spreche von armen und reichen Staaten – und erhalte den Geist der Maastrichter Verträge. Reiche Länder müssen gestärkt, dürfen durch Fremd-Verantwortung nicht geschwächt werden. Die Flut hebt eben nicht alle Schiffe gleichermaßen. Die Luxusliner heben ab in den Himmel, die wurmstichigen Boote müssen unten paddeln. Die Reichen werden zu Recht immer reicher. Sie haben jenen Glauben, der sie befähigt, die Risiken eines Unternehmens in Zuversicht zu bestehen. Da Erfolg immer mit Zeit und Zufall – mit göttlicher Gnade – zu tun hat, bleibt er unberechenbar und ein Geschöpf des Glaubens. „Wirtschaftsexperten, die der Religion misstrauen, werden niemals begreifen, wieviel ehrfurchtsvolle Hingabe der Fortschritt erfordert.“

Der Glaube an den christlichen Gott ist der entscheidende Wettbewerbsvorteil des Kapitalismus. Ohne Glauben ist alles nichts.

„Der Glaube an die Menschheit, an die Zukunft, an die allseitigen Vorteile des Handels, an die Fürsorge Gottes ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Kapitalismus. Der Glaube stärkt die arbeitenden und unternehmenden Menschen gegen die Misserfolge und Frustrationen, die in dieser nüchternen Welt unvermeidlich sind. Nur der Glaube kann Berge versetzen, auch die Berge von ideologischem Unrat und Lustlosigkeit, die der geplagten Wirtschaft der westlichen Welt heute im Wege stehen. Er vollbringt auch heute jeden Tag neue Wunder bei der Bewältigung wirtschaftlicher Schwierigkeiten.“

Dies ist in amerikanischer Direktheit und Unverblümtheit die Ideologie des religiösen Kapitalismus, der Europa erobert hat und die „Regeln“ des Euro bestimmt. Diese Regeln sind keine Naturgesetze, sondern Festlegungen der gläubigen Gläubiger, die keinen andern Zweck haben, als die geplagten Reichen noch reicher und die dreisten Armen noch mehr zu schwächen.

Die braven Europäer waren hochmotivierte Schüler und wollten ihre Lehrmeister in „Eigenverantwortung“ übertreffen. Amerika hat die europäischen Transferprobleme längst überwunden und kennt Ausgleichsmechanismen zwischen reichen und armen Einzelstaaten. Europa lehnt diese Transfermethoden rigoros ab. Darwins Überleben der Stärksten wollen sie in weltmeisterlicher Brillanz demonstrieren.

Den Wettlauf in den Himmel kann jede Nation nur alleine bestehen. Nächstenliebe kann dem Hilfsobjekt nur glühende Kohlen aufs Haupt sammeln, um gute Zensuren für die eigene Seligkeit zu erwerben.

„Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“

Der unerbittliche Kampf von jedem gegen jeden ist keine Eigenschaft der grausamen Natur, sondern der existentielle Kern des Credos.

Neoliberale kennen nur einen einzigen Anreiz, um sich wirtschaftlich zu steigern: das Motiv, den Konkurrenten zu besiegen und aus dem Weg zu räumen. Solidarität wäre hier nur eine Motivationsdämpfung, ein Beruhigungsmittel, um sich fahrlässig seines Lebens zu erfreuen. Aber nicht, um die fiskalischen Zahlen ununterbrochen nach oben zu treiben.

Jede Nation kehre vor der eigenen Tür, Beistand leisten würde das BIP schädigen. Es gibt noch einen anderen Grund, um gegenseitige Hilfe von vorneherein zu verweigern: „Die Nichtbeistands-Klausel soll außerdem Anwärter für die EWWU anregen, den Beitritt sorgfältig zu bedenken.“

Das ist der Gipfel der europäischen Heuchelei. Als Griechenland der EU beitrat, wussten alle politischen Eliten, dass Neuhellas weder wettbewerbsfähig war, noch eine funktionierende Demokratie hatte. Amerikanische Banker sollen den korrupten Eliten in Athen geholfen haben, die Zahlen des Haushalts zu fälschen. Die Europäer wollten nicht sehen, was vor aller Augen lag: dass der historisch schwer heimgesuchte Staat nicht beitrittsfähig war.

Ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Kompetenz sollten alle Staaten Europas von Portugal bis Rumänien dem europäischen Friedensprojekt beitreten. Alles weitere würde sich finden. Der politischen Blauäugigkeit folgte der wirtschaftliche Hammerschlag. Sehendes Auges fuhren zwei Züge in Höchstgeschwindigkeit aufeinander zu: der Zug der politischen Euphorie und jener des ökonomischen Brutalo-Liberalismus. Keine Sekunde vor dem erwartbaren Knall wollten die Eliten ihren Traum von der neuen Weltgeltung der EU beenden. Seit fünf Jahren werden die Griechen auf kleinstem Feuer geröstet. Nun endlich kommt das befreiende Schlußfeuerwerk mit gesamteuropäischer Selbstentzündung.

Die philosophischen Grundideen des Neoliberalismus wurden vor allem durch den österreichischen Altadligen Friedrich August von Hayek in gewichtigen Büchern zu Papier gebracht. Seine Philosophie ist eine der Gegenaufklärung. Des Menschen Vernunft ist zu schwach und zu trügerisch, um ihn zu befähigen, sein Schicksal in eigener Kraft zu gestalten. Die Aufklärer hätten an Vernunft-Arroganz gelitten, felsenfest davon überzeugt, das bisschen Ratio der Menschen könne die verkommene Welt in eine idyllische verwandeln.

„Es ist eine Tendenz des modernen Denkens, die auf einem tatsächlichen Irrtum, nämlich der Vorstellung beruht, dass ein mit Verstand begabter primitiver Mensch die Fähigkeit besaß, unsere Kultur und all ihre Einrichtungen im Dienste seiner vorgefassten Ziele zweckmäßig zu gestalten.“ („Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit“).

Die technische und wirtschaftliche Entwicklung der Gattung sei viel schneller vorangeschritten als die Entwicklung ihrer Ethik, die hinter den Erfordernissen der Moderne stets hinterher gehinkt sei. Unsere soziale Moral sei noch immer einem uralten Sippendenken zu verdanken, das mit den Erfordernissen eines wirtschaftlich rasant voranschreitenden Fortschritts unverträglich sei.

„Dem steht entgegen, dass die meisten unserer individuellen Bestrebungen tatsächlich auf Ziele gerichtet sind, die mit den Gefühlen in Widerspruch stehen, die wir von der Stammesgesellschaft ererbt haben – ja unser ganzer Wohlstand und damit unsere Fähigkeit zur Beseitigung von Elend und krasser Not, die früher als unvermeidlich galten, darauf beruhen, dass wir moralische Gefühle vernachlässigen, die zwar tief in uns eingewurzelt, aber mit den Antrieben, die die Produktivität des Menschen in der Großgesellschaft bestimmen, nicht vereinbar sind.“

Die Welt ist nicht gerecht. Gott verteilt die Güter nach Lust und Laune, nach Zeit und Zufall. Dies aber ist kein Nachteil. Schlimmer wäre es, wenn die Verteilung der Güter gerecht wäre. Die Fähigkeiten jedes einzelnen lägen offen vor aller Augen. Regiert hingegen der irrationale göttliche Wille, können wir unsere Lage noch immer mit unverdientem Pech oder zufälligem Glück rechtfertigen. Dass die Welt ungerecht erscheint, ist ihre wahre Gerechtigkeit:

„Es ist gewiss oft traurig zu sehen, wie die Verteilung der Güter dieser Welt durch bloßes Glück, wenn nicht durch Schlimmeres bestimmt wird und nur selten im Verhältnis zu erkennbarem Verdienst oder Bedarf steht. Aber wie viel schlimmer wäre es doch, wenn wir alle überzeugt wären, dass jeder das verdient, was er hat – oder nicht hat – und der, dem es schlecht geht, wüsste, dass alle anderen meinen, er verdiene es eben nicht besser.“

Das Hauptproblem der Moderne ist die Diskrepanz zwischen alter sentimentaler Stammessolidarität und den rabiaten Sieges-Methoden des Reichtumserwerbs. In der Kinderstube glaubten wir alle an Friede, Freude und allgemeine Nächstenliebe. Erwachsen geworden, müssen wir uns von solchen Illusionen verabschieden.

Hayek ist ein Nachfolger Mandevilles, der – nach Machiavelli – als Erster in der frühen Moderne die Umwertung der Werte propagierte. Private Tugenden taugten nichts für den wirtschaftlichen Wettbewerb. Private Laster wie Eitelkeit, Gier, Geiz, Habsucht müssten zu öffentlichen Tugenden erklärt werden. Nur sie seien in der Lage, konkurrierende Nachbarstaaten in den Schatten zu stellen. So auch Goethes Teufel, der – ob er wollte oder nicht – in den Dienst des Guten genötigt wurde.

Traditionelle Tugenden wie Genügsamkeit, Freigebigkeit, Zufriedenheit waren Gift für jeden wirtschaftlichen Ehrgeiz. Die Regeln des Sittlichen mussten gesprengt werden, um den Wohlstand ins Unbegrenzte zu erweitern. Die „solidarischen Werte der primitiven Stammesgesellschaft“ mussten durch evolutionär erforderliche Übertrumpfungstechniken aussortiert werden:

„Was uns zum Menschen gemacht hat, war, dass wir jene angeborenen, animalischen Gefühle, die die kleine Gruppe zusammenhielten und die wir immer, im Gegensatz zu anderen, noch gerne „die menschlichen“ nennen, durch abstrakte Verhaltensregeln ersetzten, die uns von der Verpflichtung befreiten, zunächst für den Nachbarn zu sorgen, bevor wir der Welt Leistungen anboten.“

Der „auf den Nächsten gerichtete Altruismus“ sollte durch Gewinnstreben abgelöst werden: Das bedeutete eine „Unterdrückung der eingefleischten moralischen Impulse durch neue, die dem Individuum nicht mehr angeboren waren, sondern die er erst lernen musste.“

Diese Moral der Menschenverbundenheit war Teil des Sozialismus, dessen ökonomische Unfähigkeit für Hayek tausendfach erwiesen war. „In einem bestimmten Sinne sind wir alle Sozialisten. Wir werden noch immer von Gefühlen beherrscht, die auf dem begründet sind, was in der kleinen Gruppe von bekannten Menschen nötig war, unter denen jeder auf die Erfüllung der Bedürfnisse von Menschen zielen musste.“ Es seien immer wieder diese animalischen Triebe gewesen, die den Menschen in Versuchung führten, seinen sozialistischen Instinkten nachzugeben.

Die Überwindung sozialistischer Instinkte machte für Hayek gerade das Menschsein aus. Die Überwindung war für Hayek identisch mit dem christlichen Glauben, zu dem er sich vorbehaltlos bekannte. Seine Überwindung der Nächstenliebe war in der Tat kein Gegensatz zur Bergpredigt, die Gottes Seligkeitsmoral als Antinomismus (Böses und Gutes ist gleichermaßen gut) beschrieb.

Kein Wunder, dass der gegenwärtige Kapitalismus auch noch die letzte Bastion der Ursippe, die Mutter-Kind-Dyade schleifen muss, um das total herausgerissene, allseits verfügbare Individuum den Erfordernissen eines ökonomischen Molochs zu unterstellen.

Es dürfte niemanden mehr überraschen, wenn Hayeks Antinomismus ihn dazu verleitete, einen totalitären Staat mit neoliberaler Wirtschaft einer Pöbelherrschaft mit sozialer Verantwortung vorzuziehen. Pinochets Despotie, die seine Wirtschaftsprinzipien in die Tat umsetzte, war für ihn – der einst ein erfolgreiches Buch gegen Hitler geschrieben hatte – nicht das geringste Problem. Selbst sein bewundernder Biograf H. J. Hennecke kann ihn hier nicht ohne milden Tadel davon kommen lassen:

„Der Tatsache, dass sich das Pinochet-Regime durch eine Reihe schwerwiegender Verfehlungen disqualifiziert, mißt Hayek keine Bedeutung bei. In der antisozialistischen Fixierung seines Freiheitsbegriffs gelangt er zu einem kaum zu rechtfertigenden Fehlurteil, bei dem ihn sein gesundes Gespür für außerökonomische Zusammenhänge offenbar im Stich lässt.“

Alle Ökonomen, die die moderne Demokratie wegen wirtschaftlicher Schwäche zu verachten beginnen – wie Postdemokraten, Transhumanisten – können sich mit Fug auf den Freund der Diktatoren berufen. Der einstige Gegner des Dritten Reiches war zum Lobredner eines totalitären Staates geworden – wenn er denn seinen darwinistischen Zeit-und Zufalls-Kapitalismus in seinem Erlösungsfaschismus wiederfinden konnte.

Von seiner stolzen menschlichen Vernunft müsse der Mensch Abschied nehmen, so Hayek, und zur Bescheidenheit übergehen. Die Vernunft sei unfähig, das Schicksal des Menschen zu bestimmen. Auch Popper plädierte für Bescheidenheit. Dasselbe Wort könnte aber nicht unterschiedlicher gedeutet werden:

Poppers sokratische Bescheidenheit bezog sich auf das theoretische Wissen des Menschen, das nie unfehlbar sein könne. Doch in der Moral könne der Mensch für seine unbeugsame Moral selbst den Tod auf sich nehmen, so sicher könne er sich der Menschlichkeit seiner demokratischen Tugenden sein.

Hayeks Bescheidenheit meint das genaue Gegenteil. Die Moral der Mitmenschlichkeit müsse überwunden werden zugunsten der Amoral wirtschaftlichen Raubrittertums. Unsere Vernunft sei in jeder Hinsicht schwach. Also müssten wir uns der Macht der übermenschlichen Evolution beugen.

Ein aus Vernunft geborener Altruismus sei gefährlich und undurchführbar. „Die altruistische Maxime „Liebe deinen Nächsten“ spiegelt für ihn lediglich eine tribalistische (stammesgemäße) Moral wider und kann sich sinnvollerweise nur auf Menschen beziehen, zu denen eine nachbarschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehung besteht. Doch als moralische Grundregel für die Großgesellschaft und abstrakte Ordnung ist dieses Gebot schlichtweg ungeeignet.“

Die moderne Gesellschaft ist abstrakt, losgelöst von allen lebensnotwendigen Empathietugenden der intakten Familie, in der das Kind zum Menschen reifen kann. Alle Gefühle selbstverständlichen Verbundenseins müssen in der ökonomischen Gesellschaft eliminiert werden. Der Neoliberalismus funktioniert nur, wenn Humanität verteufelt wird.

Merkel & Schäuble wollen Nächstenliebe nur als Almosengaben für – sich selbst, um eines Tages vor ihrem himmlischen Vater bestehen zu können. Die Welt aber muss verwerflich bleiben, wie sie immer war.

Die Europäer müssen sich entscheiden, ob sie Hayeks Vernunft- und Moralverachtung folgen wollen – oder einer Ethik tief empfundener Verbundenheit mit Mensch und Natur.

Mit Hayek könnte Merkel den Griechen zurufen:

„Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen: Nur jene Völker können erhalten werden, die sich auch ernähren können.“