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Donnerstag, 20. Dezember 2012 – Einfalt und Elite

Hello, Freunde des UN-Sicherheitsrats,

die 15 Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrats haben Israel aufgefordert, auf den Bau weiterer Siedlungen auf besetztem Boden zu verzichten. Außer den USA natürlich. Selbst Deutschland, das zu den vier europäischen Mitgliedern gehört, betonte, die Landnahme sei illegal und verhindere jede Chance auf friedliche Verhandlungen.

Der israelische UN-Botschafter erklärte, die Siedlungen seien nicht das Haupthindernis für den Frieden und forderte die Palästinenser auf, ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch zurückzukehren. (Israel stellt nur Vorbedingungen an Hamas.) Ban ki Moons Stellvertreter nannte die Baupläne einen „beinahe tödlichen Schlag“ für weitere Friedensverhandlungen. Als Reaktion auf die Aufwertung der Palästinenser hatte Israel auch Steuergelder und Zölle einbehalten.

Wie wär‘s mit einer radikalen Wende der internationalen Strategie der UN? Da man weiß, wie das Heilige Land auf Gojim reagiert – es tut immer das Gegenteil von dem, was die Welt will –, sollte man das pädagogisch bewährte Mittel der paradoxen Intervention anwenden.

Die Völkergemeinschaft sollte mit Inbrunst erklären, dass alle besetzten Gebiete den von Gott legitimierten Besatzern gehören und dass Jerusalem das unbezweifelbare Recht hätte, fröhlich drauflos zu bauen. Dann werde das überflüssige und stets störbereite Volk der Palästinenser rechtzeitig seine Zukunft in Jordanien und anderswo erkennen, sich bei den Israelis dafür entschuldigen, dass es 2000 Jahre lang das unbewohnte Land ohne Gottes Erlaubnis besetzt hielt, werde noch dabei helfen, bei Hungerlöhnen die schicken Villen mitten Urwald zu errichten und sich anschließend geräuschlos aus dem Staube machen. Empört über diesen

beispiellos zynischen Vorschlag der Welt würde Israel sogleich alle Gebiete räumen, sich auf Jahwes Gebot berufen: „Einen Fremdling sollst du nicht schinden noch bedrücken, ihr seid ja auch Fremdlinge gewesen in Ägypten“.

(tagesschau.de zur breiten Kritik an Israel)

 

Von wem ist die Rede? „Da handelt ein von Grund böser, ein Abgrundböser“. Er sei „prall des bösen Willens.“ Das geltende Recht schöpfe „er satanisch unermüdlich aus – nimmermüde wie eben nur ein Satan.“ – Von einem Richter des BVG, von Stalin, Lukaschenko oder von einem kreuzbraven Kapitalisten, der in einem ordentlichen Verfahren Recht bekommen hat?

Schriftsteller kokettieren am liebsten mit dem Bösen – in ihren unsterblichen Werken. Den Bösen in realer Gestalt hassen sie wie den Gottseibeiuns. Ein Satan ist jemand, der das Recht nimmermüde ausschöpft. Jetzt wissen wir, dass dieser Satanismus in juristischen Fakultäten gelehrt wird, die mit Feuer und Schwefel gesäubert werden müssten. Leutheusser-Schnarrenberger ist die Obersatanistin, die ihre gottlosen Unterteufel aufhetzt gegen Geist und Genie.

Nach den Religionen erheischen nun auch die Kreativen einen rechtsimmunen Sonderbereich jenseits von Gut und Böse. Dichter und Denker stehen über dem Gesetz. Wer die Kultur Deutschlands verkörpert, für den gelten ordinäre Steuergesetze nicht mehr. Der besitzt einen Freifahrschein durchs wilde Germanistan.

Deutschlands letzte Stunde als kulturelle Nation wird eingeläutet. Virtuosen der Feder werfen sich ins Getümmel, um eine Dame zu retten, die gegen das Recht verstoßen hat. Geistlose Menschen würden von einer Wirtschaftskriminellen sprechen.

Die Religionen meinen es gut mit ihren Sonderrechten, in ihrem Herzen ist kein Arg. Die Geistbegabten meinen es gut mit ihren angemaßten Sonderrechten, sie verteidigen nur den kulturellen Ruf ihrer Nation.

Zarathustra hat diese sehr freien Geister schon vor 150 Jahren beschrieben:

„Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel….“

Mit dem Pfeil und Bogen gehen sehr freie Geister auf die wilde Jagd gegen unfreie Tröpfe, die sich noch an das Gesetz halten, aber nicht mehr wissen, was ein Buch ist.

(SPIEGEL: Suhrkamp-Autoren in Aufruhr)

 

In Indien wächst eine Partei „des einfachen Mannes“. Mit Frauen scheinen die Inder Probleme zu haben. Wie wär‘s mit Partei der „einfachen Leute“? Die Eliten der Welt haben fertig. Up, up and away. Die Partei, in der sich Straßenkehrer, Unternehmer, Rechtsanwälte und Offiziere vereinen, will eine Revolution. Die Parteimitglieder wollen Indiens 60-jährige Demokratie erneuern. „Die Gesetze werden nur für die Reichen gemacht,“ sagt Tanwar und klagt über miserable Schulen, steigende Preise und korrupte Beamte.

Die einfachen Leute fordern Ordnung, Ehrlichkeit und Rechtsstaat. Rund die Hälfte der Inder ist unterernährt, noch mehr leben in Armut. „Die größte Demokratie der Welt hat die AAP bitter nötig.“ Das Motto der Partei: „Nur das einfache Volk kann die Gesellschaft ändern.“ Bei uns hieße das populistische Rattenfängerei.

(Georg Blume in der TAZ)

Bei Marx waren die einfachen Leute die Proleten. Wenn sie nichts mehr zu verlieren haben, werfen sie die Ketten ab, verjagen und töten die Ausbeuter und erringen das Himmelreich auf Erden.

Die Proleten sind Erben der Sanftmütigen, die das Erdreich gewinnen werden. Aber nicht aus eigener Kraft. Bei Marx ist es die Geschichte, bei den Sanftmütigen die Heilsgeschichte, die die Schicksalsmächte vorantreiben.

Die Proleten, die Sanftmütigen, stehen auf der richtigen Seite der Geschichte und sind die Gewinner derselben. Sie sind die Erfolgreichen, die am Ende den hochnäsigen Verlierern signalisieren: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Streng genommen sind sie die Cleversten, die Schlauesten, die am meisten den siegreichen Geschichtsmächten angepasst sind.

Die Vornehmen, Reichen und Mächtigen sind die Verlierer, die am Ende das Nachsehen haben. Sind nicht die einfachen Leute die Schlauesten, und die Eliten die betrogenen Betrüger?

Urtyp des betrogenen Betrügers ist der Teufel, anfänglich der Schlaueste, dann der Dümmste. So wird’s den Kapitalisten gehen, also sind sie die Verkörperung des Teufels. Wenn der Kapitalismus teuflisch ist, ist er der große Motivator der Menschheit, die ohne ihn auf der faulen Haut herumläge. Der Teufel muss den Menschen anstacheln, damit das Bruttosozialprodukt bis in den Himmel steigt. Hat er das Ziel erreicht, muss er abtreten und wird als düpierter Gesamtverlierer verlacht.

Lohnt es sich überhaupt, solch clevere Dummbacken ernst zu nehmen? Verlieren werden sie auf jeden Fall. Sollten wir ihre Niederlage nicht schon jetzt mit einem Gläschen Ouzo begießen? Tja, wenn die Heilsgeschichte für uns die Arbeit erledigte, könnten wir über ein vorgezogenes Halleluja reden. So aber hängt alles von uns ab und niemand kann wissen, ob wir Erfolg gegen die Ausbeuter haben werden. Schon gar nicht, wann.

Die Partei der einfachen Leute – das klingt verlockend, wenn man sieht, wie die komplexen Leute gerade dabei sind, ihren globalen Gesamtbankrott anzumelden.

In revolutionären Theorien lautet eine Hauptfrage: wer ist Subjekt der Revolution? Und wer muss aussortiert oder platt gemacht werden?

Bei revolutionären Schreibern war die Hauptfrage: Für wen schreibst du? Welches Publikum willst du erreichen? Hätte jemand die Einfalt besessen, zu sagen: für den Menschen an sich, den leidenden, liebenden, hoffenden, sich fürchtenden, hätte man ihn als Einfaltspinsel ausrangiert. Den Menschen gibt es nicht für die Verächter universeller Moral. Es gibt nur interessierte Klassen, antagonistische Schichten, partiell Wollende.

Etwas, das alle vereint, ist ausgeschlossen. Entweder die einen oder die andern. Weshalb es auch keine universelle Moral geben kann. Was dem einen gut dünkt, ist dem andern Bullshit. Solche Schwarz-Weiß-Unverträglichkeiten entstammen religiösen Dualismen. Dual ist Zwei. Zwei unverträgliche Gegenkräfte, Gott und sein Widersacher, rangeln um den Endsieg. Rate, wer gewinnt.

Im Irdischen aber sieht‘s noch immer so aus, als könnten die Teuflischen das Spiel machen. Wo ein Dualismus herrscht, kann‘s keine allgemeine Moral geben. In der westlichen Moderne herrscht ein mittelalterlicher Dualismus, der alle Moral der Demokratie über den Haufen wirft, die eine allgemeine ist. Alle Tugenden gelten für alle, alle Untugenden für die Bösen.

Eine allgemeine Moral ist nur für Einfältige einleuchtend und akzeptabel. Für Eliten (electus heißt ausgewählt, erwählt) sind Allgemeinheiten jeglicher Art schlimmer als nordkoreanische Erziehungslager. Für Vernunft gibt’s keine Ausnahme.

Alle Menschen sind gleich, denn sie sind Naturwesen. Gesetze der Natur gelten für alle Menschen, ob in Königspalästen oder in der Fischerkate. Wer Hunger hat, muss was essen, wer sich nicht geliebt fühlt, wird zum Menschenfeind.

Natürlich sind die Umstände verschieden, mit denen die gleichen Bedürfnisse befriedigt werden. Gleiche Bedürfnisse treffen auf ungleiche Befriedigungen. Wenn Gesellschaften für ungleiche Befriedigungen sorgen, wird aus dem gleichen Menschen ein ungleiches Wesen. Die ursprüngliche Gleichheit der angeborenen Bedürfnisse wird überlagert, überdeckt und verleugnet durch die Macht ungleicher Befriedigungen.

Ungleichheit setzt immer Macht voraus, denn nur ungleiche Macht kann ungleiche Bedürfnisbefriedigungen garantieren.

Gleichheit braucht keine Macht, denn jeder Gleiche erkennt sich in jedem und betrachtet ihn als Geschwister.

Ungleichheiten können nur durch Macht stabilisiert werden. Denn die Privilegierten haben ein schlechtes Gewissen, dass sie zu Unrecht bevorzugt werden. Die Benachteiligten fühlen sich überlistet, überrumpelt und wollen die frühere Gleichheit wieder herstellen. Wenn’s sein muss, mit Gewalt, die Gegengewalt provoziert.

In ungleichen Regimes gibt’s keine Geschwisterlichkeit. Allerhöchstens in derselben Schicht, aber auch da nicht auf Dauer. Denn der kalte Wind der Ungleichheit der Welt zieht durch alle Ritzen der Nestfamilie und sorgt – stets als Training für das erwachsene Leben getarnt – für anwachsende Geschwisterrivalitäten.

In Auserwähltenreligionen gibt es kein heiles Nest, das von Rivalität frei wäre. Von Anfang an geht der Riss durch Mann und Frau, Bruder und Bruder, Vater und Kinder, Herr und Knecht; Mensch und Tier, Götter und Gott. Eva ist schlauer, aber böser als der einfältige Adam. Kain hasst seinen von Gott bevorzugten Bruder. Einen Grund für die Privilegierung gibt es nicht. Es ist, wie es ist. Gott rechtfertigt sich nicht für sein divide et impera (Teile und Herrsche).

Das ist der Grund der Ungleichheit: wenn die Mächtigen sich unsicher in ihrer Macht fühlen, müssen sie ihre potentiellen Angreifer durch Ungleichheit gegeneinander ausspielen, sie teilen, um sie zu beherrschen. Würden sich alle Menschen zusammenschließen, hätten Götter und Tycoons keine Chancen. Ihr Regiment wird nur durch aufgespaltene und auseinanderdividierte Gegner garantiert.

Gott liebt Hierarchien, wo Schicht gegen Schicht, Klasse gegen Klasse antritt. In Gruppen der Gleichen gibt’s keine Priester und Alphamänner. Matriarchate waren Gruppen der Gleichen, die Urmütter herrschten nicht. Sie waren der natürliche Mittelpunkt der Gleichen.

Momentan werden Mütter den Kindern entfremdet. Frauen wollen keine Kinder mehr, weil sie gute Mütter und keine Vereinbarungskünstlerinnen des Unvereinbaren sein wollen. Lieber wollen sie keine als schlechte Mütter sein. Die Männer halten sich raus, sie wollen ihren hierarchischen Platz des Geldverdieners nicht verlieren. Sonst hätten sie gar nichts mehr zu bieten, fürchten sie. Ihren Erziehungskünsten trauen sie nämlich nicht.

Der Kapitalismus trennt Vater von Mutter, Mutter von Kind, Kind von Natur und Nachbarskind. In der christlichen Familie muss jeder gegen jeden um einen knappen Seligkeitsplatz kämpfen. Jeder, der selig werden will, muss seine natürliche Nestfamilie verlassen und dem übernatürlichen Herrn anhangen. „Und wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird’s hundertfältig nehmen und das ewige Leben ererben.“

Es gibt einen erbarmungslosen Kampf zwischen dem eifersüchtigen einsamen cholerischen Mann-Gott und der matriarchalen Nestfamilie. Jesus sagt ausdrücklich, wer seine wahre Mutter, seine wahren Brüder und Schwestern seien:

„Er antwortete aber und sprach zu dem, der es ihm ansagte: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er reckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter.“ ( Neues Testament > Markus 3,33 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/markus/3/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/markus/3/“>Mk.3,33ff)

Nur Rechtgläubige gehören zur wahren Familie. Nicht Nestqualitäten entscheiden, sondern Glaubensqualitäten. Das ist der Tod der Nestfamilie, an dem der Kapitalismus unaufhörlich arbeitet. Er wird am Ziel sein, wenn am Ende atomisierte Massen wenigen Clans gehorchen, die durch Macht und Geld, nicht durch Sympathie und Liebe zusammengeschweißt werden. Zusammenschweißen muss man alles, was durch natürliche Neigung nicht zusammenfindet.

Einfältig ist beschränkt, aber lauter. Eliten sind clever, aber verdorben. Die Oberen sind das verkehrte Spiegelbild der Unteren. Die Einfältigen vertreten die Moral, die Oberen verhöhnen dieselbe. Die Eliten haben bemerkt, dass ihr Renommee – in politischer, fachmännischer und moralischer Hinsicht – ramponiert ist. Also behaupten sie frech und dreist, sie hätten eine Vorbildsfunktion, der sie leider nicht immer nachkämen. Aber sie arbeiteten daran.

In Amerika ist die Vorbildfunktion der Reichen im christlichen Glauben begründet. Nur wer reich ist, kann barmherzige Werke tun. Es ist wie beim Ablass. Wer mehr Kohle hat, kann sich mehr gute Werke kaufen, die im Himmel deponiert sind, hinterlegt von Übertugendhaften, die mehr gute Werke produzierten, als sie selbst zum Seligkeitserwerb nötig hatten.

Luther wütete gegen den Ablasshandel, sein protestantischer Kollege Calvin führte denselben durch die Hintertür wieder ein.

Wer soll Subjekt der Revolution sein? Die Einfältigen sind gut und treu, doch die Machenschaften der Eliten durchschauen sie nicht und fallen auf deren fadenscheinige Verlockungen immer wieder rein. Sie müssten sich die Schlauheit der Oberen aneignen. Doch je listiger sie würden, je verschlagener würden sie – bis sie den Oberen glichen wie ein faules Ei dem andern. Bleiben sie aber einfältig, haben sie keine Chancen gegen die Beelzebubs. Denn die Listen des Teufels sind tausendfältig.

Die Eliten werden nichts ändern, sie haben zu viel zu verlieren. Die Unteren können nichts ändern. Sie sind zu einfältig, um sinnvolle Alternativen auszudenken und den Machtspielchen der Gewaltigen ein Ende zu bereiten. Tja, sieht gar nicht gut aus.

Für wen soll man schreiben? Die elitären Intellektuellen könnten verstehen, was man schreibt, doch das Verstandene werden sie verlachen und verhöhnen. Die Unteren würden alles verändern, wenn sie nur verstünden, worum es geht.

Schon bei Rousseau, der zurück zum einfältigen Wilden wollte, war der Knacks in der Definition des edlen Urmenschen: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen.“

Da will der calvinistische Katholik die Güte des natürlichen Menschen preisen und behauptet das genaue Gegenteil: unter den Händen des Menschen entartet der Mensch. Nur der Schöpfer – wie kann der Anhänger einer Naturreligion des Herzens einen Schöpfer voraussetzen? – garantiert die ursprüngliche Qualität des Menschen. Das ist keine Rückkehr zur Natur, sondern eine verschämte Rückkehr zum calvinistischen Schöpfergott.

Schon gar nicht ist mit dieser absurden Definition geklärt, wie ein „von Natur“ aus vollkommenes Wesen in der Gesellschaft zu einer Bestie entarten kann, die alle Kinder zu bestialischen Spiegelbildern macht. Zum mindesten hätte der Franzose den Grund angeben müssen, wo der Bruch eintritt zwischen unschuldigem Natur- und schuldigem Kulturstand.

In Rousseaus Zeiten kam die Idee eines edlen Wilden auf. Sie war das Gegenstück zum sündigen Heiden, der ohne zwanghafte Missionierung der Kirche in den Orkus kommt. Es war die Verteidigung des natürlichen Menschen, der sein Leben besser, ja humaner lebt als unter dem Diktat einer heuchlerischen Liebesideologie. Das Psychogramm des edlen Wilden sieht etwa so aus:

  • „ Ein Leben im Einklang mit der Natur;
  • Eine Gesellschaft ohne Verbrechen;
  • Vollständige Autonomie;
  • Unschuld und Idylle;
  • Abwesenheit des Lügens;
  • Gesundheit;
  • Ethische Integrität;
  • Sexuelle Freizügigkeit.“

Allein die sexuelle Freizügigkeit wird jeden christogenen Schöpfungsbewahrer davor zurückschrecken lassen, den edlen Wilden als ökologisches Vorbild zu nehmen. Lieber lassen sie die Natur untergehen, als unkeusch und lüstern zu werden. Das war das Ende der kurzen Liebesaffäre zwischen frommen Ökologen und den Wilden, die im Einklang mit der Natur leben.

Wenn Einklang mit der Natur mit sittlicher Verwahrlosung bezahlt werden muss, dann müssen die Braven erst ihre Pastoren befragen. Über die Antwort kann‘s kein Rätselraten geben.

Inzwischen waren die Völkerkundler auch nicht faul und haben herausgefunden, wie unedel diese Wilden in Wahrheit sind. Da wimmelt‘s nur so von Kannibalismus, Inzest und orgiastischen Exzessen. Wie wollen wir in Einklang mit der Natur kommen, wenn er sündiger sein soll als der Zwiespalt mit der Natur?

Endlich ist wissenschaftlich belegt, dass der natürliche Mensch eine Kloake voller Grauen ist. Dann bleiben wir doch lieber beim christlichen Zerstören der Natur, als natürlich zu werden und moralisch vor die Hunde zu gehen. Bei allem Zerstückeln der Natur sind wir noch immer anständig geblieben, sagte Himmler – oder verwechsle ich da was?

Jetzt noch ein kleiner Blick auf die Eliten, die gar nicht daran denken, gemäß der Natur zu leben. Sie würden ja alle Macht und Herrlichkeit verlieren. Ach so, den Geist haben wir vergessen, der ohne Macht und Herrlichkeit verloren ginge. Der Mensch ist nur Geist, wenn er sich von Natur unterscheidet. Er muss elitär sein, um Geist zu sein. Gleich zu sein wie andere, gleich zu sein wie Natur – das wäre das Grauen.

„‚Gemäss der Natur’ wollt ihr l e b e n ? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie  k ö n n t e t  ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen?“ Also sprach Zarathustra.

Lebenswertes Leben ist Unmoral, ist Ungleichheit. Auswählen, Ungerecht sein, Anders sein wollen: das ist das Leben der Elite, die sich vom Pöbel unterscheiden muss, um sich als extraordinär zu empfinden.

Auch die Griechen hatten eine Elite, die sich gegen das Heraufkommen der Demokratie zur Wehr setzte. Dort war es noch ein Zeichen der Aristokratie, etwas von Natur aus zu besitzen, was andere nicht besaßen. Körperwuchs, Stärke, Schönheit und Intelligenz. Wer nötig hatte, etwas mühselig zu lernen, zeigte, dass er zur Nobilität nicht gehören konnte.

Was nicht von Natur aus da war, war minderwertig. Lernen war Signum des Pöbels. Genies haben alles intuitiv in sich. Elitäre Fähigkeiten sind das Geschenk der Natur: dieser Geniebegriff stammt von Pindar, dem Elitendichter der Griechen.

Es war keine große Kunst, an die Stelle der Natur den Gott einzusetzen, sodass ein wahres Genie von der Offenbarung eines Gottes abhängt. Das wiederum war die Definition des Gläubigen, der dem Wort Gottes lauschen muss, um selig zu werden.

Beide, das Genie und der Christ, hielten nichts vom Lernen. Da wir heute nur von Genies und Christen regiert werden, ist Lernen ein ungenialer und unerleuchteter Vorgang geworden, für den man abscheuliche Schulen erfinden muss.

Wie komm ich jetzt zu meinem Fazit? Sagen wir so: die Revolution der Denkungsart wird nur von denen kommen, die Einfalt ohne Borniertheit mit Klugheit ohne gebrochenem Rückgrat zu vereinen wissen. Das wäre natürliche Intelligenz, die ihre Genialität durch natürliches Lernen zu erwerben wüsste.

Zu schwer? Das Schwerste ist das Einfache. Machen wir‘s uns einfach.