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Dienstag, 31. Juli 2012 – Angst und Sicherheit

Hello, Freunde der Grenzwerte,

selbst in Biogemüse und –obst findet man immer häufiger unerlaubte Chemikalien. Das muss nicht mit dem Anbau auf dem Acker zu tun haben, sondern mit den verschlungenen Wegen der Verpackung, Lagerung, des Transports auf Lastern, in Containern, Schiffen, Flugzeugen. Überall wird gesäubert und mit Desinfektionsmitteln gereinigt. Kartoffeln laufen über ein Band, Kühe werden maschinell gemolken.

Kleinste Spuren genügen, um Natur mit Kultur in Zusammenhang zu bringen und zu verunreinigen. Die Labore fürchten um weitere Aufträge, wenn sie allzu rigide den Kopfsalat unter die Lupe nehmen.

Was tun? Ganz einfach die Grenzwerte erhöhen! Gesundheitliche Risiken bleiben unbekannt – denn sie werden nicht erforscht! Wozu hat man sonst Grenzwerte eingeführt, wenn man sie nicht nach Belieben verschieben kann?

 

Heribert Prantl ist einer der bedeutendsten Rechtskommentatoren der deutschen Medien. Eine moralische Kapazität, der neben seinem Job in der Chefredaktion der SZ in einem journalistischen Ausbildungsinstitut junge Nachwuchskräfte in der Kunst des Schreibens unterrichtet.

Nun hat er eine Sünde wider den Geist des Reportierens begangen und wird von Kollegen gezaust, nach dem Motto: dem Besten kann mal ein Fehler passieren. Aber nur einer, sonst könnten wir deutlicher werden.

In einem Porträt des Karlsruher Richters Voßkuhle beschrieb Prantl den angesehenen Juristen, als

sei er leibhaftig in dessen Küche gewesen, um ihn beim Vorbereiten eines abendlichen Essen zu erleben. War er aber nicht und der Beschriebene ließ sofort dementieren, dass Prantl sein Gast gewesen war.

Prantl entschuldigte sich mit dem Argument, er sei davon ausgegangen, der fiktive Charakter seiner Reportage hätte sich durch die Art seines Schreibens mitteilen müssen. Niemand sei betrübter wegen des Fehlers als er selber.

Vor einem Jahr wurde einem SPIEGEL-Schreiber der verliehene Nannen-Preis wieder aberkannt, weil er Seehofers Spielzeugeisenbahn beschrieb, als hätte er sie mit eigenen Augen gesehen.

(David Denk in der TAZ über Heribert Prantl)

Die Medien wollen nicht wahrhaben, dass sie sich in einer Grundlagenkrise befinden. Prantls Fall ist nur ein Symptom. Dabei ist es unwichtig, ob jemand etwas mit eigenen oder mit fremden Augen beschreibt. Vorausgesetzt, er erhebt keinen Anspruch auf persönliche Anwesenheit und macht die indirekte Methode seiner Beobachtung kenntlich.

Viel verhängnisvoller ist die Tatsache – was Prantls Zunftkollegen völlig unterschlagen –, dass sich zwischen Vierter Gewalt und den Repräsentanten der Eliten eine zunehmend persönliche Nähe bildet, die keine Gewähr mehr für distanzierte Beobachtung und Kritik bietet. Hans-Ulrich Jörges vom STERN wird nicht müde, seine Kollegen kritisch auf diese unprofessionelle Distanzlosigkeit hinzuweisen.

In Berlin gebe es keine Politikerparty, Geburtstagsfeier, wo Politiker und Medienvertreter sich nicht näher kämen, als der notwendige Mindestabstand zwischen Akteur und überprüfender Gewalt zuließe.

Das Schlimmste ist, dass die führenden Medien im selben geschlossenen Revier sitzen wie die Kaste der Politiker, denen sie diese verschanzte Selbstisolierung vorwerfen. Die Medien strecken ihre Fühler nur in Richtung der Mächtigen, Reichen und Berühmten aus. Ihr eigenes Publikum wird mit Lesenbriefen abgespeist, die sie nach Belieben zensieren. Ein Gespräch, eine Auseinandersetzung zwischen Presse und der Macht des Volkes findet nicht statt.

Brahmanen kommunizieren nicht mit dem ungewaschenen Pöbel. Die Leser dürfen die Antwortspalten der Zeitungen als Klagemauer benutzen, um ihre Meinungen in eine Mauerritze zu stecken. Auf Antwort der Götter warten sie vergeblich. Dass eine konträre Meinung aus der Shitstormmeute direkt neben dem kritisierten Artikel des Profis abgedruckt werden könnte, das halten die Monopolisten des Wortes offenbar für Blasphemie.

In der ganzen Beschneidungsdebatte wurden die Meinungen der Mehrheit nicht nur in den Untergrund gedrängt, sondern mit massivsten Antisemitismus-Vorwürfen bedroht.

Verteidiger des Rechtsstaates wurden als intolerante Vernunftfanatiker in die Kategorie historischer Torquemadas eingereiht. Wer nicht bereit ist, die Errungenschaften der Aufklärung kampflos preiszugeben, ist ein auferstandener Robespierre.

 

An dem Mormonen Romney wird immer deutlicher, in welchem Maß er wirtschaftlichen Wohlstand als Index göttlicher Auserwählung betrachtet. Auf seiner Goodwill-Reise durch die Welt machte er Station im Goldenen Jerusalem und verglich die Wirtschaftskraft Israels mit der der muslimischen Palästinenser. Es sei der „Kultur und anderen Umständen“ zu verdanken, dass das Pro-Kopf-Einkommen der Israelis doppelt so hoch sei als das des besetzten und unterdrückten Landes.

Mit „anderen Umständen“ kann er nur den religiösen Faktor gemeint haben, den offen auszusprechen er sich nicht traute. Zum Schaden der Opfer kommt auch noch der Spott der Sieger hinzu. Wer dem falschen Glauben anhängt, darf sich nicht wundern, dass er am Hungertuch nagt.

Ein Gesinnungsgenosse des frommen Republikaners hat das so formuliert: „Eher kommt ein Elefant durchs Nadelöhr als ein Armer in den Himmel. Ich liebe die Reichen und bestrafe die Armen mit Höllenqualen. An deiner Armut, die dir einen kleinen Vorgeschmack auf die Hölle liefert, bist nur du ganz allein schuld. Aber du kannst es schaffen, reich zu werden und in den Himmel zu kommen, wenn du meine Gebote befolgst.“

Also Palästinenser, Allah ausgewechselt und zur ultrarechten Religion übergelaufen, dann reden wir uns noch einmal!

(Sebastian Fischer und Christina Hebel über Romneys „Tour de Fettnapf“)

 

Der Wiener Robert Misik geht in seinem heutigen Wirtschaftskommentar dem Unterschied zwischen kreativer Unsicherheit und lähmender Angst nach. Allzu lange wurde von neoliberalen Dogmatikern das Sicherheitsbedürfnis der Deutschen als Vollkaskomentalität verhöhnt. Der Leistungsträger der Zukunft, erklärten sie, nehme freudig Risiken auf sich, um ein neues Produkt, eine Erfindung, die Ausweitung seiner Firma zu testen und zu höheren Profitraten vorzudringen. Selbst zu den Punks sei die Ideologie des riskanten Abenteuers vorgedrungen: no risk, no fun.

Doch seit den Finanzkrisen grassiere das Gefühl zunehmender Unsicherheit. Es wirke wie eine tägliche Dosis Gift. Immer öfter würden wir Leuten begegnen, denen die Angst aus allen Poren dringe. Angst, ob sie noch die nächste Miete zahlen können. Ob das Ersparte für die Rente reiche, ob die Ausbildung der Kinder gesichert sei.

Ein US-Ökonom hätte den erstaunlichen Satz gesagt: „das Wichtigste wäre jetzt, den Menschen wieder das Gefühl von Sicherheit zu geben. Im Augenblick würden Konjunkturprogramme verpuffen. Die Leute würden auf ihrem Geld sitzen bleiben.“

Misik zitiert den berühmten Satz Roosevelts: „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst“, den er auf dem Höhepunkt der Großen Depression in den 30er Jahren sagte. Gefühle seien ökonomisch nicht neutral, sie wirkten wie selbsterfüllende Prophezeiungen.

In der Tat, das verhält sich wie im Leben überhaupt. Sag mir, woran du glaubst, und ich sage dir, wie du dein Leben gestaltest. In der Medizin spricht man von Placebos und Nocebos. Wenn ich an die heilende Kraft einer Pille glaube, wird sie mir helfen (Placebo), wenn ich nicht dran glaube, wird sie mir schaden (Nocebo). So weit, so trivial.

Nicht trivial für Ökonomen, die ihre Disziplin für eine objektive Naturwissenschaft halten. Da darf es keinen subjektiven Faktor geben, der per se unvernünftig wäre und den Glauben an den homo öconomicus rationalis zum Einsturz bringen könnte. Der Mensch ist der Maschinist des Wirtschaftsmotors, der nur richtige Knöpfe drücken muss, um die Kraftmaschine auf Höchstleistung zu bringen.

Auch Wirtschaftshistoriker hätten sich schon der Geschichte der Emotionen gewidmet. Misik verweist auf den französischen Gelehrten Lucien Febvre mit seiner Studie „Zur Geschichte eines Gefühls. Das Bedürfnis nach Sicherheit.“

Misik warnt vor den Gefahren zunehmender Angst. Ständige Angst sei eine der wichtigsten Quellen der Verrohung; Sicherheit hingegen habe eine befreiende Wirkung. Angst schränke die eigene Freiheit ein.

Das sind wichtige und selten zu hörende Überlegungen zu einem grundlegenden Thema, das nicht nur die Wirtschaft betrifft.

Unsicherheit gehört zum eisernen Bestandteil der Moderne, die sich als reißender Fluss über Stock und über Stein ins Nirgendwo betrachtet. Kann irgendein Wesen seines Lebens sicher sein, wenn es sich auf Erden nicht zu Hause fühlt?

Neulich hörten wir von Professor Spaemann, dass Christen Fremdlinge auf Erden seien. Ihre Sicherheit sehen sie nur im Wandern auf ein Ziel, das unsichtbar bleibt und an das sie glauben müssen. Was, wenn das Ziel sich verflüchtigt? Was, wenn ihnen noch der Glaube abhanden kommt?

Menschen, die aus dem Glauben gefallen sind, aber noch nicht das Vertrauen in sich und die Menschheit gefunden haben, sitzen zwischen Baum und Borke und wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht. Können desorientierte Fremdlinge und Flüchtlinge, die von Ort zu Ort hetzen, irgendwo zur Ruhe kommen? Selbst der dogmatischste Gläubige sitzt noch lange nicht auf dem Schoße Abrahams, auch er hegt seine Zweifel. Je mehr er sie verdrängt, je tiefer vergräbt er seine Unsicherheiten hinter dem Panzer seiner fanatischen Unbeirrbarkeit.

Die Moderne ist geprägt vom Zeitgefühl der linearen christlichen Heilsgeschichte, die bei ständiger Überforderung und Übermüdung wachsam und rastlos ihrem Ziel zueilen muss. Genau genommen zwei Zielen: dem Ziel der Seligkeit und dem Ziel der Verdammnis. Nach Calvin kann niemand absolut genau wissen, ob er zu den Erwählten gehört.

Je mehr er sich dem Tode nähert, je fester er glaubt, die Wiederkunft des Messias stehe kurz bevor, je nervöser und hektischer muss er agieren. Alles, was in seiner Macht steht, diese Unsicherheit durch Werke und Taten – vor allem ökonomischer Natur – zu verringern, muss er mit verstärktem Übereifer unternehmen. Nichts Irdisches ist sicher, jeden Tag kann Gottes teuflischer Diener das Erworbene in Nichts verwandeln – wie bei dem tugendhaften und frommen Hiob.

Ein sicheres existentielles Gefühl kann sich nur dort ausbilden, wo man sich nicht von Augenblick zu Augenblick im Dunkeln vorwärts tasten muss. In vorwärts rasender Zeit einer Heilsgeschichte ist das ausgeschlossen. Nur wo das Hier und Jetzt die Stabilität einer ewigen Gegenwart erfüllt, kann sich die Meeresstille der Seele einstellen.

Alle Zeittheorien der Moderne sind von den linearen Fortschrittszwängen der Heilsgeschichte geprägt. (Ausnahme Spinoza, dessen Gott identisch ist mit der Natur.) Wo Geschichte der Natur gegenübergestellt wird, kann es keinen Ruhepunkt im Verlauf eschatologischer Ereignisse geben. Alle Ereignisse stehen unter dem Aspekt der Endzeit. Wo das Sein dem Werden untergeordnet wird, muss die Karawane ohne Aussicht auf eine Oase endlos weitermarschieren.

Hegels Geschichte ist der Urtypos einer Geschichte im Werden – die allerdings den Makel aufweist, an einem preußischen Endziel anzukommen, dem niemand die Eigenschaft des ruhenden Seins anmerkte. Kein Wunder, dass Marx sofort die trügerische End-Ruhe verwarf und wieder das lärmende Werden in den Mittelpunkt stellte.

Für Hegel waren Sein und Nichts keine Wesenheiten, die für sich bestehen können. „Sein und Nichts bestehen nicht für sich, sondern sind nur im Werden, in diesem Dritten“. Weder Sein noch Nichts sind etwas Wahrhaftes, nur das Werden ist die Wahrheit der Bewegung vom Nichts zum Sein, vom Sein zum Nichts. Denn Sein und Nichts sind sowohl Widersprüche wie die Aufhebung der Widersprüche. „Das Werden ist eine haltungslose Unruhe, die in ein ruhiges Resultat zusammensinkt.“

Das ist der Kern der nimmermüden Geschichte: die haltungslose Unruhe, der allmächtige Fluss des Geschehens, in dem es kein Geländer gibt. Hegel träumte vom Ziel, dem ruhigen Resultat am Ende der Geschichte und bildete sich ein, in Berlin zur Ruhe zu kommen. Wo an allen Ecken und Enden überhaupt alles zu gären begann.

Das Werden war der dialektische Motor seiner Geschichte, ohne den sich nichts zur endgültigen Synthese entfaltet hätte. Doch Hegel war des Treibens müde. Als alter Mann wollte er zur Ruhe kommen, einmünden ins endgültige Ziel der Versöhnung und der Liebe.

Alle linken Nachhegelianer verwarfen das „ruhige Resultat“ und griffen wieder zum unruhigen Werden. Nur die preußischen rechten Hegelianer wollten mit Hilfe der Polizei, der Zensur und der Unterdrückung die Ruhe im Land garantieren. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“.

Zwischen offizieller Sucht nach Werden und unterdrücktem Bedürfnis nach Ruhe schwankt das moderne Zeitgefühl.

Nietzsche wurde im Jahre 1844 geboren, doch auch er war ein entfernter Erbe des Hegel‘schen Werdens und dem immer stärker werdenden Bedürfnis nach stabiler, ja immobiler Ruhe. Sein Werden nannte er Willen zur Macht, dessen Agenten die Übermenschen sein sollten, die man daran erkennt, dass sie „Herren der Erde“ sein wollen.

Diese neue Herrenrasse ist eine „ungeheure, auf der härtesten Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen (in denen sich Wagner und Hitler erkannten) Dauer über Jahrtausende gegeben wird – eine höhere Art Menschen, die sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluss, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am „Menschen“ selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.“ (Aus dem Nachlass)

Hier sehen wir den Gesamtzusammenhang der Faschismen und Totalitarismen. Sie heizen dem Werden ein, um in einer Gewaltbremsung die finale Ruhe des 1000-jährigen Reichs zu erzwingen.

Hier sehen wir auch den Zusammenhang des totalitären Denkens mit der Wirtschaft der Gegenwart, die sich der Demokratie bedient, um eine aristokratische Schicht aus Reichtum, Wollen und Wissen zu begründen, die für die nächsten Jahrhunderte die Herrschaft über den Planeten übernehmen soll.

Die Demokratien der Welt sind gerade dabei, sich den zukünftigen Weltherren als überaus nützliche und unterwürfige Werkzeuge anzudienern.