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Donnerstag, 28. Februar 2013 – Manichäismus

Hello, Freunde Hegels,

Hegel ist wiederauferstanden. Heißt mit Vornamen Chuck, schreibt sich Hagel und wird amerikanischer Verteidigungsminister. Sein Motto: „Im Krieg zeigt sich die Kraft des Zusammenhangs aller mit dem Ganzen.“ Das Ganze wird durch Krieg zusammengehalten. Hurra, Deutschland hat Amerika nachträglich besiegt.

Es gibt schwer Erträgliches bei deutschen Meinungsmachern. Zum schwerst Erträglichen gehört ein Artikel von Ulrich Ladurner über Beppe Grillo. Mit solchen Verdrehungen und abendländischen Verblendungen übertrifft der ZEIT-Schreiber die krachledernen Äußerungen des SPD-Kanzlerkandidaten bei weitem.

(Ulrich Ladurner über Beppe Grillo in der ZEIT)

Kein Wort darüber, dass hier eine engagierte Jugend der verrotteten Politklasse an den Kragen will? Ist Grillo autoritär? Dann wäre es die Sache seiner Gefolgschaft, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. War Joschka Fischer nicht ein autoritärer Rüpel, Schily ein Herrenreiter der Extraklasse? Jedes Alphatier ist so selbstherrlich, wie seine Anhänger es zulassen.

Ein deutscher Professor wirft der Movimento leere Parolen vor, Ladurner spricht hingegen von einer Bibel, die Grillo mit einem Kollegen geschrieben habe. Das Büchlein fasst die Grundsätze der jungen Generation auf 150 Seiten zusammen. Heut ist es zum gängigen Muster geworden, dass Bibelanhänger den Säkularen vorwerfen, sie

seien unduldsamer als der Papst.

Was einst Aufklärer den Priestern eintunkten, wird nun mit derselben Währung zurückbezahlt. Anhänger der Vernunft sind faschistische Vernünftler, Atheisten und Religionskritiker totalitäre Wahrheitsbesitzer. Belege gibt es keine, Argumente sind aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Es ist so herrlich, eine Meinung zu haben und sie einem großen Publikum zu verkünden.

Im Untertanenstaat ist es ein riesiger Fortschritt, Meinungen zu haben. Darin steckt das Wörtchen Mein. Ich bin es, der dies denkt. Wer ohne zu straucheln Ich sagen kann, hat auch eine Meinung. Meinungsfreiheit ist die Grundlage der Demokratie. Nur: Meinungen fallen nicht vom Himmel und haben eine Entstehungsgeschichte.

Wenn Deutschland nicht nur Meinungen gegeneinander stellen, sondern debattieren will, muss es lernen, Butter bei die Fisch zu bringen. Es geht um Agon, den Wettstreit der Meinungen. Welche Meinung ist die plausibelste? Die vernünftigste?

Schon hier beginnt das Verhängnis. Eine Nation, die über viele Jahrhunderte von Führern und Gottesmännern kujoniert wurde, ist so allergisch geworden gegen die Position des „Besseren“ und „Überlegenen“, dass sie jedes treffliche Argument als eine Äußerung „von oben“ verwirft. So neulich in der TAZ, als Professor Grottian Attac kritisierte und die antwortenden Attacies ihm vorwarfen, er fordere blinde Gefolgschaft für seine Meinung „von oben“.

Ein deutscher Professor kommt direkt nach dem Pastor, was seine Nähe zum Himmel betrifft. Hat man einem Argument nichts mehr entgegenzusetzen, muss man dem Streitpartner nur Besserwissen von oben vorwerfen und schon hat man den Fight gewonnen.

Dass alle Meinungen in der Wahlkabine gleich viel wert sind, versteht sich von selbst. Vor dem Tribunal des Wettstreits um die Wahrheit aber sind nicht alle Meinungen gleich. Durch Mehrheitsbeschluss kann Wahrheit nicht bestimmt werden. Millionen Fliegen können doch irren, was Deutsche am besten wissen müssten.

Es gibt Falsches und Richtiges. In Mathematik und in Naturwissenschaften würde das niemand bestreiten. Die Philosophie ist arm dran. Sie kann nur darauf vertrauen, dass der Gesprächspartner weniger von Unterlegenheits- und Konkurrenzgefühlen beherrscht wird, als vom leisen Gespür für das Triftige, das durch kein Machtwort triftiger und plausibler werden kann. Hier ist jeder mit sich allein.

Vernunft appelliert, aber sanktioniert nicht. Weder mit Lohn noch mit angedrohter Strafe. Vernunft hat keine Macht – außer der Plausibilität ihrer Erkenntnissuche. Sie lädt den Menschen ein, sich seines eigenen Denkens zu bemühen. Wut, Konkurrenz und Eifersucht sollen nicht die Stimme des dunklen Dranges betäuben, der sich des rechten Weges wohl bewusst ist. Insofern ist die Machtlosigkeit der Vernunft ihre Auszeichnung. Trotz aller Bedenken vertraut sie dem Menschen, dass er zum Erkennen der Wahrheit fähig ist.

Der deutsche Idealismus hatte kein Problem, seine jeweilige Wahrheit, wenn nicht im Guten, so mit Gewalt durchzusetzen. Nach Kant traten deutsche Besserwisser auf, die es im Gefolge Platons und des christlichen Credos für richtig hielten, ihre Privaterleuchtungen mit dem heiligen Schwert durchzusetzen. Der deutsche Idealismus war die philosophische Vorbereitung der NS-Schergen.

Das ist hierzulande untergegangen, weil die Frankfurter Schule auf ihre Idole Hegel und Marx nichts kommen ließ. Topitschs Büchlein über „Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie“, Poppers Platon- und Hegelkritik wurden im „Positivismusstreit“ für immer beerdigt. Die Deutschen wollen stolz sein auf ihre Dichter und Henker, obwohl sie von ihnen nichts mehr wissen wollen.

Hier liegt eine wesentliche Quelle des deutschen Antisemitismus, die von keinem Graumann und Broder auch nur von weitem gesichtet wird. Wenn Frank Schirrmacher den Antisemitismus als „Naturereignis“ beschreibt, sind die Deutschen an ihrem Judenhass unschuldig. Wenn er Thomas Mann von allen Antisemitismus-Keimen desinfiziert, soll das bedeuten: die große Tradition deutscher Geistesgeschichte hat mit Völkermördern nichts zu tun. Deutsche waren nur Opfer eines Virus, der irgendwo herkam und sie irgendwie infizierte.

Eine vollständigere Leugnung der deutschen Schuld kann es nicht geben. Warum kommt niemand auf die Idee, den Frankfurter FAZ-Herausgeber als einen besonders subtilen Antisemiten an den Pranger zu stellen? Das Verhängnis liegt nicht bei den Dumpfbacken, sondern bei den christogenen germanischen Geistesriesen.

Die Gegenwart ist so allergisch gegen jede Machtanmaßung der „Wahrheit“, dass sie alle Wahrheit lieber in den Orkus verbannt als den Eindruck zu erwecken, sie folge devot der Weisung einer Autorität. Die deutsche Sprache kennt keinen Unterschied zwischen einer autoritären und einer nicht-autoritären Autorität. Alles, was prononciert Ich sagt, ist eine autoritäre Charaktermaske – natürlich mit Ausnahme von Onkel Karl aus Trier.

Jeder Mensch soll seine Meinung haben und vertreten, das ist das Mindeste in einer Demokratie. Wer aber der Stimme der Vernunft folgt, die willkürliche Meinungen in begründete Meinungen verwandeln kann, der muss bei den alten Griechen das Denken lernen. Jede Demokratie wird besser und menschlicher, wenn Humanität durch Raisonnieren unterfüttert wird.

Der Unterschied zwischen einer gefährdeten und einer stabilen Demokratie besteht im Unterschied zwischen einer windschlüpfrigen und einer durchdachten, streitbewährten Meinung. Nur die Agora – das Forum, auf dem erkenntnissuchende Athleten um Wahrheit ringen – kann aus einem demokratischen Konsolenspiel eine stabile res publica machen. „Wahrheit ist es, vor der die Meinung erbleicht“, schrieb Hegel. Leider meinte er das Erbleichen auch körperlich. Vom Erbleichen zur Leiche ist nur ein kleiner Schritt.

Meinungen sind zufälliger Abklatsch der eigenen Umgebung. Begründete Meinungen sind vom eigenen Kopf in Auseinandersetzung mit anderen Köpfen überprüft und durchdacht. Der edelste Wettstreit ist der Wettstreit um Erkenntnis. Demokratien müssen sich fortentwickeln, nominelle Bürger in lernende und wahrheitssuchende Bürger verwandeln. Die Geburt der Demokratie geschah im Geist des Satzes: Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert.

Der Papismus sieht seine Hauptaufgabe darin, die „Diktatur des Relativismus“ der heidnischen Moderne auszurotten, wie Pater Eberhard von Gemmingen betont. Früher war es die Diktatur der unfehlbaren Wahrheit der Kirche. Dieser Vorwurf muss heute von den Rechtgläubigen postwendend an die Welt zurückgegeben werden, damit die tyrannische Geschichte der Kirche vertuscht werden kann.

Einen strengen Relativismus kann es nicht geben. Denn jeder Relativist behauptet die Wahrheit seines Relativismus. Es handelt sich also nur um verschiedene Wahrheitsbegriffe. Der Philosoph will über seine Meinung streiten, der Relativist weigert sich unter dem Vorwand, es gebe keine Wahrheiten. Hier entlarvt sich seine überraschende Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wahrheitsbegriff, der es auch ablehnt, mit Ungläubigen über seine unfehlbaren Offenbarungen zu disputieren. Entweder schlucken oder ab ins Fegefeuer.

Der unfehlbare Relativist ist der beste Bodyguard des Neoliberalismus. Ihm fehlt die Kompetenz, die „Unwahrheit“ eines inhumanen Wirtschaftssystems in Frage zu stellen. Was ein gutes Leben sei, sagen die Postmodernen – gebe es so viele Meinungen wie Menschen. Was Gerechtigkeit sei – da habe jeder Mensch seine eigene Meinung, darüber debattieren lohne nicht. Das war die standardisierte Debattenstrategie der führenden Neoliberalen wie Henkel und Barbier, als die amerikanische Wildwestwirtschaft bei uns mit exzellenten PR-Kampagnen eingeführt wurde.

Wenn alles relativ ist, kann der Absolutismus der Kirchen und Geld-Tycoons ungefährdet die Menschen tyrannisieren. Die Diktatur des Relativismus ist die Zwillingsschwester der Diktatur des Absolutismus.

Ladurner bekrittelt bereits den Titel des Grillo-Buches als martialisch: „Wir sind im Krieg – für eine neue Politik.“ Darin heißt es: “Es handelt sich um einen totalen Krieg, der jeden Aspekt unseres Lebens betrifft und alle ökonomischen und sozialen Strukturen infrage stellt, die seit Jahrhunderten als gegeben hingenommen werden.“

Interessant, dass solche Äußerungen nur als martialisch empfunden werden, wenn sie von Linken kommen. Übrigens ist nicht alles gleich stalinistisch, wenn etwas in Leidenschaft und Zorn formuliert wurde. Noch nie hat jemand Warren Buffet als martialisch gescholten, weil er sagte: „Wir befinden uns im Krieg der Reichen gegen die Armen. Die Reichen haben ihn begonnen und werden ihn gewinnen.“

Die Hauptkritik Ladurners gegen die 5-Sterne-Bewegung bezieht sich auf das strikte Schwarz-Weiß-Bild der Grillini. „Es gibt bei Grillo-Casaleggio nur das “Alte” und das “Neue”, das “Die” und das “Uns”. Grillo spricht auch gerne von den “Hurensöhnen”. Es ist ein manichäisches Weltbild, das keine Differenzierungen zulässt. Was die Zukunft betrifft, gibt es nur eine Alternative: Mitmachen oder untergehen. “Sozialismus oder der Tod” wird hier zu “Das Netz oder der Tod”. Beides sei totalitär.

Ist Schwarz-Weiß-Denken nicht die Erfindung totalitärer Erlösungsreligionen, zu denen das Christentum gehört? Müsste Ladurner den Nachwuchspolitikern nicht den Vorwurf machen, sie seien noch immer ihrem Katholizismus verhaftet? Nein, der Autor sieht die Wurzeln des Entweder-Oder, des Jaja und Neinnein nicht im Religionsunterricht der jungen Italiener, sondern – man höre und staune – im Manichäismus.

Wieder einmal wird durch eine Geschichtsfälschung das Christentum vor den Angriffen seiner gottlosen Feinde gerettet. In der pan-religiösen Atmosphäre der Gegenwart gibt es ein simples Konzept kausaler Zuschreibung. Alles Gute entstammt dem christlichen Credo, alles Böse ist Frucht des Unkrauts im Weizen, der gottlosen Feinde.

Was ist Manichäismus? Eine antike Mischreligion (Synkretismus), die sich auf den Gründer Mani beruft, einem Perser aus dem 3. Jahrhundert ndZ. „Mani verstand sich selbst als Nachfolger der großen Religionsstifter Jesus, Zarathustra und Siddhartha Gautama (Buddha). Entsprechend stellt der Manichäismus eine synkretistische Lehre dar, die sowohl zoroastrische, christliche als auch buddhistische Elemente enthält.“

Es wäre ein Wunder, wenn ein Edelschreiber sich mal kundig machte, wenn er eine Sache beurteilen will. Ein kleiner Blick in Wiki würde genügen, um den Manichäismus als Zellteilung des Christentums zu betrachten. Dass die ganze Bibel ein einziges heilsgeschichtliches Ereignis des Entweder-Oder ist: dazu genügt ein wenig Blättern in der Heiligen Schrift. Gott ist ein eifersüchtiger Gott, der seine Gegner mit Stumpf und Stiel ausrottet.

Der Manichäismus ist in hohem Maß von der jüdisch-christlichen Religion beeinflusst. Der Neutestamentler Bultmann hat in seinen Erläuterungen zum Johannesevangelium oft auf die gnostischen Bestandteile der Frohen Botschaft hingewiesen. Die Gnosis ging nahtlos über in die Heilsreligion des Mani. Im Neuen Testament steht klipp und klar: „Niemand kann zween Herren dienen, denn Entweder wird er den einen hassen und den andern lieben Oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten.“ Entweder-Oder.

Es war ausgerechnet Rudolf Augstein, der führende Journalist der Nachkriegsrepublik und anfänglich einer der schärfsten Kritiker des Christentums, der das vergiftende Erbe des Abendlands auf den Manichäismus ablenkte. In seiner Kritik an Dabbeljus Glaubenskrieg gegen die Achse des Bösen sieht er die Wurzeln des Amerikanismus, Böses mit Bösem zu bekämpfen, im – Manichäismus. Seitdem grassiert in links-liberalen Kreisen, Dabbelju sei kein Christ, sondern ein Manichäer. Wieder einmal ist die Frohe Botschaft gerettet.

Augstein, der in späteren Jahren munter lutherische Choräle im Gottesdienst schmetterte, bringt die Fehlleistung fertig, Gods own Country in ein Land zu verwandeln, in dem der Perser Mani das intolerante Zepter führt:

„Aus der späten Antike ging durch den Religionsstifter Mani der Manichäismus hervor. Er setzt voraus, dass Licht und Finsternis, Gut und Böse, Geist und Materie unversöhnlich gegeneinander stehen. Es sind nun aber die US-Amerikaner, die ohne glaubhafte Feindbilder nicht leben können, noch von Indianerzeiten her.“

(Rudolf Augstein)

Das Böse darf nicht aus der christlichen Religion kommen, also kommt es auch nicht daher. Wie immer wird auch bei Ladurner das Entweder-Oder der Wahrheit oder Unwahrheit mit dem Entweder-Oder des Heils oder Unheils verwechselt. Wäre es nicht seltsam, Mathematikern ein manichäisches Weltbild zu unterstellen, wenn sie sagen, die Gleichung sei richtig gelöst oder nicht. Kann 1 und 1 auch Drei sein, damit wir höchst differenziert dahersalbadern können?

Das Entweder-Oder des Heils entscheidet über Seligkeit und Verdammnis. Das Entweder-Oder menschlicher Einsicht gibt jedem die Chance, so oft er will, die Gleichung durchzurechnen, den Fehler zu entdecken und beim nächsten Mal zu vermeiden. Der „Irrtum“ des religiösen Dualismus hat irreparable Folgen in Zeit und Ewigkeit, der Denkfehler der Vernunft ist der Weg, über Versuch und Irrtum dazuzulernen.

Sollten die Grillini einen Sozialismus à la Ostblock in Italien errichten wollen, hätte Ladurner recht: Sozialismus und Tod sind beide totalitär. Belege für diese These aber bringt er keine.

Grillo ist ein feuriger Kämpfer gegen den Kapitalismus. Sollte diese Wirtschaftsform den Untergang der Menschen bewirken – und wer außer Milliardären bestreitet das heute noch? –, wäre der Kampf gegen naturfeindliche Maßlosigkeit eine alternativlose Pflicht.

Es muss zu allem eine Alternative geben, hört man heute. Aus Protest gegen Politeliten, die ihre Entscheidungen gern als alternativlos darstellen. Wieder mal eine dümmliche Reaktionsbewegung, wenn Falschheit und Unwahrheit die Alternativen zur Wahrheit sein sollen. Drei ist keine Alternative, wenn ich 1 und 1 zusammenzähle. Gibt es eine Alternative zur CO2-Vermeidung, zur Rettung der Natur?

Warum gewinnt die deutsche Filmindustrie nie einen Oscar? Warum sind Unterhaltungssendungen der deutschen TV-Kanäle – um nur die geringsten Beispiele zu nennen – hoffnungslos stupide und ideenfrei? Weil es in Deutschland keine Debatten mehr gibt, in denen kantige Köpfe aufeinander schlagen und ein erkenntnisbegieriges Publikum zu Scharf-, Tiefsinn und befreiendem Klamauk anregen. Wir wälzen uns im trüben Teich der Mediokrität. Einmal vorwärts und einmal zurück.