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Tagesmail

Donnerstag, 05. Januar 2012 – Gnade und Paragraphen

Hello, Freunde der deutschen Weltgeltung,

ihr dürft frohlocken. Wer ist heute in China der populärste Wirtschaftstheoretiker? Ein Deutscher. Kein Angelsachse. Wer ist heute der populärste Vertreter der politischen Theorie in Asien? Ein Deutscher. Kein Angelsachse.

Wie sehen deutsche Eliten die herausragende Charaktereigenschaft der Chinesen? Als „Konfuzianismus mit deutschen Eigenschaften“. Wie sehen deutsche Stimmen die globale Wirtschaft? Nein, nicht als Win-Win-Situation, wie angelsächsische Weltbeglücker, sondern als Clash der Zivilisationen im Zusammenstoß eines östlichen und westlichen Kapitalismus. Das Ziel Asiens sei die Vorherrschaft. Es wolle führen, nicht folgen.

Der Amerikaner Tony Corn warnt die Deutschen vor Großmannssucht, sie seien gerade dabei, dieselben Fehler wie vor dem ersten Weltkrieg zu begehen. Für Europa zu groß, für die Welt zu klein, das sei das Problem deutscher Trampel- und Tölpeldiplomatie.

Wenn Kant und Konfuzius, preußische und chinesische Arbeitstugenden sich zusammenschlössen, könnte man das angeschlagene Amerika vergessen. Davor zittern die transatlantischen Weltherrscher im Niedergang. An Friedrich List und Carl Schmitt, den beiden Denkerexporten für nationalegoistische Ökonomie und autoritäre Politik, könne man die wahren Beweggründe deutscher Eliten von heute erkennen.

Deutschland könnte mit China nur mithalten, wenn es endlich das wahre Problem erkennen würde. Nicht die Ökonomie, es ist die Demographie. Solange das Land der europäischen Mitte schrumpft und keine Einwanderer zulässt, könne es

die Rolle als Spieler in der ersten Reihe vergessen. Macht’s wie die Franzosen, macht viele kleine Kinderlein, die nicht nur eure Rente bezahlen, sondern euch zur Weltgeltung verhelfen.

Doch Tony Corn scheint übersehen zu haben: sollte der wahre Grund der deutschen Kinderfeindlichkeit – eine versteckte Kinderfreundlichkeit sein? Will man hierzulande keinen Nachwuchs als rein instrumentelles ökonomisches Humankapital? Will man keine Kinder als bloße Agenten eines wachsenden Bruttosozialprodukts? Vielleicht will man den Kindern nicht jene Zukunft zumuten, die von ihren Eltern als desaströses Gesamtkunstwerk zusammengebraut wird?

Doch merkwürdig ist es schon, dass zwei deutsche Namen Weltgeltung besitzen, die hierzulande keiner kennt. Carl Schmitt noch am ehesten, der in hiesigen Uniseminaren den Studenten unter die Weste gejubelt wird, als sei er der letzte Retter der Demokratie.

Tatsächlich wollte er das Volk – vor der Volksherrschaft retten. Durch Liebe zum Führertum und mittelalterlichen Katholizismus. Recht hat, wer Macht hat. Macht hat Gott und seine legitimen Stellvertreter, sei es als Priester- oder Führercharismatiker.

Es gilt als unfein, in den Seminaren an die Naziverstrickungen des fabelhaft „gescheiten Carlchens“ (so Ernst Jünger) zu erinnern oder gar die Frage nach seiner Demokratiekompatibilität zu stellen. Hat man die Vergangenheit nicht allmählich bewältigt? Also frisch und unbefangen ran an die runderneuerte Grandiosität.

Und wer war noch mal Friedrich List, der „gründlichste Kritiker des Laissez-faire-Kapitalismus“ und Begründer des „Neomerkantilismus“? Diese Fremdwörter taugen zu nichts mehr. List, Schwabe aus Reutlingen, wollte Deutschland als politisch-ökonomische Einheit auf demokratischer Basis. Er kämpfte für die Freiheit des Einzelnen, für verstärkte Kommunalverwaltungen.

Heute pflegt man ihn als überzeugten Liberalen zu charakterisieren, weil man den Begriff „Demokrat“ nach Möglichkeit meidet. Als erstes sollte der deutsche Flickerlteppich seine vielen Zollschranken einreißen, damit ein starker Binnenmarkt entstehe. Wegen Kritik an der Obrigkeit wurde List zu Festungshaft verurteilt, ging danach nach Amerika, trat für Schutzzölle ein, um den neuen, noch unterentwickelten Kontinent vor der englischen Konkurrenz zu schützen.

Zurückgekehrt in seine Heimat forderte er dasselbe für die noch nicht konkurrenzfähige deutsche Wirtschaft. Adam Smith warf er vor, zu sehr die Interessen der Einzelnen und der Menschheit in abstracto betont zu haben, zu wenig die faktische Machtrolle der Einzelnationen. Einzelne an sich, Menschheit an sich gebe es nicht. Individuen seien national organisiert, also müsse man erst die Macht der Nationen stärken, wenn man den Interessen der Einzelnen dienen wolle.

Dieser nationalstaatliche „Merkantilismus“ – Nation geht vor Menschheit – gilt heute durch die wirtschaftliche Globalisierung überholt. Echte Unternehmer und Kaufleute seien überall zu Hause, wo der Taler rollt. Ubi Profit, ibi patria. Wenn deutsche Arbeiter zu viel Lohn verlangen, ab nach Rumänien und weiter ostwärts bis China. Die Zentrale eines Multis könne überall auf der Welt sein, wo private Renditen in den Himmel steigen und Gemeinschaftspflichten klein geschrieben werden.

Ein cleverer Beckenbauer zieht nach Österreich, um ein paar Groschen Steuern zu sparen. Wenn es keine nationalen Schranken für die Expansion der Weltwirtschaft gäbe, würde die ganze Menschheit davon profitieren, sagen die Neoliberalen. Bei steigender Flut heben sich alle Boote.

Adam Smiths aufgeklärte Perspektive eines „Wohlstands der Nationen“ war gut gemeint, aber unrealistisch. Er, der den Egoismus des Einzelnen als Motor des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands sah, übersah den Egoismus der Einzelnationen, die miteinander um Macht und Einfluss konkurrieren und kein Interesse am Wohlstand der Nachbarnationen entwickeln.

Die Interessen Englands waren nicht die Interessen der Welt, die Interessen Amerikas sind es heute auch nicht. Wenn Gabor Steingart („Weltkrieg um Wohlstand“) diesen Aspekt heraushebt, hat er Recht. Allzu oft wurde der Menschheitsgedanke benutzt, um den Egoismus der starken Nationen zu bemänteln. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, sagt justament ein Carl Schmitt.

Wie lange war Amerikas Wille leitend für die Politik des IWF, der rücksichtslos die kleinen Not leidenden Staaten „unterstützte“, indem er deren Sozialprogramme zerstörte und den Weg ebnete für den triumphalen Einzug nordamerikanischer Konzerne?

Natürlich müssen kleine und schwache Nationalökonomien vor dem imperialen Einfluss mächtiger Staaten geschützt werden. Afrikas Landwirtschaft wird nie auf einen grünen Zweig kommen, wenn die Europäer mit billigen Einfuhren die zarten Schösslinge ihrer Binnenwirtschaft zertrampeln.

Wie verhält sich nationaler Egoismus zu internationaler Kooperation? Um nicht von weltweiter Solidarität zu reden, dem Zweck einer zukünftig friedlichen Weltgemeinschaft? An diesem Punkt steht Europa und kann das Problem nicht lösen. Nicht mal benennen. Herrscht erbarmungslose Konkurrenz zwischen den abendländischen Staaten, die ständig von Solidarität reden, im Zweifel aber gnadenlose Selbstsucht üben?

Deutschland war bis vor kurzem noch der gute Onkel Europas, der beim Streit der zänkischen Kinder den Geldbeutel zückte und jedem sein Scherflein gab. Bei Merkel ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Das Lied von der omnipräsenten Konkurrenz hat die Frau aus der DDR restlos verinnerlicht und weigert sich, die gutmütig-ausbeutbare Mutter Europas zu spielen.

Die Grundfrage ist: kann egoistisches und solidarisches Handeln verträglich sein? Adam Smith hatte das Problem früh erkannt und löste es mit seinem kindlichen Gottesglauben. Die Unsichtbare Hand würde Kollisionen souverän in Harmonie auflösen.

Sind die kleinen europäischen Staaten nicht die leichte Beute der germanischen Wirtschaftslokomotive? Wie können sie unsere Waren kaufen, ohne sich bei uns rettungslos zu verschulden, wenn sie nicht in gleichem Maß Eigenständiges anzubieten haben? Die Großen überfahren die Kleinen, tun aber, als seien jene gleichstark und gleichberechtigt.

Heute überfährt Deutschland die schwächeren Länder, wie es vom Westen einst selbst überfahren wurde. Nach dem ersten Weltkrieg hatte der amerikanische Präsident Wilson den Verlierern Menschenrechte und Großzügigkeit zugesprochen. Doch England und Frankreich überfuhren Wilson und führten Deutschland in Versailles gnadenlos vor. Das Ergebnis ist bekannt. Ein Nazijurist formulierte: Wer Menschheit sagt, will betrügen. Nein, betrügen will Frau Merkel auf keinen Fall, sie betet um das Erscheinen der Unsichtbaren Hand.

Wulff kann seine Interviewer nicht klar angucken: zurücktreten.

Wulff kann nicht Ich sagen, er benutzt das uneigentliche Man: zurücktreten.

In seinem Amt muss der „Präsidenten-Azubi“ noch dazulernen? Lebenslanges Lernen gilt nur für Arbeitslose: zurücktreten.

Er hat Gefühle gezeigt: zurücktreten.

Er hat sich als Opfer der Medien gefühlt: zurücktreten.

Er hat nix Neues gesagt, um neuerungswütige Gazetten zu füllen? Zurücktreten.

Er, der Begnadiger, hat sich selbst begnadigt: zurücktreten.

Wenn Prantl, Gaus, Jakob Augstein, Broder, SPIEGEL, BILD e tutti quanti einer Meinung sind, muss es a priori nicht falsch sein. Seltsam nur, dass die Begründungen – sofern vorhanden – sich zum Teil schreiend widersprechen und keine Edelfeder der andern ein Auge aushackt. Solche „selbstreferentiellen“ Kleinigkeiten sind kein Thema für kommentierende Rating-Zensoren.

Vox medii, vox dei? Wo bleiben die Medienwissenschaftler, deren Job es wäre, die versammelten Schreihälse der Republik unter die Lupe zu nehmen? Eine Vierte Macht der Vierten Macht gibt es nicht, höchstens als Sättigungsbeilage oder Leserbriefgirlanden.

Nur eine exemplarische Kleinigkeit, die kein Journalist zu erwähnen für notwendig hielt: Der Freund Geerkens war kein neuerworbener Karrierefreund, sondern bereits Freund des Vaters.

Kann es Freundschaft im Kapitalismus geben? Muss man als Politiker einem Freund 150 Euro pro Übernachtung anbieten, um keinen falschen Schein zu erzeugen, wie Bettina Schausten dreist in die Kamera flunkerte? Bettina, sofort zurücktreten.

Gibt es eine Privatsphäre für Politiker? Wo beginnt und endet sie? Kein Wort dazu, nirgends.

Ist es eine veritable Drohung, wenn Wulff einem Journalisten mit rechtlicher Klärung droht? Kann man mimosenhaften Schreibern mit dem Buchstaben des Gesetzes drohen?

In der Tat, der Angeklagte war bubihaft, unsouverän, einstudiert-weitschweifig, kalkuliert-ablenkend, demütig-arrogant. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Gott ist in den Schwachen mächtig, wer sich selbst richtet, wird nicht gerichtet werden: das ganze Psychorepertoire eines ökumenischen Konfirmanden.

Dass hier ein gelernter Vorzeigechrist gekonnt sein bigottes Handwerk zeigte, fiel niemandem auf, der vor dem Fernseher beinahe erbrochen hätte. Wen früher die heilige Inquisition in Kimme und Korn hatte, konnte dementieren, argumentieren und mit Engels Zungen reden, wie er wollte, er hatte keine Chance. Heute prasselt eine mediale Orgie unter dem Motto: Staatsschauspieler, du hast keine Chance, doch nütze sie, auf das fromme Land hernieder.

Jene Medien, die jahrzehntelang den Neoliberalismus abgesegnet und neonazistische Morde übersehen haben, die den aufkommenden juristischen Faschismus in Amerika nebenbei erwähnen und ihr verbrecherisches Schweigen zu israelischen Menschenrechtsverbrechen als unverbrüchliche Freundschaft und praktischen Philosemitismus ausgeben, die feiern heute kathartisches Oster- und Weihnachtsfest in einem.

Sie reinigen sich von all ihren Sünden, indem sie ein unbedeutendes Sünderlein zur Strecke bringen. Völlig klar, dass die beiden Hofberichterstatter Nr. 1 von ARD/ZDF mit auftrumpfenden Gesten zu Gericht sitzen dürfen. Völlig klar, dass sie von ihren schreibenden Kollegen mit keinem Satz unter die Lupe genommen werden. Völlig klar, dass sich hier eine gruppendynamisch aufgeheizte Prügelhysterie entlud, um sich von eigenen Unterlassungssünden zu entlasten.

Broder, sonst nicht faul, jeden antikapitalistischen Furz als sekundären Antisemitismus zu entlarven, hält Wulff für einen arrivierten Schnorrer, der nicht zu jenen gehöre, die „Deutschland tragen“. Die hätten selten Freunde mit einer halben Million. Indeed, das nennt man bekanntlich Kapitalismus, Herr Broder. Von dieser Sorte Abstauber soll es noch ne Handvoll in der Republik geben.

Jakob Augstein, dem der Stoff zur linken Kritik schmilzt wie Schnee an der Sonne und der in sogenannten Streitgesprächen mit einem BILD-Schreiber in Phönix herumalbert, muss gar die unterste Hölle Dantes bemühen, um den Erzschurken abzustrafen, der schlimmer sein muss als Stalin und Hitler zusammengenommen. Das ist beileibe nicht metaphernmäßig gemeint.

Nicht die Taten zählen, sondern „wie man damit umgeht“. Also wie man gekonnt Buße heuchelt. Wulff war ein miserabler Heuchler. Damit verriet er die ganze abendländische Heuchelinnung, deren kommentierende Kavallerie es ihm nie vergeben wird.

An vorderster Stelle Bußprediger Prantl, der zwischen Paragraphen und neutestamentarischen Demutsbegriffen savonarolisch-problemlos zu pendeln versteht. Als ehemaliger Staatsanwalt läutet er gern die Sünderglocke, wenn er gerade das Grundgesetz nicht unterm Arm trägt. In seinem Kommentar wimmelt es nur so von Gnade, Selbstbegnadigung und Buße.

Was reden wir über Laizismus, wenn Politiker und Schreiber bei öffentlich-rechtlichen Gottesdiensten in denselben Büßerbänken sitzen und dieselben Choräle schmettern? Unisono der Meinung, rechte Demokratie könne es ohne rechten Glauben nicht geben?

Es sind nicht die Politiker allein: ihre medialen Bodyguards und Scharfrichter erbarmen sich, wessen sie sich erbarmen und verfluchen, wen sie verfluchen. Oh Mensch, jawohl, wer bist du, dass du mit den Mittlern Gottes rechten willst? Sie benötigen Gefässe des Zorns und Gefässe der Ehre. Leser, Wicht und Kreatur: lass dich an ihrer Gnade begnügen.