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Tagesmail

Donnerstag, 17. Januar 2013 – Küntzel gegen Augstein

Hello, Freunde der Studiengebühren,

ohne Studiengebühren gingen die Hochschulen unter, hieß es, als die Studenten zur Kasse gebeten wurden. Inzwischen sind die Gebühren fast vollständig wieder abgeschafft. Wofür wurden sie verwendet? Für Klo-Renovierungen, für ein Call-Center, Heizkosten, hochwertige Tische und Stühle, für ein Drachenboot. Für gar nichts: die meisten Gelder wurden gebunkert. Hunderte Millionen liegen ungenutzt auf Konten. Als Gegenwert wurde die Uni an die Industrie verkauft und in ein verschultes Drillsystem verwandelt.

Arne Ulbricht ist Lehrer für Geschichte und Französisch. Sein Referendariat schloss er mit der Note 3,5 ab. Er ist einer der vorbildlichsten Lehrer im Land: er ließ sich nicht verbeamten, sondern beantragte Entamtung. Er will nicht Teil eines Systems sein, das er nicht für gut hält.

Er hält nicht für gut, dass der Staat dicke Lehrer nicht beamtet, weil er deren mögliche Frühpensionierung bezahlen müsste. Ob auch Burn-out-Kandidaten und sonstige Neurotiker aussortiert werden, ist unbekannt. Wird aber noch kommen – nach psychologischer Routine-Tiefenuntersuchung.

Ulbricht hält es auch für falsch, dass Beamte nicht in die Rentenkasse einzahlen, später aber hohe Pensionen beziehen.

Beamte haben ein besonderes Treueverhältnis zum Staat, weswegen sie nicht streiken dürfen, sich auch sonst mit politischen Meinungsäußerungen zurückhalten müssen. Treue – das Unwort des nächsten Jahres. Heißt auf Deutsch: Gehorsams-Abo und Klappe halten.

Womit klar ist, warum unsere Jugend so unpolitisch ist. Von treuen Untertanen, die

ihre Obertanen nicht kritisieren dürfen wird man im Fach Zivilcourage nachhaltig beschädigt. Lehrer müssen die Meinungen der Kultusbürokratie vertreten, niedergelegt in obrigkeitlich bereinigten Schulbüchern. Ihre eigenen Meinungen – sofern es sie noch gibt – haben sie an der Schulgarderobe abzugeben. Sie wagen es nicht, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, und wenn doch, machen sie den Abgang.

Seitdem in Preußen die staatliche Pflichtschule eingeführt und wehruntaugliche Militär-Veteranen als Lehrer in die ersten Klippschulen abkommandiert wurden, die den Nachwuchs mit der Weidengerte zu erziehen hatten, hat sich nicht viel getan. Nur die Gerte wurde in Notengebung verwandelt. Aus schwarzer Pädagogik wurde eine dunkelgraue. Beamte sind Diener von Beamten, keine Diener der Wahrheit.

(SPIEGEL-Interview von Heike Sonnberger mit dem Pädagogen Arne Ulbricht)

 

Zivile Religion nennt man in Amerika die Dominanz der Puritaner über das ganze Land. Gott segne Amerika, muss jeder Präsident bei der Vereidigung deklamieren. Welcher Gott? Der allgemeine Gott, von dem sich alle Religionen angesprochen fühlen. Religionen sind mit allen Religionen vereinbar, denn sie predigen nur Liebe. Genau genommen aber ist es der calvinistische Gott, der aus Liebe erwählt und verwirft. Amerika ist en bloc erwählt, weswegen wir von Gottes eigenem Land sprechen.

Europäern ist dieser Erwählungsgedanke oft fremd. Für US-Amerikaner hingegen verbindet sich damit die Selbstverpflichtung, sich der göttlichen Erwählung und des Erbes der Vorväter würdig zu erweisen. Jede Generation von Amerikanern wird daraufhin neu geprüft. Dieses Motiv durchzieht praktisch alle Inaugurationsreden.“

Sagt eine deutsche Professorin in der FR, die noch nie davon hörte, dass es fast kein einziges europäisches Land gibt, das sich nicht als auserwählt empfunden hätte. Das letzte auserwählte Regime in Deutschland gab es gerade mal vor 80 Jahren. (FR-Interview mit Heike Bungert)

 

Avi Primor ist ein meinungsfreudiger Diplomat. Ein Widerspruch im Beiwort? Was er zu sagen hat, soll stets irgendwie kritisch klingen. Genauer besehen, gibt’s nur Floskeln. Zuerst wiegelt er ab, wie alle ausgefuchsten Profis:

„Von manch internationalem Beobachter werden die bevorstehenden Wahlen in Israel als schicksalhaft erachtet. In Israel selbst ist die Wahrnehmung eine ganz andere. Die meisten betrachten die Wahlen mit Gleichgültigkeit. Viele halten sie für längst entschieden.“

Was will er uns damit sagen? Nur keine Aufregung im Ausland? Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird? Was er selbst denkt, verrät er uns nicht. Er versteckt sich hinter Umfragen. Vergleicht man seine künstliche Abregung mit Äußerungen von Gideon Levy oder Uri Avnery, müssen die Herren in verschiedenen Welten wohnen, über die sie schreiben. Glaubt man, eine dramatische Situation nicht mehr verändern zu können, kann man apathisch, mutlos oder resigniert sein, aber bestimmt nicht gleichgültig.

Die israelische Gesellschaft gibt sich von Netanjahu nicht überzeugt, dennoch wird sie ihn wählen. Wie erklärt Primor diesen Widerspruch? Zwar würden die meisten eine Trennung von den besetzten Gebieten für richtig halten, nur könnten sie an die Realisierung dieser Lösung nicht glauben. Deshalb wählt man den, der das Gegenteil von dem macht, was man für richtig hält? Ist das höhere Diplomatenpsychologie?

Nein, Primor drückt sich davor, die Gespaltenheit der israelischen Seele zwischen rationalem Friedenswillen und emotionaler Ablehnung der Arabushim wahrzunehmen. Ihrem Bewusstsein nach sind die meisten Israelis rationale Pragmatiker, ihr Gefühlsleben hängt aber noch immer am biblischen Urgrund ihres jüdischen Daseins.

Das macht sie empfänglich für die Ideologie der Haredim. Einerseits lehnen sie sie ab, andererseits sind sie froh, dass die Frommen die alten heiligen Ziele vertreten. Eine Rollenverteilung wie beim guten und bösen Kommissar. Einer muss die Brutalitäten aussprechen, damit der andre den Sympathischen spielen kann.

„Mit Bedauern vermuten sie, dass es für eine friedliche Lösung keine glaubwürdigen Partner auf palästinensischer Seite gibt.“. Sie vermuten? Warum wissen sie nicht? Offenbar wollen die meisten Israelis – vermutlich aus schlechtem Gewissen – über ihre Nachbarn nichts Genaues wissen. Ihr Zwiespalt zwischen Ratio und Gefühl scheint sie auf der ganzen Linie zu blockieren.

Wenn man seinen Nachbarn nicht mal zutraut, dass sie Verhandlungen führen können, muss man sie insgeheim verachten. Die einzige ernstzunehmende Opposition, die Arbeiterpartei, klammert ohnehin die Palästinenser-Frage aus ihrem politischen Repertoire aus und behandelt nur soziale Fragen. Das ist die instrumentelle Pose der Verdrängung, um zu vertuschen, dass man die Netanjahu-Linie insgeheim für richtig hält.

Primor schreibt vom Dilemma der Linken. Es gibt kein Dilemma der Linken, auch sie wollen keine Friedensverhandlungen. Es ist das Dilemma der ganzen israelischen Gesellschaft, die vor sich selbst nicht weiter nach rechts driften will, innerlich es aber schon getan hat.

Primor erwartet von seiner Nation nichts mehr. Das sagt er nicht und versteckt seinen Pessimismus hinter Erwartungen an die Amerikaner – und Europäer. „Eine Lösung des Nahost-Konflikts können nur die USA erreichen“.

Wenn alles schief gehen sollte in Nahost, werden nicht die Israelis schuld dran sein, sondern die guten Freunde im Ausland, weil sie nicht den nötigen Druck auf Obama ausgeübt haben. Vergleicht man Primors Erwartungen an Deutschland mit den Nicht-Äußerungen hiesiger Israelverteidiger, die verbissen jede Kritik am heiligen Land als Antisemitismus abschmettern, müsste er die blinden Apologeten Israels energisch als falsche Freunde entlarven. Denn sie verhindern, was sie angeblich erreichen wollen: dass Israels Lage sicherer wäre, wenn es der Vernunft folgte.

Das ginge aber nur, wenn Deutschland und Europa wirklichen Druck ausübten. Kein selbsternannter Antisemitismus-Experte in Deutschland fällt wegen unmissverständlicher Kritik an Netanjahu positiv auf. Zwar beteuern sie, Kritik am Land sei erlaubt, sie selbst aber halten sich beim Kritisieren vornehm zurück. Von Hintergrundanalysen und Erklärungsversuchen kann ohnehin keine Rede sein.

Primor müsste die deutschen Juden und die ganze Merkelriege aufs schärfste kritisieren und Augstein aufs höchste loben. Nur wenn Deutschland aus vielen Augsteins bestünde, würde ein realer Druck auf die Netanjahu-Regierung verübt werden. Dass Primor diese Folgerungen nicht zieht, beweist, dass er immer noch mehr Diplomat als Staatsmann ist.

Seine Hoffnung klingt wie Pfeifen im Walde: „Sollten sich die Amerikaner für ein verstärktes Engagement entscheiden, dann bräuchten sie angesichts ihrer aktuellen relativen Schwäche die Unterstützung der Europäer. Genauso wie die Europäer die Amerikaner für eine Nahostlösung brauchen.“ (Avi Primor in der BLZ)


Ein Paradebeispiel für die Israel-Verdrängung hiesiger Antisemitismus-Experten ist der Kommentar von Matthias Küntzel in der WELT.

Dezenterweise beginnt er seinen Artikel über den Antisemitismus Augsteins mit einer Rückschau auf die Rede dessen Vaters in der Paulskirche, in der Martin Walser von Auschwitz als Moralkeule gesprochen hatte. Diese Rede brachte ihm das Prädikat Antisemit ein. Eine nette Sippschaft also, will Küntzel andeuten. Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Pikanterweise galt auch der zweite Vater, Rudolf Augstein, als Antisemit. Da stand Jakob wohl unter der Macht falscher Gene.

Dass Auschwitz und der Holocaust vielfältig als „politische Keule“ benutzt werden, pfeifen die Spatzen von den Dächern, nur nicht die deutschen. Finkelstein, jüdischer Soziologe aus New York, dessen Eltern Auschwitz überlebten, darf Israel nicht besuchen, weil er ein Buch über die Holocaust-Industrie geschrieben hat. Auch Chomsky und anderen Kritikern des Landes ist die Einreise verwehrt. Ein klarer Beweis für die Haltung Jerusalems, Kritik an seiner Politik als Gotteslästerung zu betrachten.

Das kann nicht weiter verwundern. Wenn unfehlbare Gläubige das Sagen haben, beanspruchen sie den Status der Unfehlbarkeit. Jerusalem nähert sich immer mehr der vatikanischen Theokratie an. Sollten die Extremrechten am Dienstag die Wahl haushoch gewinnen, hat Eretz Israel alle Chancen, seine „Identität mit dem Angreifer“ – dem Iran nämlich – unter Beweis zu stellen.

In der Binnendebatte ist es üblich, alle jüdischen Kritiker Israels entweder zu verschweigen oder als Selbsthasser aus dem Wege zu räumen. Dass dies gelingt, ist vor allem die Schuld des deutschen Medienkartells – vor allem des Springer-Verlags, der seine „Treue“ zum Land Israel als blinde Nibelungentreue definiert und kaltblütig zuschaut, wie das „Objekt“ seiner verblendeten Loyalität sich immer mehr in eigenen Widersprüchen verrennt.

Nach der Walser-Rede gab es Ovationen vom ganzen Publikum, mit Ausnahme von Ignatz Bubis, der von geistiger Brandstiftung sprach. Küntzel: „Heute gilt als sicher, dass Bubis damals im Recht war, die Masse der Claqueure hingegen nicht.“ Die Masse der Claqueure bestand nur aus der Creme de la Creme der deutschen Politik und Literatur. Auch der damalige Bundespräsident Herzog zählte zu den Horden der „bezahlten Applaudierer“ – so die Definition von Claqueuren.

Einmal unfehlbar, immer unfehlbar – wenn man zur Riege der Rechtgläubigen gehört. Auch in der Augstein-Debatte applaudierte die Mehrheit dem Walser-Sprössling, und siehe: sie liegen wieder falsch. Konstatiert kühl und objektiv Küntzel.

Im ganzen Artikel geht Küntzel mit keinem Wort auf die Lage Israels ein. Er fegt nur alle Augstein-Formulierungen vom Tisch. Kein einziges Sätzchen des SPIEGEL-Kolumnisten wird von ihm als koscher eingestuft.

Wenn ein Mensch eine Situation völlig falsch einschätzt, muss er als Paranoiker eingestuft werden. Schon verwunderlich, dass Paranoiker Augstein in der deutschen Medienlandschaft eine so bedeutende Rolle spielt. Mit BILD-Blome veranstaltet er Streitgespräche, im SPIEGEL darf er regelmäßig seine Meinung unters Volk bringen. Beim FREITAG ist er Herausgeber und Chefredakteur.

Wahrheit ist die Übereinstimmung von Behauptungen mit der Wirklichkeit. Soll eine Position falsch sein, muss nachgewiesen werden, dass deren Thesen mit der Realität nicht übereinstimmen. Küntzel geht dieser wissenschaftlichen Überprüfungsmethode aus dem Weg. Da er seine Sicht Israels verschweigt, bleibt unerfindlich, warum Augstein in allen Punkten irren soll.

Küntzel tritt keinen einzigen Wahrheitsbeweis an. Er konstatiert, was Sache ist und also ist sie so. Wenn er Augstein a priori für einen schlimmen Finger hält, muss das so sein, weil ER das sagt. Nein, Augstein sei kein Kritiker, sondern ein offen hetzender Antisemit vom Schlage Haider, ja von der Qualität Ahmadinedschad. Als Begründung wird ein Zitat Augsteins angeführt:

„Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen“, behauptet Jakob Augstein und bringt damit nicht nur jüdische Strippenzieher ins Spiel, die „unsere“ Politik klammheimlich bestimmen. Gleichzeitig wird mit dem Verb „sich beugen“ das Bild des „Erfüllungspolitikers“ evoziert: Der Jude kommandiert, der Deutsche kuscht.“

Ja und? Ist es so oder ist es nicht so? Küntzel belegt nicht, dass Augsteins Attacke die Realität verfälscht. Er belegt überhaupt nie etwas empirisch. Die Wahrheitsdefinition der Übereinstimmung von Sätzen mit der Realität scheint ihn nicht die Bohne zu interessieren.

Welche Wahrheitsidee hat er? Darüber spricht er nicht. Dennoch ergibt sich seine Definition aus seinen Aussagen unmissverständlich: wahr ist für Küntzel, was Küntzel für wahr hält. Realitäten kümmern ihn nicht. Er agiert ganz im Sinne Hegels, der bei Nichtübereinstimmung von Tatsachen mit seinen Ideen behauptete: umso schlimmer für die Tatsachen.

In seinem Antisemitismus-Register schaut Küntzel nach, was je als Antisemitismus galt, dann zieht er seine Indizien-Schlüsse. Was sind seine Indizien? Alles, was jemals als Antisemitismus galt, ist immer noch Antisemitismus. Alles, was selbsternannte Experten als Antisemitismus definierten, gilt für alle Ewigkeit. Alles, was nach Sprachgebrauch der Nationalsozialisten oder sonstigem Antisemitismus klingt, ist auch heute Antisemitismus.

Beispiel: Wenn Berlin alles tut, was Jerusalem verlangt, nennt Küntzel die Kriecherhaltung Erfüllungspolitik: „Der Jude kommandiert, der Deutsche kuscht.“ Als Erfüllungspolitiker wurden Weimarer Politiker von damaligen Chauvinisten diffamiert, da sie allzu bereitwillig die Forderungen der Westmächte erfüllt hätten. Hier ging es mit keinem Jota um Beziehungen zwischen Deutschen und Juden. Was das mit Antisemitismus zu tun haben soll, bleibt schleierhaft.

Wenn Küntzel die Formulierung „der Jude“ benutzt, tut er, was sich kein Nichtjude erlauben dürfte. Denn den typischen Juden soll es nicht geben. Hier waltet ein doppelter Standard in der Wortwahl. Was Zeus geziemt, geziemt noch lange keinem Hornochsen.

Bestreitet Küntzel die unbestreitbare Tatsache, dass Jerusalem die deutsche Regierung voll im Griff hat? Das sieht die ganze Welt so, nur Küntzel gibt sich geheimnisvoll, als hätte er spezielle Offenbarungen. Würde man ihm vorhalten, er habe sich dazu geäußert, könnte er zu Recht dementieren. Er verschweigt seine Meinung. Aber so, dass jeder Mensch assoziiert, er hätte sich geäußert.

Es ist die bekannte Analytiker-Patienten-Situation. Der Analytiker deutet an. Zieht der Patient seine Schlüsse, waren es seine eigenen Projektionen, die ihn zum Fehlschluss führten. Der Analytiker hatte gar nichts gesagt.  

Uri Avnery beschreibt Merkels Haltung gegenüber Netanjahu als Fußmatten-Haltung. Nicht nett, aber wahr. Jüdische Selbsthasser sind in der innerdeutschen Debatte nicht zugelassen. Wer hat‘s verboten? Die einheimischen Israelapologeten, die jeden antisemitischen Kläffer weit vor den Toren Jerusalems zum Teufel jagen. Überhaupt ist es unschicklich, ja antisemitismus-verdächtig, sich auf israelische Selbsthasser zu berufen und sie als Hofjuden der eigenen Meinung zu missbrauchen. Alles steht generell unter Antisemitismus-Verdacht, was nicht mit der unfehlbaren Meinung übereinstimmt.

Wir befinden uns auf religiösem Boden. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Auf diesem Boden lässt sich kein Dialog führen. Dialoge gibt’s nur auf gleicher Augenhöhe. Benutzt Augstein das Wort Lachen im Zusammenhang mit der israelischen Regierung, geht’s natürlich sofort um „infam lachende Juden“. Darunter macht‘s Küntzel nicht: wenn Augstein NS-Vokabular benutzt, muss er deren Ungeist vertreten.

Die Deutschen stehen auf derselben Stelle wie ihre verbrecherischen Vorväter. Die Zeit ist kein bisschen fortgeschritten, eine sonst so erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung hat‘s nie gegeben. Augstein war vor kurzem noch Wiedergänger Streichers.

Juden beschweren sich über Klischeebildungen, die ihrer Individualisierung nicht gerecht würden. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht richtig. Keine Nation ist so individualisiert, dass sie keine statistisch nachweisbaren Nationaleigenschaften hätte. Klischees sind nicht per se falsch, auch nicht automatisch diskriminierend.

Natürlich dürfen die Protokolle der Weisen von Zion nicht fehlen, um unliebsamen Kritikern Verschwörungstheorien zu unterstellen. Verschwörungstheorien sind Thesen. Ob sie falsch oder richtig sind, muss ein Vergleich mit den Fakten ergeben. Sind zu wenige Fakten vorhanden, muss die Frage der Wahrheit offen bleiben. In deutschen Medien hat sich die Idiotie breit gemacht, eine These als Verschwörung zu kennzeichnen und schon ist sie klaftertief beerdigt.

Der blanke Sprachgebrauch, unabhängig von allen Realitäten, erweist seine eigene Wahrheit oder Unwahrheit. Tabellen der NS-Sprache werden hervorgeholt und eins zu eins verglichen: Fall erledigt, Indizien überwältigend. Man könnte – aber dies wäre sicherlich besonders antisemitisch – jede Verschwörungstheorie daraufhin befragen, wer sie in Umlauf gesetzt hat, um zu schauen, wer sich ihrer in frevelhafter Weise bedient. Jede angebliche Verschwörung könnte Spielmaterial sein, um bestimmte unliebsame Äußerungen unter Quarantäne zu stellen. Doch das wäre so verrucht, dass wir diese Vermutung nur rein theoretisch und unhörbar vor uns hin murmeln.

Dass Israel im Mittelpunkt vieler Weltprobleme steht, kann nur dementieren, wer gleichzeitig dementiert, dass Jerusalem seit „5 Jahrzehnten“ die Außenpolitik Amerikas bestimmt. Das wird nicht nur von Uri Avnery behauptet. Erstaunlich, dass deutsche Juden sich nicht herbeilassen, mit israelischen Juden zu streiten, die ganz anderer Meinung sind als sie. Man erfindet für sie ein Giftwort wie Selbsthasser, schon sind sie aus dem Rennen.

Augstein schreibe allzu oft vom „Gesetz der Rache“, das die israelische Politik prägen würde. Das sei ein antisemitisches Stereotyp. Stereotypien sind wie Klischees nicht a priori falsch. Offenbar hat Küntzel noch nicht bemerkt, dass die Ultras dem Tanach (dem Alten Testament) verpflichtet sind und expressis verbis Tanach-Politik betreiben.

Und wer will Jahwe selber Lügen strafen, der sich als Gott der Rache bezeichnet? „Du Gott der Rache, o Herr, Gott der Rache, erscheine“. (Ps. 94,1) Um paritätisch auch das Neue Testament zu erwähnen: „Die Rache ist mein, spricht der Herr.“ (Röm. 12,19) Küntzel müsste schon den biblischen Gott widerlegen, bevor er Augsteins Diagnose widerlegen kann.

Alle Augstein-Äußerungen über die atomare Gefährlichkeit Israels sind selbstverständlich allesamt „nicht belegt.“ Belege für seine Behauptung legt Küntzel nicht vor. Wie immer dekretiert er, und also ist es.

In diesem Zusammenhang darf Augsteins „Hauptklischee“ nicht fehlen, Israel würde die Feindschaft der Völker selber provozieren: „Der Jude macht es eben selbst, dass die Welt ihm immer feindseliger wird“. Da wäre Küntzel die Lektüre des Buches von Avraham Burg „Hitler besiegen“ empfohlen, der – und nicht nur er – von der Paranoia der israelischen Gesellschaft spricht, die eben jene Feindschaft gegen die Gojim der Welt erzeugen müsse, die sie dann heldenhaft im Namen des Herrn zerschlagen dürfe.

In der SZ ist ein Bericht über Burg erschienen, der in Israel zum bevorzugten Objekt „öffentlicher Hasstiraden“ geworden ist. Burg nimmt kein Blatt vor den Mund, wie er seine Heimat sieht:

„In seinem Buch vergleicht Burg das Israel der Gegenwart mit dem Vorkriegsdeutschland der Weimarer Republik. Der Judenstaat, schreibt er, sei zu einem „Zionistischen Ghetto“ geworden, innerhalb der israelischen Gesellschaft herrsche „Bunkermentalität„. Oder auch einfach: Rassismus. Israel sei wie ein missbrauchtes Kind, das zu einem gewalttätigen Vater geworden ist. Schuld daran habe nicht zuletzt die „überkommene Idee des Zionismus“. Ein jüdisch definierter Staat könne keine Demokratie sein, sagt Avraham Burg. Und geht noch weiter: Das Rückkehrrecht eines jeden Juden müsse überdacht werden.“

(J.A.Heyer im SZ-Gespräch mit Avraham Burg)

Unter kritischen Israelis sind das Banalitäten und Trivialitäten. In Deutschland aber stehen solche Äußerungen unter Ketzerverdacht.

Küntzel, in heiligem Zorn und Eifer, die realen und potentiellen Feinde Israels schon im Vorfeld zu zerschlagen, sieht vor lauter antisemitischen Bäumen nicht die israelische Wirklichkeit.

Avi Primor verlangt mehr Druck von Europa auf die Regierung in Jerusalem. Herr Küntzel hingegen unternimmt alles, um den spärlichen deutschen Druck auf Israel wieder in Nichts aufzulösen. Danksagungen der Netanjahu-Regierung werden Küntzel schon erreicht haben.