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Donnerstag, 23. Februar 2012 – Klerikale Solotrompete

Hello, Freunde der Überstunden,

wer sich von seinem Lohn nicht ernähren kann – „Niedriglohn“ erhält –, soll wenigstens keine Überstunden machen, die nicht bezahlt werden müssen. Ein Mann hatte fast 1000 Überstunden angesammelt und geklagt. Das Bundesarbeitsgericht höchstselbst hat entschieden: dem Mann kann geholfen werden. Klingt beruhigend, dass man in dieser Gesellschaft nicht umsonst schaffen muss, wenn man sich schon nicht von seiner „Hände Arbeit“ über Wasser halten kann.

Solche Leute müssen nicht verhungern, sie müssten sich nur – spät abends nach einem langen Überstundentag – bei diversen Ämtern anstellen, auf dass der Staat ihnen per Hartz4 draufsattele, sodass sie bequem Freiheit-in-Verantwortung als auch Freiheit-ohne-Verantwortung ausagieren dürfen.

Sollen das etwa Widersprüche sein? Bei uns doch nicht. Auch junge Frauen sind hierzulande zu dialektischen Meisterinnen geworden, indem sie Muttersein und Beruf problemlos unter einen Hut kriegen – ohne zu klagen. Ja, sie rühmen sich noch ihrer hegelianischen Synthesequalitäten. Ja, bei uns wird gschafft, s’ischt a wahre Pracht.

Hätte das Bundesarbeitsgericht anders entschieden – kein Problem. Man hätte den unbezahlten Niedriglöhnern eine Urkunde des Bundespräsidenten verleihen können, dass sie Ehrenamtslöhner sind, jenen braven Untertanen gleich, die

freiwillig Dienst in Altersheimen tun, damit der Staat durch überbezahlte ProfipflegerInnen nicht Pleite machen muss. Es soll schon Leute geben, die zu Spenden für den Ehrensold des scheidenden Expräsidenten aufgerufen haben.

Allerdings kommt der Staat nun in Verruf: dass er es sich in seiner Hängematte zu bequem machen und sich auf Kosten von Söhnchen und Töchterchen Untertan ein schönes Leben machen wolle.

Der wortgewaltige Rhetoriker mit Lutherbäffchen – auch Kanzelprediger oder Mundstück Gottes genannt –, der uns demnächst die „exzentrische Positionalität“ als eigentliche Zukunftsherausforderung einbläuen wird – wohlgemerkt eine Fähigkeit, sich von außen oder ex-zentrisch, was aber genau genommen außerhalb seines Zentrums bedeutet, also in Verlust der Mitte, wie Sedlmayr gesagt hätte, also in Distanz zu sich, seine evolutive Freiheit zu erringen (Sind noch alle da? Nur nicht maulen, man wird ja noch einen unübersichtlichen deutschen Bandwurmsatz formulieren dürfen, der die zugrundeliegende Wirklichkeit narrativ abbildet!) –, hätte ein ganz neues Thema gefunden: Väterchen Staat, wo bleibt deine reflexive Individualität, nicht immer gleich herumzujammern, wenn’s dran geht, deiner verdammten Pflicht und Schuldigkeit nachzukommen?

Dieses Väterchen Staat leidet an Magersucht. Immer wenn man den Typ braucht, verdünnisiert er sich mit dem Spruch: Untertanen, macht doch euren Dreck alleene.

Ja verreck, wozu haben wir diesen exzentrischen, viel zu teuren Lustgreis überhaupt, wenn er nicht mehr für seine armen und verlassenen Kinder aufkommen will? Typisch Mann, erst Kinder in die Welt setzen, dann ohne Alimente das Weite suchen.

Auch hier schreitet unerkannt die Amerikanisierung voran, die den alteuropäischen Staat am liebsten abschaffen möchte, denn der hat den ganzen Tag nichts zu tun als Gott einen guten Mann sein lassen. Nicht, dass er das nicht tun sollte, aber doch nicht offiziell. Denn schließlich haben wir einen Laizismus, der präzis zwischen Polizist und Pope unterscheiden kann.

Ist es aber nicht zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre, dass es dieses Väterchen gar nicht gibt? Sondern dass es eine PR-Figur amerikanischer Tycoons ist, die ihn wie den Gottseibeiuns an die Wand malen, weil er ihnen ihre sauer verdienten Milliarden aus der Tasche ziehen will?

Das Volk wählt keinen Staat, sondern Abgeordnete, Kruzifix nochmal, und wenn die nichts taugen, werden die wieder in die Wüste, äh, ins Volk, zurückgeschickt. Wo bitte gibt es einen selbständigen Staat, der sich als überstrapaziertes Väterchen aufplustern kann, damit er von seinen Untertanen nicht zu viel zur Kasse gebeten werden kann?

Eine Ritualklage übrigens, die niemand anstimmt, wenn’s darum geht, systemirrelevante Banken in systemrelevante Banken umzufälschen, damit man ihnen als Sozialstütze die Milliardenboni in den Hintern schieben kann. Jeder systemirre Banker weiß doch längst Bescheid, dass er niemals auf die Schnauze fallen kann, weil Väterchen Staat bereit steht, seine ins Nirwana gezockten Wetten auf das Ableben der Menschheit mit einem kleinen Scheck zu ersetzen.

Es gibt nun mal in der Evolution systemrelevante und –irrelevante Exemplare des homo oeconomicus rationalis. Und sollte es wider Erwarten eine Beamtenschaft geben, die sich erdreistet, ein zum Staat erstarrtes Eigenleben zu führen, dann wäre es hoch an der Zeit, diesen Pickelhauben den Ehrensold zu kürzen.

Wenn das so weiter geht mit diesen Rotationspräsidenten, die nach flottem Abgang einen Dienstwagen, nicht unter Mercedes, eine Sekretärin, nicht unter Dr. phil., und ein Büro, nicht unter Mahagoni, mitgehen lassen, wird das noch zu einer kommoden Art und Weise unter den Berliner Charakterdarstellern, sich mal schnell in Bellevue einzuquartieren, um sich anschließend ein flottes Rentnerdasein von – jaja – Väterchen Staat finanzieren zu lassen.

Freunde, schreibt es euch hinter die Ohren, es gibt keinen Staat in einer Demokratie und wenn doch, muss er subito, unter dem Verdacht der Vorteilsnahme, vom nächsten Staatsanwalt abgeführt werden.

Staat ist, was man früher als Obrigkeit bezeichnete. In einer Demokratie gibt’s aber weder Ober- noch Untertanen. Sondern nur das Volk, das sich in seinem Parlament konzentriert und repräsentiert.

Es ist das Volk, das entscheidet, wie es mit sich umgehen will. Will es Hartz4 erhöhen, weil es nicht duldet, dass seine in Not geratenen Geschwister mit Gnadenrationen abgespeist und mit Demütigungen einer Neostasi überwacht werden, dann ist es nicht Väterchen Staat, der durch faule Untertanen zur Ader gelassen wird. Dann ist es das Volk, das nicht duldet, wie seine Mitmenschen von einem selbst-ermächtigten Staat runtergeputzt werden, der aber vor dreisten Ackermännern und Maschmeyern stramm steht.

Mit Staat kann man jede Herrschaft des Volkes aushöhlen. Man kratzt das Volk aus dem Mark und setzt den faulen Wurm Staat rein. Fällt denn niemandem auf, dass keine Sau von Demokratie spricht? Staat, Staat, Staat.

Wir hatten schon genug Staat in unserer tollen deutschen Biografie, dass er uns schon zu den Ohren rauskommt. War das Dritte Reich nicht auch Staat, das pseudoparlamentarische Bismarck-Reich, der Absolutismus jedes Winkeldespoten? Und noch immer nennen wir uns ungeniert Staat? Haben wir sie noch alle?

Wie heißt das erste Gebot des demokratischen Dekalogs? Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, sagt die Demokratie, und nicht mal mich sollst du anbeten. Ich bin von euren Gnaden. Wenn ihr mich vernachlässigt oder erhöht, mich als projektiven Pappkameraden benutzt oder mich prügelt, wenn ihr euch selbst prügeln müsstet, werde ich mich zu einem Staat im Staat aufblähen, der euch die Hammelbeine langzieht.

Väterchen Staat ist noch immer verniedlichter Stellvertreter für Väterchen Gott, der Staat ein Gebilde, das irgendwann in grauer Vorzeit vom Himmel an goldenen Seilen heruntergelassen wurde. So geht man mit geschenkten Sachen um, man wirft sie alsbald in die Ecke.

Die Deutschen: noch leben sie im Käfig eines überzeitlichen Staates, die Schwelle zur Demokratie haben sie noch nicht überschritten.

Dafür kriegen wir jetzt einen neuen Staatspräsidenten, der sich verbittet, ein Bundespräsident zu sein und nur aus Reaktionsbildungen besteht. Gab es in Ossiland keine Freiheit, macht er Freiheit zu einem von Gerechtigkeit und Gleichheit abgenagten heiligen Knochen, den er anbetet, wie Hinterwäldler diverse Knochen im Dom zu Trier.

Überhaupt wird hierzulande Demokratie wie ein Legobaukasten zusammen gepuzzelt oder wie ein Nusskuchenteig zusammengerührt: man nehme zehn Deka Freiheit, eine Prise Gerechtigkeit, ein Kilo Habgier, meide Gleichheit als Gleichmacherei wie Pest und Cholera, verquirle das Ganze mit einem ökonomischen Turbomixer und fertig ist die soziale Marktwirtschaft – die wir uns eigentlich nicht leisten können. Denn wer soll das bezahlen?

Gegenfrage: Wer soll denn den Scherbenhaufen der Krisengewinnler bezahlen? Auf einmal sind ungeheure Gelder da, um die Betuchten freizukaufen.

Freiheit sei ohnehin eine Parole, die in Deutschland zu kurz komme. Die Eingeborenen dächten vor allem an ihre gefüllten Blechnäpfe mit Sicherheits-Schappi, das sie als Gerechtigkeit ausgeben. Vollkaskomentalität, welche Schande für eine moderne Nation, die so effizient ist, dass unsere solidarischen Brüdernationen unter unseren Überschüssen ächzen.

Alles nur die Fähigkeit der Anzugträger? Wer hat denn vor 10, 15 Jahren den Leuten den Floh mit Vollkasko ins Ohr gesetzt? Was ist gegen Sicherheit im Straßenverkehr einzuwenden?

In Freiburg fahren blondgelockte Menschen noch immer ohne Helm durch die Gegend, ihre kleinen Süßen auf Minirädern folgen wie Raumfahrer vom Mars. In der Psychologie nennt man das Modelling, also das große Vorbildspiel. Dann wundern sich die Eltern, dass die Kleinen meutern, wenn sie den verdammten Kinderhelm aufziehen sollen.

Überall wird Sicherheit gepredigt bis hin zur Rentenperspektive, spätestens, wenn man die Schule verlässt. Riesterrente oder staatliche Rente: was ist das beste System zur Sicherung des Alters?

Unsicherheit und Risikobereitschaft sind Synonyma quietistischer Duldungsfähigkeit geworden, mit welcher Passivität die Menschen bereit sind, sich ins Bodenlose zu stürzen ohne nach Schuldigen zu fragen. Im Zweifel ist man selbst an allem schuld.

Alternativen gebe es doch immer, um seines Glückes Schmied zu werden. So das neue Evangelium aus Bellevue als uralte Botschaft der Fruchtbaren Zerstörung. Ab und zu muss das System sich selbst reinigen. Da hat sich zu viel kollaterale Abriebmasse im großen Räderwerk angesammelt, sodass es hin und wieder entsorgt werden muss. Nur, auf wessen Kosten? Bestimmt nicht auf Kosten derer, die davon nicht berührt wären, selbst wenn es sie träfe.

Wie gerecht die Risiken verteilt werden, kann man an der Zementierung der Klassen und Schichten studieren. Der Trend hört und hört nicht auf: alle Jahre derselbe Bericht mit demselben Fazit: die Schere geht auseinander. Wie lange will man der Schere die Rolle der Moira zugestehen, die das Geschick der Risikogesellschaft, von keinem Politiker gebremst und behelligt, beliebig dominieren kann?  

Die Eliten drehen durch. Es fällt ihnen nichts mehr ein als das alte Divide-et-impera-Spiel. Wollt ihr Freiheit? Dann gibt’s keine Gerechtigkeit. Wollt ihr Gerechtigkeit und Gleichheit, aha, dann wollt ihr den sozialistischen Gulag. Als ob der Stalinismus nur ein Jota mit Gerechtigkeit zu tun hätte.

Wenn sie Freiheit skandieren, meinen sie das Privileg, von denen, die auf ihre Kosten immer weniger Freiheitsgrade besitzen, völlig unbehelligt zu bleiben.

Freiheit ist kein Geschenk eines Gottes an Leute, die sie gar nicht verdienen. Sie ist das mühselige Arbeitsprodukt all jener, die es in vielen Jahrhunderten den Peitschenschwingern entrissen haben.

Freiheit ist zur Vorwurfsformel geworden: Ihr trübseligen Kasko-Ideologen von unten, die ihr nur Furcht vor der Freiheit habt.

Da schämen sie sich nicht, sich auf Erich Fromm und dessen Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ zu beziehen. Dort wird der Prozess der psychischen Reifung des Einzelnen geschildert. Welche Faktoren dazu beitragen, dem Kind das selbständige Denken zu vermitteln, die kritische Distanz zur Welt der Autoritäten zu finden, um suchend und irrend herauszukriegen, was sie selbst für richtig halten.

Welcher Jugendliche dürfte sich heute unterfangen, die grenzenlose Freiheit zur Unterdrückung von Natur und Mensch als unfrei zu empfinden? Dessen Schicksal wäre programmiert: entweder Knast, Psychiatrie oder ein schattiges Plätzchen unter der Dreisam-Brücke.

Wenn der Pastor daherkommt und schwadroniert, Alternativen gäbe es immer, gleichzeitig jene als alberne Hallodris abmeiert, die über Alternativen zum Moloch der „Werteschöpfer“ aus dem Nichts nachdenken, was haben wir dann? Dann haben wir den Fall purer Umnachtung.

Hier ist einer einem Unrechtssystem entkommen, der nun die Melodie der Freiheit jenen ins Ohr bläst, von denen er den Eindruck gewann, dass sie sie nicht erlitten und erkämpft, ja sogar schmählich vergessen und verdrängt haben. Das kennen wir aus allen Despotien, die sich vom Tyrannen befreien und die neugewonnene Freiheit als allmächtige Göttin anbeten.

Allein, Freiheit ist kein paradiesisches Füllhorn, sie will mühsam erlernt sein, gegen alle Faktoren der Unfreiheit, die mitten in Freiheit ihr Unwesen treiben. Nicht unter dem Namen der Unfreiheit – schön wärs, dann wäre der Feind an seinem Etikett erkennbar –, sondern unter den Namen Leistungssteigerung, Wachstumszwang, immer der Beste sein müssen, nach oben kommen als Mindestbedingung des Menschseins, Ranking von morgens bis abends, Konkurrenz auf allen Ebenen: vom perfekten Körper über Schönheitsoperationen bis zur Qualität als LiebhaberIn.

Gibt’s dazu irgendwelche Alternativen? Die heiligen Kühe dürfen nicht angetastet werden.

Ein Leben in philosophischer Muße? In freiwilliger Genügsamkeit? In beschaulicher Zurückgezogenheit? In Absage an Massenschlachten von Tieren, Pflanzen und dem ungebremsten Ausbluten der Natur?

Richtung und Tempo des messianischen Slaloms sind vorgegeben. Schon das Soziale an der europäischen Marktwirtschaft ist Amerikanern ein Gräuel, den sie mit Abwertung durch ihre Zensuragenturen bestrafen. Wo ist hier Freiheit? Wo eine Alternative, die nicht sofort als Träumerei in Grund und Boden gestampft wird?

Wie einst im real herrschenden Sozialismus, so heute im irreal herrschenden Kapitalismus: die Lok dampft in beschleunigter Geschwindigkeit, die Schienen liegen fest, Notbremsen im Innern des Wagons sind nicht vorgesehen. Aussteigen: selbstmörderisch.

Das ist Hegel’sche Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit. Aber nicht in therapeutischer Absicht, um die Notwendigkeit zu brechen und einen korrigierten Kurs zu steuern, sondern als Unterwerfung unter Geschichte, Heilsgeschichte, Fortschritt und gottgleiche Evolution.

Freiheit ist die Fähigkeit, sich dem langsamen, aber eisern vorangehenden Gang der Weltgeschichte freiwillig zu unterwerfen. Amor fati: sagt Ja zum Unabänderlichen, wenn ihr nicht gänzlich unter die Räder kommen wollt.

Die Freiheit der Moderne ist die Freiheit des Hundes, der stets zwei Schritte vor seinem Herrn herläuft – gleich, in welche Richtung jener geht.

Das große Ja zum Alternativlosen, zum prädestinierten Gang des Weltgeistes: das nennt Hegel Freiheit und alle 68er haben es hinterher gebetet. Wie herrlich frei sind wir, wenn wir uneingeschränkt bewundern, was ohnehin nicht zu ändern ist.

Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist: diesen Operettenschwindel will man uns als neueste Ausgabe der Freiheit verkaufen.

Von Anfang an hatten Erlösungspriester keine Probleme, die Herrschaft der Mächtigen mit dem Segen des Himmels zu stabilisieren – sofern sie an der Herrschaft beteiligt wurden. Obwohl der Klerus beider Konfessionen die geistlichen Türöffner des Dritten Reiches waren, gelang es ihnen – mit Hilfe christlicher Sieger – sich über Nacht als frisch gewendete Kanzelgarde der jungen Demokratie zu empfehlen.

Doch im Prinzip agierte man klugerweise hinter den Kulissen, um das Geschehen auf der Vorderbühne möglichst unauffällig mitzugestalten. Jetzt aber beginnt ein neues Kapitel, die Geistbegabten gehen selbst ans Ruder. Vor allem, wenn sie Söhne von Kapitänen sind.

Nun wird die Kohabitation von Thron und Altar vor aller Augen vollzogen. Die Operette der Freiheit verwandelt sich in eine Kantate für regressive Orgel mit monotoner Solotrompete.