Hello, Freunde Italiens,
politisches Patt im Land der deutschen Sehnsucht. Wieder einmal hat eine Bevölkerung durch Wählen nicht gewählt. Komiker Grillo will weder mit dem Seriösen noch mit dem Gigolo paktieren, seine marianische Jungfräulichkeit gegenüber der Politklasse wird dem Gigolo nützen.
Italien wird die Wahl so lange wiederholen müssen, bis Merkel und Schulz den Cäsarendaumen heben. (Hans-Jürgen Schlamp im SPIEGEL)
Schenkelkracher Steinbrück ist fürs Sitzenbleiben. Kann er haben. Bei der nächsten Wahl muss er in die Ehrenrunde. (Christina Hebel im SPIEGEL)
Was fasziniert den Gelehrten Hans Ulrich Gumbrecht an Kalifornien? Dass einst sein Leichnam Teil der kalifornischen Küste werden wird. Das stärkste Gefühl der Identität sei die Gewissheit, „dass das, was von mir nach dem Tod bleibt, Teil der Welt an der pazifischen Küste wird“. Zuvor hatte Gumbrecht ironisch notiert, dass man „He passed on“ sagt, wenn man „Er ist tot“ meint.
Amerikaner sein bedeutet, für ewig am Finis terrae, (am Ende der Welt) im tiefsten Westen wohnen zu wollen. Das ist mehr, ja sogar eigentlich das Gegenteil eines „Lebensgefühls“. Tod und Ende der Welt, das sieht Gumbrecht, wenn er die pazifische Küste hinauffährt und eine absterbende Zivilisation erlebt. Heruntergekommene Tankstellen, verlassene Häuser, Vorwegnahmen des Untergangs der Menschheit. (Richard Kämmerlings in der FAZ)
Das Gegenteil eines Lebensgefühls ist bei Gumbrecht nicht der Mann mit der …
… Sichel, sondern der Engel. Walter Benjamins Engel.
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Bei Klee steht der Mund des löwenmähnigen Wesens nicht offen, die Flügel sind weniger ausgespannt als hilflos nach oben gerichtet. Als sagte jemand: Hände hoch! (Angelus Novus von Paul Klee)
Die Zukunft sehen wir nicht, wir haben ihr den Rücken gekehrt. Schau nicht zurück, Engel, schau nach vorn in die Zukunft: die amerikanische Lebensreligion ist das Gegenteil der Benjamin‘schen Sicht. Wir tun, was Lots Frau das Verderben brachte. Wir schauen zurück und sehen wie gebannt auf Verderben und Untergang.
Die Kette der Begebenheiten ist die Geschichte, auf deren Ereignisse und Errungenschaften wir stolz sind: sie sind zum Himmel wachsende Trümmerhäufen. Wir sind stolz auf Überreste und Ruinen, die wir ununterbrochen produzieren. Der Sturm aus dem Paradies – nicht dem kommenden – ist der Shitstorm der Sünde, der uns aus dem Garten Eden vertrieb und seitdem durch die Geschichte peitscht.
Der Engel möchte unser Heiland sein, Tote auferwecken und Zerschlagene zusammenfügen. „Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“ ( Altes Testament > Psalmen 34,19 / http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/34/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/psalm/34/“>Ps. 34,19)
Was ist das für ein engelgleiches Wesen, das uns nicht retten kann? Wir können uns selber nicht retten. Was wir Fortschritt nennen, ist Anhäufen von Müll und Schrott. Aussuchen können wir uns unser Geschick nicht, wir werden alle in eine Richtung geweht, wir sind Getriebene.
Ist das Bild ohne Hoffnung? Davids Psalm fährt fort: „Der Gerechte muss viel leiden; aber aus dem allem errettet ihn der Herr.“ Ist der Glaube an Rettung eine Illusion, der wir nicht entrinnen?
Benjamins Freund Adorno bringt Verzweiflung und Erlösungsglauben in eine Synthese, die er negativ nennt. Wenn wir auf Heil verzichten, werden wir geheilt. Wenn wir vor dem Tor zum zweiten Paradies verharren, öffnet sich die Pforte und wir werden heimgeholt.
Heute spricht man von De-Mut, die sich den Hoch-Mut des Heils verdient. Gegen die Hoffnung hoffen. „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“ Die Frage nach der „Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung ist selber fast gleichgültig.“
Gumbrecht will sich die Demut des Verfalls im Anblick ständig wachsender Trümmer erarbeiten und sich Hoffen verbieten, um sich Hoffnung auf Rettung zu verdienen. Wer dem Tod ins Angesicht schaut, wird ihn nimmermehr sehen. Tod und Vergängnis sind Pforten ins Unvergängliche.
Markus Lanz ist kein Gelehrter, sondern Südtiroler, dessen geheime Liebe jene Show ist, die nur Gott sieht. Grönland ist das Land seiner Sehnsucht. Dort muss er wie ein Mann gegen die Elemente kämpfen. Dort muss er in der Welt der Inuit die Natur bezwingen, die fast schon abgestorben ist:
„Irgendwann erreiche ich auf solchen Reisen einen anderen Aggregatzustand. Andere empfinden so etwas vielleicht auf Ibiza bei einem wunderschönen Sonnenuntergang. Ich finde es in Grönland. Vielleicht, weil es auch eine Zeitreise ist in eine Welt, die eigentlich schon untergegangen ist.“ (FR-Interview von Martin Scholz mit Markus Lanz)
Wenn man durch deutsche Kanäle zappt, sieht man verdächtig oft Szenen aus ewigem Schnee und Eis. Mit Eisbären und ihren putzigen Kleinen, die zum ersten Mal aus der Winterhöhle kriechen. Eine apokalyptische Sprecherstimme klärt uns auf, dass das Leben der Bären und aller Polartiere gezählt seien. Nicht mehr lange und das Eis werde geschmolzen sein.
Welt ging verloren. Das macht sie anziehend und berückend. Todestrieb und Lebenstrieb paaren sich und werden eins. Wir müssen töten, was wir anziehend finden. Nichts Begehrlicheres als der Tod. Der Tod ist die Schwelle ins Jenseits, ins ewige Leben. Wir müssen sterben, um aufzuerstehen. Nekrophilie ist Brünstigsein auf den Tod – dem wir ein Schnippchen schlagen werden. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg? Die Moderne nähert sich der Epoche ihrer voyeuristischen Nekrophilie. Es ist so geil, die Welt abkratzen zu sehen.
Von der Todessehnsucht zum Journalistengewerbe ist nur ein Nano-Schritt. In der Prüfungskommission der renommierten Nannen-Schule sitzt die Creme de la Creme. Es sind die Chefredakteure von ZEIT, STERN, GEO, NEON und anderen exzellenten Gazetten. Das Auswahlverfahren ist das härteste. Quizfragen, die nicht mal Jauch beantworten könnte und mit einem einzigen Google-Klick zu lösen sind.
Die meisten Prüfungen sind Eitelkeitsbeweise für die Prüfer. „Und je schwieriger die Prüfung, desto auserwählter fühlt sich, wer es geschafft hat. «Es entsteht durch das gemeinsame Bestehen eines harten Auswahlverfahrens manchmal eine besondere Gruppendynamik»“, sagt ein Kenner namens Hell. „Ein starkes Wir-Gefühl.“
Je härter und bizarrer die Prüfungen, umso besser die Testsieger. „Die Trefferquote, tatsächlich talentierte junge Journalisten zu finden, dürfte hoch sein“, sagt Hell. Dürfte? Das soll die methodische Überprüfung eines aussagekräftigen Tests sein? Verlässt sich der Kenner auf Bauchgefühl und Konjunktiv? Hat er die Qualität der heutigen Presse vor Augen?
Wenn die Selektion hoch ist, und viel Durchschnittsware ausgesiebt ist, muss der heilige Rest auserwählt sein. Die Nannen-Jury spielt – wie jede Jury auf dem Boden abendländischer Werte – den Gott der Auserwählung. Jesaja muss sogar seinen Sohn nach dem Heiligen Rest benennen. „Der Herr aber sprach zu Jesaja. Gehe doch mit deinem Sohne Schear-Jaschub („ein Rest wird gerettet werden“) dem Ahas entgegen …“
Auch der persönliche Eindruck ist wichtig. Können sie „unverklemmt vernünftige Dinge sagen“? Wäre verklemmt unvernünftig? Überträgt sich das Verklemmte auf den Recherchier- und Schreibstil des Prüflings? Oweh. Kein deutscher Dichter und Denker – allesamt verdruckste und verklemmte Pfarrersöhnchen – hätte bei Nannen eine Chance gehabt.
Hart muss die Auswahl sein, denn „Qualität kommt von Qual“. Das ist bekanntlich das Generalmotto der deutschen Pädagogik. Vom Sitzenbleiben bis zum Scheitern. Hart wie Kruppstahl, besonders bei der zweiten Chance. Zäh wie Leder, wenn man wieder mal hören muss, dass es mit Pulitzer nichts werden wird. Wen Gott liebt, den schickt er ins schreibende Westpoint, ins Nannen-Institut.
Wer auch das überlebt, muss eine Reportage schreiben. Mit dem Thema: „Sonntagnachmittag auf der Reeperbahn – eine Momentaufnahme“. Olala, was für ein raffiniert-dialektisches Thema. Verbotene Lust am Tag des Herrn? Wie weit wird der Prüfling mit dem Recherchieren gehen? Bis zum Äußersten eines Lusthöhlenangebots – natürlich in professioneller Objektivität? Wird er einer ordinären pornografischen Versuchung entgehen und dennoch die Herren der Jury – allesamt Herren – in Erregung bringen? Säßen Frauen in der Jury, was gäbe es leidige Probleme mit sexistischer Anmache!
Momentaufnahme ist der Kern der Journalistenphilosophie. Kierkegaard, der fromme Erfinder derselben, spricht von Augenblick. Der Augenblick war die Reaktionsbewegung gegen die hegelsche und altgriechische Zeitlosigkeit. Warum ist der Augenblick so elementar für die Edelschreiber? Weil sie kryptisch gläubig sein müssen, sonst kommen sie für die deutsche Medien-Zivil-Religion nicht in Frage.
Zweifeln – okay, wenn’s nicht ans Eingemachte geht. Ansonsten versteht sich Bergpredigt von selbst. Atheismus ist doof, sagen einhellig Vater Abraham und Habermas. Der Augenblick ist der Kern der Erleuchtung. Das Medium der Offenbarung.
Vernunft ist langsam, grübelnd, verklemmt, braucht Zeit, will nachhaltige, dauerhafte Wahrheit. Das kann sich keine Gazette leisten, die auf momentanen Profit aus ist. Augenblick ist spontan, nach oben geöffnet. Im Augenblick entscheidet sich alles, wenn der Messias vor der Türe steht und anklopft: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis. Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden im NU, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune.“ ( Neues Testament > 1. Korinther 15,51 f / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/15/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/15/“>1.Kor. 15,51 f)
Der Augenblick ist das Elixier einer genialen Momentaufnahme. Bei Nannen kommen nur Momentan- und Instantgenies durch die Schleuse. Kurz nach dem lichten Augenblick auf der Reeperbahn versinken sie wieder in deutsche Standardware. Macht nichts, Hauptsache, die Prüfung bestanden. Wetten, dass vor allem Männer durchkommen?
Doch Vorsicht, die höchsten Anforderungen bewahren keinen erfolgreichen Kandidaten davor, Seehofers Spielzeugeisenbahn im Medium nicht-empirischer Fernoffenbarung zu beschreiben. Womit wir am Kern der Augenblicksanbeter angekommen wären: Nannen muss sich für seine früheren Rohrkrepierer rehabilitieren. Eine exzellente PR-Kampagne der Medien in eigener Sache. Früher nannte man das Schleichwerbung. (Henry-Nannen-Auswahlverfahren im SPIEGEL)
Hätte Frank Schirrmacher den Nannen-Test bestanden? Um die Gegenwart besser zu verstehen, las er noch mal Thomas Manns Zauberberg. Und siehe, nichts hat sich verändert – trotz Schirrmachers Beschleunigungsthese. (Frank Schirrmacher in der FAZ zum Zauberberg von Thomas Mann)
Wie kann das Jahr 1913 das Jahr 2013 zum Leuchten bringen? Da hätten wir schon zwei Augenblicke, die etwas miteinander zu tun haben müssten. Bei der Lektüre des Buches fühlt sich Schirrmacher im Heute angekommen. Kann es sein, dass Thomas Mann beim Lesen von Goethe – der auch 100 Jahre vor ihm schrieb – sich auch wie zu Hause fühlte? Goethe fühlte sich bei den Griechen zuhause, die fast 2000 Jahre von ihm entfernt waren.
Was bleibt vom Augenblick, wenn er regelmäßig wiederkehrt? Und was entnimmt Schirrmacher den Beschreibungen eines Elite-Lazaretts in der Schweiz? Mitten im Leben sind wir vom Tod umschlungen?
Es gibt keine Zeit mehr, nur noch Geschwindigkeit. Die Moden rasen dahin wie Monate. Die Köpfe sind vergiftet. „«Der große Stumpfsinn» hatte, wie der Erzähler schreibt, seine Bewohner schon eine ganze Weile mit seinem Bann belegt, und nun wird er zur Krankheit.“ Die Krankheit „trägt den Namen „Die große Gereiztheit“, eine Mischung aus schlechter Laune, bad karma und Ressentiment. „Was gab es denn? Was lag in der Luft? – Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge.“ Man sieht: Das ging auch ohne Internet.“
Die Spannungen sind Symptome der großen Politik der Völker unten im Flachland. Und woher kommen diese? Das interessiert den Mann-Verehrer nicht. Er will nur die „Psychopathologie des Alltagslebens“ ergründen.
Ist die Trennung von Alltag und Politik legitim? Kann man Menschen als isolierte Privatiers ergründen oder ist die pathologische Elite unabhängig von der Stimmung schnöder Machtkämpfe und Interessen?
Schon taucht der erste Antisemit auf. Noch niemals wurde ein solcher Unhold in den oberen Etagen der Bourgeoisie gesehen? Das muss wohl ein miasmisches Gift aus den Unterschichten sein und hat mit preußischen und klerikalen Oberschichten nichts zu tun. Einige der schärfsten Antisemiten waren rein zufällig Hofprediger Stöcker, Historiker Treitschke und sonstige Gelehrte und Wohlgeborene.
Und warum entlarvt Schirrmacher nicht den Gegenaufklärer Naphta als Antisemiten? Naphta war ein zum Katholizismus konvertierter Jude, sein Weltbild trägt totalitäre Züge. Selbst Wiki ist verwundert: „Auffällig ist, dass Thomas Mann präfaschistisches, antihumanes Gedankengut ausgerechnet von einem Juden vertreten lässt – wie übrigens später auch im Doktor Faustus, wo faschistisches Denken durch den Juden Dr. Chaim Breisacher repräsentiert wird.“
Ausgerechnet Juden sind die Hauptvertreter des Faschismus bei Thomas Mann – und Schirrmacher, ein Philosemit der Sonderklasse, hat es nicht nötig, Thomas Mann zu kritisieren? Hier sehen wir eine der wahren Quellen des Antisemitismus, die von deutschen Bildungsbürgern verleugnet und nach unten projiziert werden.
Woher stammt der Antisemitismus? Schirrmacher: „Lichtjahre entfernt scheinen in diesem Augenblick all jene Kapitel, in denen von Humaniora, Aufklärung, Vernunft und auch vom Gottesstaat geredet wurde – und genau das sollen sie auch. Wiedemanns Geisteskrankheit tritt in diesen durch und durch diskursiven Roman ein wie eine Naturgewalt. Die Beschleunigung ist nicht nur ein Erzählprinzip des Romans, sie ist das Abbild der politischen Dynamiken, die längst den Kontinent ergriffen haben.“
Antisemitismus tritt auf wie eine Naturgewalt. Dann können keine Menschen schuld sein. Sind Krokodile antisemitischer als Löwen, Tornados antisemitischer als Tsunamis? Hier ist das ganze Elend deutscher Edelschreiberei wie in einer Cloaca maxima vereint. Zuerst wird die Assoziation erweckt, der Antisemitismus könnte mit dem deutschen Verrat der Aufklärung zusammenhängen. Überhaupt gibt es im höheren Feuilleton nur Assoziationen, Stimmungen und Anklänge. Nichts Genaues wissen wir nicht und können auch nichts wissen.
Wenn man allerdings den Gottesstaat in dieselbe Kategorie steckt wie Aufklärung, sollte jemand sein Schuldgeld zurückbezahlen. Hat Schirrmacher noch nie davon gehört, dass Aufklärung den Gottesstaat bekämpfen musste, um Europa zu humanisieren? Solche Kleinigkeiten überlässt ein kluger Kopf wissenschaftlichen Lohnschreibern. Er will ja nur Stimmungen erahnen, keine Doktorarbeit in Ideengeschichte schreiben. Deutlichkeit und Klarheit sind Eigenschaften von Lohnkutschern, die die Kranken auf den Berg fahren.
Schirrmacher ist ein Meister des impressionistischen Claire-Obscure. Mit vollem Pinsel in den Farbenkasten, ausholen und mit Schwung gegen die Leinwand schleudern. Der Zauberberg – eine verklemmte Variante des Venusbergs Wagners, den Thomas Mann verehrte – wird von Schirrmacher im ersten Schritt zur Eremitenklause verklärt, in der nur Liebe und Freiheit herrschen: „Der „Zauberberg“ ist nicht nur seit Generationen für jeden Leser eine lebenslange Verführung, der Welt ein für alle Mal abhandenzukommen: ein Leben außerhalb von Erwartungen und Ansprüchen anderer, ein Dasein, der Selbsterkenntnis und Liebe gewidmet, wobei auch diese Liebe vergeblich, aber keineswegs lebensgefährlich ist.“
Das muss ein wahrer Garten Eden gewesen sein, in dem jeder Patient zum homo sapiens werden kann. Doch schon kommt die kalte Dusche und das Paradies wird zum Infektionen- und Bazillenlabor. „Der Roman ist aber vor allem das große Dementi eines alten Traums von Aufklärern, Bildungsbürgern und Geistes-Ärzten aller Art: der Hoffnung, der Mensch könne einen Zustand der Reflexion und Verinnerlichung erreichen, die ihn immun macht gegen Infektionen und Bazillen aller Art.“
Also wieder nichts mit Aufklärung, die immun machen könnte gegen Faschismus. Im Gegenteil, Denken macht krank. „Diese letzte Erkenntnis, dass Denken zur Krankheit und das heißt: zur Ideologie werden kann …“ (Das Wörtchen kann ist übrigens ein Lieblingswort deutscher Impressionsschreiber. Man kann nicht festgenagelt werden. Mit falsifizierbaren Kausalitäten – also Muss-Aussagen – gibt man sich beim höheren Schreiben nicht ab.) Es muss wohl eine gerechte Strafe Gottes sein, dass Naphta, der Seelenterrorist, sich selber umbringen muss.
Wie konnte das Verhängnis 20 Jahre später zur deutschen Realität werden? Aber ja doch, Thomas Mann hat in Naphta die kommende Jahrhundertkatastrophe vorausgespürt. Kein Wort, dass Thomas Mann in jenen Jahren die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ schrieb, die gegen den Westen, Demokratie und Menschenrechte gerichtet waren. Mann hat nicht vorausgespürt. Er hat vorausgewirkt und erst viel später – unter dem Einfluss seiner Kinder – eine Kehrtwende gemacht.
Davon keine Silbe. Das ist schlimmer als ein Plagiat, dass nennt man eine fundamentale Geschichtsfälschung. In den „Betrachtungen“ – einer aggressiven Auseinandersetzung mit seinem francophilen Bruder Heinrich – verhöhnt Thomas Mann die sogenannten Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. Stattdessen preist er Demut, Leiden, Dienen und Gehorsam. Den Krieg lobt er als Veredelung und Verfeinerung des Menschen angesichts des Todes.
Und wen zitiert Schirrmacher als begeisterten Fürsprecher des Romans? Einen gewissen Heidegger, der rein zufällig ein begeisterter NS-Rektor der Uni Freiburg werden sollte.
Was ist das Fazit des Lesers? Welche Wirkung kann das Werk noch heute haben? „Eine Selbstimpfung mit ungewissem Ausgang ist der „Zauberberg“ bis heute geblieben und eine Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse.“
Unangreifbarer, verschwommener und nebelwerfender geht’s nicht. Die Selbstimpfung ist geeignet gegen alles und nichts. Das Lesen sensibilisiert für alles und nichts. Nun wissen wir, warum ein deutscher Intellektueller sich Bildung als Rezept gegen alle Gefahren der Zukunft verschreibt. Bildung ist das unsichtbare Kettenhemd Siegfrieds, das den Träger zum unsterblichen Helden macht.
Schirrmacher hätte die Nannen-Prüfung mit links gemacht. Er ist geimpft gegen jede Sachkenntnis und gefeit vor jeder Selbstkritik.