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Dienstag, 31. Januar 2012 – Folgenlose Moral

Hello, Freunde abendländischer Werte,

Werte und Normen sind dazu da, dass man sie erfüllt.

Werte und Normen sind nicht dazu da, dass man sie erfüllt, sondern einsieht, dass man sie gar nicht erfüllen kann.

Welcher Satz stimmt fürs Abendland?

1. Der erste Satz ist katholisch, doch mit der Einschränkung: der Mensch kann ein bisschen moralisch werden. Zur wahren Erfüllung der Gebote jedoch braucht er Gottes Hilfe, in Klartext, den Vergebungsapparat der Priester oder der Kirche. Allein kann der Mensch nicht moralisch werden. Wozu wäre Religion und Erlösung vonnöten?

Moralisch sein heißt, der Mensch strengt sich an, dann kommt ihm Gott entgegen und komplettiert seine Stümpereien und Unfähigkeiten. Papa, krieg ich ein Bobbycar zum Geburtstag? Okay, wenn du sparst, leg ich die Hälfte drauf.

Diesen Standpunkt nennen die Theologen Semi-Pelagianismus (= ein halber Pelagianismus), beziehen sich damit auf den Streit zwischen Augustin und dem irischen Mönch Pelagius, der, noch ganz von altgriechischer Autonomie erfüllt, der Meinung war, der Mensch könne allein die Gesetze Gottes erfüllen.

Sein prominenter Gegner war vollständig anderer Meinung (wie später Luther, der Augustiner war): der Mensch ist ein unfähiger Sündenkrüppel, Totalversager in allen Dingen. Ohne Gottes Erlösung landet er auf dem Müllhaufen der Geschichte oder in der Hölle.

Das Papsttum hat sich in diesem Punkt vom rigiden Augustin abgewandt und lehrt seitdem

den obigen Kompromiss zwischen Augustin und Pelagius: der Mensch soll sich anstrengen; was ihm zur Vollendung fehlt, legt die Kirche als Gnadengabe drauf. An seiner Perfektion, der Voraussetzung zur Seligkeit, kann der Mensch wohl mit-arbeiten, doch bleibt er abhängig vom Vergebungs- und Gnadenwerk des Klerus.

Also: Ko-operation zwischen Oben und Unten, aber nicht auf gleicher Augenhöhe. Unten bleibt abhängig von Oben. Ohne Zusatzkredit des Priesterapparats bleibt Unten verloren.

2. Der zweite Satz ist lutherisch. Luther erneuerte Augustin gegen die päpstliche „Verflachung“, dass der Mensch ein wenig an seiner Seligkeit mitarbeiten könne, was Luther Werkgerechtigkeit nennt (Werk = moralisches Handeln). Die Meinung, der Mensch könne durch gute Werke, durch moralisches Tun, an seiner Seligkeit auch nur im Geringsten mitwirken, verdammt der Wittenberger als Sünde der Hybris und des Hochmuts wider den Heiligen Geist.

Übersetzen wir ins Pädagogische.

1. Der Lehrer, der den Kindern das Gefühl vermittelt, dass sie zu moralischem Tun fähig sind – wenn auch nicht ganz und gar, sondern immer nur in Abhängigkeit von ihm – ist ein „katholischer“ Lehrer. Er stärkt das Selbstbewusstsein der Schüler, aber nie so, dass er sagen würde: wenn ihr euch weiter anstrengt, wie bisher, braucht ihr mich eines zukünftiges Tages nicht mehr. Mein Job besteht darin, mich überflüssig zu machen. Das würde bedeuten, dass der Priesterapparat – also alle Autoritäten – sich eines Tages wegen Überflüssigkeit in Wohlgefallen auflösen müsste.

2. Der Lehrer, der den Kindern das Gefühl der völligen Unfähigkeit in moralischen Dingen vermittelt und auf seine totale Unentbehrlichkeit pocht, ist ein „lutherischer“ Lehrer. Natürlich darf er nicht seine persönliche Unentbehrlichkeit in den Mittelpunkt stellen, sondern muss auf die Autorität im Himmel verweisen.

Das war übrigens der Grund für den Pastorensohn Ranke, sich von Hegels autoritärem Weltgeist abzulösen und die ganze Geschichte nicht als unaufhörlichen Fortschritt zum messianischen Ende der Geschichte zu betrachten, sondern unter der Devise: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott. Jede Epoche ist gleich viel wert.

Alles andere würde bedeuten, die Menschen früherer Epochen müssten sich aufopfern im Dienst des Glücks ihrer privilegierten Nachfahren. Marx war Hegelianer und genau dieser Meinung: je mehr die Proleten sich dem Reich der Freiheit nähern, je mehr erhalten sie vom Kuchen des finalen Siegs.

Unsere hart arbeitenden und leidenden Vorfahren haben Pech gehabt, sie müssen zu kurz kommen. Ihr duldendes Glück kann nur darin bestehen, sich für das Glück ihrer Nachfahren zu verbrauchen.

Jedermann weiß, dass im heutigen Renten- und ökologischen Generationenstreit diese Problematik virulent ist. Welche Generation muss sich für welche opfern? Ein beherrschendes Grundgefühl der heutigen Jugend ist: warum sollen wir uns krumm legen, wenn eh alles den Bach runter geht? Warum sollen wir Kinder zeugen, uns politisch einsetzen, wenn der Gesamtzug der Moderne in beschleunigter Geschwindigkeit dem Abyssus entgegenrast?

Im Gegensatz zum Papismus kann bei Luther der Einzelne sich direkt an Gott wenden, er ist unmittelbar zu Gott. Streng genommen könnte der ganze Kirchen- und Priesterapparat wegfallen. Weswegen viele protestantische Sekten sich von der offiziellen protestantischen Kirche lösten und eine eigene hierarchielose Gemeinschaft gründeten. Jedes Gemeindemitglied war sein eigener Priester, wenn es sich im Beten und Flehen unmittelbar an Gott wendete.

Die Protestanten waren immer stolz auf Luthers Tat, sie sei die deutsche Frühversion der späteren Französischen Revolution gewesen: zum Teufel mit allen Autoritäten. Stimmt das?

Auf den ersten Blick ist das Luthertum ein Rückschritt in der Geschichte des sich entwickelnden Selbstbewusstseins. Das bisschen Eigenverantwortung, das der Vatikan zuließ, wurde durch Luthers Rückkehr zu Augustin wieder kassiert.

Auf den zweiten Augenblick aber bedeutete die Emanzipation des Einzelnen vom Mittler- und Vergebungsapparat des Klerus einen enormen Fortschritt: Jeder Gläubige hatte die Chance, ohne Zwischeninstanzen (=Medien), mit „entblößtem Haupt“ vor Gott zu treten und sein persönliches Heil selbständig und allein mit den jenseitigen Seligkeitsbehörden auszubaldowern.

Ein typisches Gesetz der deutschen Geschichte: zwei Schritte vor, drei zurück, meinetwegen zwei, dann hätten wir Stillstand und Nullsummenspiel. Also gut: drei Schritte vor und nur zwei zurück, damit wir uns im Fortschrittszirkus der Moderne nicht als Sitzenbleiber vorkommen müssen.

Für Nietzsche war Luthers Reformation ein deutsches Verhängnis. Während das herrlich verkommene Papsttum schon auf bestem Wege war zu den kühnen moralfreien Cesare Borgia-Gestalten mit ihrem absolut freien Willen zur Macht jenseits von Gut und Böse, kam dieser germanische Hinterwäldler mit seinem christlichen „Gutmenschentum“ daher und zwang Europa wieder unter die Knute des Guten & Bösen und die Tyrannei spießiger Gottesdientbesucher, die von Hegel Kammerdienermoral genannt wurde.

Die heutige Verachtung des Gutmenschentums entstammt dem antilutherischen, genauer antikantianischen Geist (Luther und Kant wurden von den Deutschtümlern in einen Topf geworfen), der romantischen Hegelianer und der Deutschen Bewegung. Die Nazis wähnten sich jenseits von Gut und Böse. Sie müssten heute die geheimen Idole gegenwärtiger Gutmenschenverächter sein.

Auch ein Beitrag zum latenten Antisemitismus unserer Tage. Denn wer sich über das Gute erhebt, will amoralisch-freien Umgang mit seinen Feinden. Wer diese im Zweifelsfall sind, kann sich jeder an fünf Fingern ausrechnen.

Die modernen Medien wollen auch Vermittler sein und haben die Stelle des Priesterapparates für sich okkupiert. Sie maßen sich an, jene Vierte Macht zu sein, die die drei legitimen Mächte der gewaltgeteilten Demokratie unter die Lupe nimmt. Das ist eine Erschleichung.

Es gibt in einer Demokratie nur eine einzige Vierte Macht und das ist die Öffentlichkeit, in der das Volk seinen Gewählten auf die Finger schaut. Natürlich gehört die Presse zur Öffentlichkeit, aber nicht als verkrusteter, isolierter, abgeschirmter „klerikaler Apparat“ in Händen weniger hohepriesterlicher Edelfedern und anonymer Verleger-Päpste im Hintergrund. Diese selbsternannten, an Hochmut und blasierter Ignoranz nur noch mit Popen zu vergleichenden Mittlerinstanzen müssen zerschlagen werden. Die Vierte Macht muss in die Hände der einzigen legitimen Macht zurückgegeben werden, die es in der Volksherrschaft geben darf: in die des Volkes.

Wenn das Abendland sich christlicher Werte rühmt, welche Werte meint es? Klar, die christlichen. Doch in katholischer oder in protestantischer Version? Sind diese Werte durch Menschen überhaupt realisierbar oder hängen sie als Damoklesschwert über unserm Haupt, um uns ständig mit Vernichtung zu bedrohen, weil wir unfähig sind, sie zu verwirklichen?

Über den Inhalt der Werte haben wir noch gar nicht gesprochen. Genügen Zehn Gebote? Brauchen wir zusätzlich die hehre Neues Testament > 1. Korinther 13 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/13/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/13/“>Lied der Liebe in 1. Korinther 13?

Nur so viel an dieser Stelle: die verschiedenen Werte-Kataloge sind in sich selbst ein Schlachtfeld an Trivialitäten, Leerformeln, unmäßigen Übertreibungen, schreienden Widersprüchen und dialektischen Kippbewegungen. Beide Versionen, die lutherische und die katholische, sind sich einig, dass die gepredigten Werte von Menschen, denen man sie einbläut, nicht eingehalten werden können. Bei Luther gar nicht, bei den Katholiken ein wenig.

Calvin ist noch radikaler, dort sind Menschen Marionetten der Vorherbestimmtheit. Das ganze Tun des Einzelnen hat keinerlei Einfluss: weder auf sein persönliches Heil noch auf die Geschicke der Welt. Freilich muss Gottes Moral befolgt werden, aber nicht als Tun, das etwas bewirken kann, sondern als folgenloser Gehorsamsdrill. Mit ökonomischen Erfolgen kann man versuchen, den eigenen Erwähltheitsstatus zu dechiffrieren.

Keine einzige christliche Institution ist der Meinung, dass menschliches Handeln die politischen Verhältnisse durchdringen, prägen und beeinflussen kann. Geschichte wird von Gott geschrieben, sonst von niemandem. Das moralische Niveau der Gesellschaft bleibt unbeweglich auf dem Punkte Null. Mitten in der Fortschrittsorgie verharrt die Menschheit stets auf Start. Weder gibt es einen Wettbewerb noch ein Ziel.

Anders bei sektiererischen Freikirchen, die überschwänglich an den schon hienieden eintreffenden Erfolg ihrer Missionierungen glauben, weshalb sie als schwärmerische Fußtruppen der Kirchen gelten, die in der Gefahr chiliastischer Selbstüberschätzung sind.

In seiner Lehre vom zweifachen Gebrauch des Gesetzes (duplex usus legis) hat Luther die Funktion des göttlichen Moralgesetzes präzis formuliert. Es dient am wenigsten der Gestaltung der Welt, es dient der Zerschmetterung des arroganten Sünders, der durch eigene Fähigkeiten glaubt, moralisch zu sein. Die Kreatur muss zerschlagen werden durch die furchteinflößend-unerreichbare Höhe des Gesetzes, das ihn in Zerknirschung und Buße in die Arme des gnädigen Gottes treibt.

Die für Luthers Reformation schicksalsentscheidenden Stellen stehen im Römerbrief: „Es ist keiner gerecht, auch nicht einer. Es ist keiner, der verständig ist, es ist keiner, der Gott mit Ernst sucht. Alle sind abgewichen, sie sind alle zusammen unnütz geworden. Es ist keiner, der Gutes tut, es ist auch nicht einer.“ (Die Summe aller abendländischen Werte ist ein moralischer Totalbankrott. Die Latte des göttlichen Gesetzes liegt so hoch, dass jeder an ihr scheitern muss. Es sei denn, er flüchtet in die gnädigen Arme der Religion.

Hier sehen wir die biblische Verankerung des Habermas/Böckenförde-Diktums: ohne Zuhilfenahme klerikaler Werte könne keine Demokratie Bestand haben. Hier sehen wir den Grund des Weizsäcker-Satzes: Demokratie habe keine Tugenden. Weshalb der Altbundespräsident zu den vehementen Gegnern jener Berliner Bewegung gehörte, die einen staatlichen Ethikunterricht einrichten wollten. Bischof Huber gegen einen vermessenen Staat, der sich überhebt, im weltlichen Namen Tugenden zu lehren.

Was hat das Ganze mit der EU- und der Eurokrise zu tun – die für Merkel identisch ist? Die europäische Krise ist die Quittung für die heteronome Verfassung abendländischer Werte, die gar nicht das Ziel haben, Spuren zu hinterlassen. Der Kern der abendländischen Standardpredigt lautet: Mensch, gib auf. Du hast keine Chance, dein Schicksal zu bestimmen und moralisch zu gestalten.

Schon dein überheblicher Versuch, immer moralischer zu werden, ist ein lächerlicher, ja, blasphemischer Angriff auf Gott und sein Personal. Du hast nur eine Chance: unterwirf dich dem Klerus, dann wird’s dir – nein, natürlich nicht gut gehen. Nicht auf Erden, aber gewiss im Jenseits als Belohnung deines irdischen Kriechgangs. Bei den schwärmerisch-sektiererischen Amerikanern allerdings progressiv im Diesseits.

In Europa gibt’s schwache und starke Wirtschaftsländer. Die Kluft zwischen beiden konnte in Hochzeiten der Konjunktur verkleistert werden. Nun kommen die Unterschiede mit unverminderter Härte ans Licht.

Jeder abendländische Mustermann sollte doch, wenn er der Nächstenliebe folgen will, seinem schwachen Nachbarn helfen wollen wie sich selbst – oder nicht? Warum steht dann in europäischen Verträgen das ausdrückliche und schriftlich fixierte Verbot, sich gegenseitig zu unterstützen? Das so genannte Bailout-Verbot und genaue Gegenteil dessen, was jeder für den Inbegriff neutestamentlicher Ethik hält?

Und noch niemandem ist dieser klaffende Widerspruch aufgefallen? Der Widerspruch ist eherner Bestandteil der europäisch-schuldbewussten Psyche. Niemand hält es für möglich, mit schwachen menschlichen Kräften Gottes Gesetz in die Tat umzusetzen. Göttliche Perfektionsmoral ist nur dazu da, das Selbstbewusstsein des Menschen zu unterminieren.

Wer wundert sich da über allgemeine Moralmüdigkeit unserer Gutmenschen und hohnlachenden Zynismus der oberen Kasten?

Hinzu kommt die Lehre vom weltlichen und geistlichen Schwert – wonach christliche Werte (wenn überhaupt) nur im privaten und kirchlichen Umkreis realisiert werden können. Niemals im weltlich-heidnischen Bereich des machiavellistisch verseuchten Staates, der civitas terrena, die von verworfenen Räuberhorden dominiert wird, welche sich äußerlich an Gesetz und Ordnung halten, innerlich aber dem Gesetz des Teufels verpflichtet sind.

Bei solch höflichen Verleumdungen des Staates sollten wir uns über seine Dämonisierung durch geistbegabte Neoliberale und Tycoons nicht länger wundern. Unter deutschem Druck haben die europäischen Staaten sich entschieden, sich in ökonomischen Krisen niemals beizustehen. Das würde nur den Leichtsinn des dolce far niente auf Kosten fleißiger Nachbarn unterstützen. Helfen die Europäer sich doch, verstoßen sie gegen das eigene Recht.

Robert von Heusinger weist zu Recht darauf hin, dass die Deutschen noch keinen einzigen Pfennig, pardon Cent, an die Griechen ausgegeben haben. Im Gegenteil, die griechische Pleite spült deutschen Banken viele Milliarden in die Kassen. Wir sind die Kriegsgewinnler des wirtschaftlichen Niedergangs unserer Verbündeten, denen wir Solidarität geschworen haben.

Fazit: die gegenwärtige Wirtschaft ist nichts als der Blinddarmfortsatz verborgener theologischer Widersprüche und eklatanter Verstöße gegen alle Grundsätze autonomer Moral. Wer die Mühe scheut, das Labyrinth gegenwärtiger Unübersichtlichkeiten anhand des religiösen Ariadnefadens zu analysieren und zu durchqueren, wird niemals ein Lichtlein am Ende des Tunnels sehen.