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Dienstag, 25. Dezember 2012 – Grenzziehung

Hello, Freunde der schnelllebigen Zeit,

kennen Sie die beliebtesten Standardsätze der Gegenwart? „Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Wir leben in einer immer schnelllebigeren Zeit.“ Seit der Zeitenwende stimmen diese Sätze immer. Denn der Herr hatte das baldige Weltenende angekündigt, einige seiner Zuhörer würden es noch in ihrem irdischen Leben erleben. Sie haben es bis heute nicht erlebt.

Also steigt die Spannung, Uhren, Motoren und Maschinen laufen immer schneller. Das Klima erwärmt sich. Alles rennet, rettet, flüchtet, taghell ist die Nacht gelichtet.

Da das Neue bis heute nicht erschienen ist, muss ständig ein Ersatz-Neues erfunden werden. Jeder Tag ist Bruch, jeder Tag ein Umbruch. Das Alte muss zu Bruch gehen. Ob es sich bewährt hat, ob die Menschen es liebten oder nicht – es wird kein Pardon gegeben. Das Alte muss raus, die Regale müssen geleert werden, wir brauchen Platz für neue Ware. Seit 2000 Jahren ist Umbruch, die Uhren beginnen zu rasen.

Hilfe verheißt die stille Nacht. Selbst Kirchenfremde füllen die Kirchen, um Ruhe zu erleben, das stehende Jetzt, das „was weder war, noch sein wird, sondern nur ist, das Sein in völliger Ruhe, ohne bevorstehenden oder dagewesenen Übergang in die Zukunft.“

In der stillen Nacht erleben die Menschen Ankunft, Angekommensein. Adventszeit war Erwartungszeit, Weihnachten ist Ziel, Heimat, Rückkehr zum Ursprung. Es kam ein Schiff gefahren, geladen bis an sein’ höchsten Bord – nun ist es

im Hafen angekommen, um seine kostbare Fracht den Menschen zu bringen.

Verheißung und Erfüllung nennen die biblischen Schriftsteller den Spannungsbogen. Kinder sprechen darüber: Ihr habt es versprochen, also müsst ihr es auch halten. Prosaischer könnte man von Bedürfnis und Befriedigung sprechen. Wären alle Menschen der Geschichte just in time satt geworden, hätt‘s nie ein Christkind gegeben, das den Menschen das Blaue vom Himmel versprochen, aber bis heute nicht eingehalten hat.

Die genialsten Religionen der Macht – die Erlöserreligionen – leben von der unnachahmlichen Kunst, etwas zu versprechen, ohne es einzuhalten, doch ohne dass die Menschen es bemerken. Solange sie noch dran glauben, erfüllen sie selbst ihre eigenen Erwartungen, in der irrigen Überzeugung, die Erfüllung käme von oben.

Jeder Glaube ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Alles machen die Menschen selber, doch sie wissen es nicht. Ihre Fähigkeiten werfen sie auf Autoritäten und Götter, weil sie nicht gelernt haben, an sich und ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben. Jeder Glaube an einen allmächtigen Gott ist eine Beraubung am Glauben an den Menschen. Nicht, dass der Mensch allmächtig wäre. Er träumt nur davon, ein Allmächtiger zu sein. Also erfindet er einen und fühlt sich eins mit ihm.

Wir befinden uns im Kindheitsstadium der Menschheit. Kinder haben noch kein abgegrenztes Ich. Ihr Ich verschwimmt mit dem ihrer Eltern, Geschwister, Freunden, ja der ganzen Welt zu einem kommunistischen Wir. Alles gehört allen, alle haben dieselben Verdienste, alles wird gleich verteilt, alles freut sich, alles trauert miteinander, alle helfen einander.

Wenn sie sich etwas erträumen, sind sie überzeugt, dass sie es erreichen werden. Sie sind allmächtig. „Sie“, das ist die ganze Welt, mit der sie in Einigkeit verbunden sind.

Gott der Allmächtige ist ein Kindheitsprodukt der Menschheit. Wer erwachsen werden will, muss einsehen, dass er nicht allmächtig ist. Er muss unterscheiden zwischen dem, was er kann – was die Menschheit kann – und was sie zusammen nicht können, aber vielleicht lernen könnten.

Kinder sind ohnmächtig und allmächtig in einem Augenblick, weil sie zwischen Einzel-Ich und Gesamt-Wir hin- und herschwimmen. So ist es mit dem allmächtigen Gott, der alles in der Kraft seines Wortes zuwege bringt, aber nichts zustande bringt. Seine Schöpfung entpuppt sich nach allzu schneller Selbstbewunderung als Machwerk, seine Kreaturen taugen in der Mehrheit so gut wie nichts, die Natur muss vollständig von der Festplatte genommen und eine neue installiert werden.

Gottes Sohn ist ein Rohrkrepierer. Er sollte die Unfähigkeiten des Clanchefs kompensieren und als messianischer Betriebssanierer wiederkehren, um den alten Saftladen abzuwickeln und einen neuen aufzumachen. Doch nirgendwo lässt er sich blicken. Wie ein Heiratsschwindler, der seiner Schönen baldige Wiederkehr und Hochzeit versprochen hat, ist er in den Tiefen des Universums verschollen.

Doch seine Fans warten und warten, bis sie schwarz geworden sein werden. Um das bescheuerte neue Modewort Prokrastination (Vertagung) zu benutzen, müsste man die ganze heilige Familie als Bankrotteursfamilie oder einen Prokrastinationsklub e.V. bezeichnen. Ein allmächtiger Gott verspricht und verheißt alles – Seligkeit in Ewigkeit, darunter geht gar nichts –, aber er hält nichts.

Damit der Loser nicht entdeckt und in Schimpf und Schande zum Teufel gejagt wird (die Erfindung des Teufels ist deshalb wichtig, weil man sonst niemand hätte, zu dem man einen Loser jagen könnte), schreibt man alle Schandtaten auf, erklärt sie zur heiligen Schrift und alle glauben an Glanz und Gloria des Firmengründers – im Bonus der Prokrastination und im Blankoscheck des Glaubens.

Keine Verheißung ist zwar bis jetzt eingetreten, könnte aber eines fernen Tages noch eintreten. Wer daran zweifelt, ist selber schuld. Würde er innig dran glauben, könnte er es noch erleben. Nicht der Versprechende ist in der Bringschuld, sondern der, der an die Erfüllung glauben soll.

Da kein Mensch beweisen kann, dass nicht doch irgendwann alles ganz anders wird, fühlt sich der Glaube unwiderlegbar. Was er, logisch gesehen, auch ist. Da jeder Glaube sich auf nichtexistente Dinge in nichtexistenter Zukunft bezieht, kann er nicht widerlegt werden.

Widerlegt werden können nur Ereignisse in genau angebbarer Zeit. Wenn der Berliner Flughafen bis zu einem bestimmten Termin nicht fertig gestellt worden ist, sind seine Erbauer überbezahlte Schwachköpfe. Das muss man nicht glauben, das beweisen sie täglich aufs neu.

Der allmächtige Gott ist das Produkt der Kindheitsepoche der Menschheit, als das damalige Kinder-Wir noch nicht zwischen Ich, Du, Er, Sie, Es, Wir, Ihr und Sie unterscheiden konnte. Bei einem frei flottierenden Ich gibt’s kein klares Subjekt der Haftung. Versagt jemand, kann er sich hinter einem diffusen Wir verstecken: Ich war‘s nicht, es waren Wir alle, es wart Ihr, es waren Sie.

Das reifende Ich muss seine Grenzen gegen alle andern Ichs abgrenzen, um seine Taten und die Reichweite seiner Verantwortung zu überblicken. Sein Handlungsrevier muss kartographiert werden, damit man die Schuldigen und die Verdienstvollen orten kann. Nur so lassen sich kausale Zuschreibungen herstellen. Wer hat was geleistet, wer hat Mist gebaut?

Nur auf der Basis genauer Ursachenforschung können wir lernen, wie wir‘s besser machen können. Wer Vorbildliches zustande brachte, von dem können wir uns was abschauen, wer nicht, dessen Fehler dürfen wir nicht nachahmen. Bei der Schuldsuche geht es nicht um metaphysische Schuld vor Gott, sondern um Irrungen und Wirrungen vor Menschen, die wir nur beheben können, wenn wir sie durchschaut haben.

Der Kind-Mensch hat den allmächtigen Gott erschaffen und an ihn geglaubt. Nicht als Ich, sondern als umgreifendes Wir. Es war der unbegrenzte Glaube des Kindes an sich, der es zur Schaffung eines omnipotenten Giganten anregte. Wollen wir erwachsen werden, müssen wir Grenzen ziehen. Es gibt Schwarmgeister – besonders unter Künstlern –, die nie erwachsen werden wollen, weil sie darunter verstehen: plump, steif und phantasielos zu werden.

Kinder können vieles, aber keine Verantwortung übernehmen; wenn die Hütte brennt, rennen sie zu den Erwachsenen, um Hilfe zu holen. Lebendige Erwachsene kann man von Kindsköpfen dadurch unterscheiden, dass sie zwischen Phantasie und Realität, Konjunktiv und Indikativ unterscheiden können. Sie sind Kinder geblieben, die ihre Grenzen erkannt haben.

Kindsköpfe bleiben auf dem Stadium allmächtiger Götter stehen, die ihr Werk einmal idolisieren und im nächsten Augenblick verdammen. Solch schwankenden Schwarmgeistern fehlt die Fähigkeit, schonungslos Bilanz zu ziehen: was haben wir erreicht? Was ist solide Planung, kalkulierte Prognose, wünschbare Projektion oder haltlose Prophetie?

Sie treiben orientierungslos im immergleichen Alles-oder-Nichts-Prinzip. Einmal himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt. Einmal alleskönnend, dann nichtskönnend. Einmal Schöpfer aus dem Nichts, dann Vernichter ins Nichts. Verwirrender und unzuverlässiger könnte die Bandbreite der Selbsteinschätzung nicht sein.

Wer erwachsen werden will, muss das schwankende Alles oder Nichts in einen operativen und kontinuierlichen Weg verwandeln. Welcher Einzelschritt ist uns gelungen, welcher zweite Schritt muss sich folgerichtig anschließen? Welchen falschen Schritt müssen wir berichtigen? Haben wir uns auf eine gemeinsame Schrittfolge unseres Lernwegs geeinigt? Das wäre rationale Weltpolitik.

Die Leitlinien der jetzigen Weltpolitik schwanken noch immer zwischen Allem und Nichts. Alles steht für Mars, Überwindung der Sterblichkeit, keine Krankheiten mehr, Symbiose mit superintelligenten Maschinen; das Nichts für apokalyptische Selbstvernichtung auf einer verwüsteten Erde. Nicht mal die absolut notwendigen ökologischen Fehler-Kompensationen schaffen wir, geschweige vorbeugende Fehlervermeidungen und gemeinsame Schritte – ja wohin?

Nicht mal ein gemeinsames Ziel haben wir. Die einen glauben an eine humane Utopie, die anderen halten das für einen gefährlichen, weil unmöglichen Schmarren. Der Mensch könne, wenn überhaupt, nur Pflästerchen auf die Wunden der Menschheit legen, die Wunden durch menschliche Betätigungen aber nie ausheilen.

Die Letzteren glauben noch an eine Unsichtbare Hand, die uns nicht im Stich lassen wird, auch wenn wir vor lauter Problemen nicht mehr aus den Augen schauen können. Die anderen halten diesen Glauben für eine brandgefährliche Angelegenheit, weil sie den Menschen dazu verleitet, nicht alles zu tun, was er könnte und sich mit Beten und Däumchendrehen zu begnügen.

Es ist wie mit der leidigen Entwicklungshilfe, bei der Obamas kenianische Schwester grade neulich ihre Landsleute mahnte, sich nicht auf die nächste Hilfe aus Europa zu verlassen, sondern selbst anzupacken und sich auf die eigenen Beine zu stellen.

Ein starrer Glaube kann zum Suizid führen, wenn er sich als Unbeweglichkeit definiert. Das ist die Hauptgefahr der gegenwärtigen Weltpolitik, die mehr unter dem Diktat des Glaubens an eine Unsichtbare Hand steht als unter dem Glauben an die sichtbaren Hände aller Menschen.

Die nicht mindere Gefahr ist die selbsterfüllende Prophezeiung dieses Glaubens an einen neuen Himmel und eine neue Erde. Was zur Voraussetzung die Vernichtung der alten Natur hätte und die Scheidung der Menschheit in Erwählte und Verworfene, die Trennung zwischen Reichen und Mächtigen auf der einen und Armen, Ohnmächtigen und Verhungernden auf der anderen Seite.

Wie können wir solche Probleme lösen, wenn wir noch nicht mal imstande sind, sie klar zu formulieren? Die biblizistischen Amerikaner, die auf die Wiederkehr des Messias zu ihren Lebzeiten warten, halten die deutschen, angeblich so aufgeklärten, Christen für komplette Heiden, weil sie den apokalyptischen Heilsweg Gottes mit ökologischen Maßnahmen verhindern.

Der kontinentale Streit zwischen christlichen Grundwerten steht noch auf keiner Agenda. Subkutan verachten die deutschen Schöpfungsbewahrer die Verbalinspirierten aus Texas als historisch-kritische Volltrottel, suprakutan die Amerikaner die Deutschen als teuflische Messias-Verhinderer. Kein Minister wird sich trauen, die trügerische Grundwerteharmonie zwischen den Freunden mit einem einzigen Wörtchen in Zweifel zu ziehen.

Wir sitzen im selben Boot, rudern aber entschlossen in entgegengesetzte Richtungen. Irgendwann wird das transatlantische Boot brechen.

Die Theologie des Allmächtigen Gottes entspricht der Psychologie der Kindheits-Epochen der Menschheit. Wir hatten uns ein Phantom ausgedacht, doch vergessen, dass es unser Phantom ist. Das Werk unserer Phantasie beteten wir wie ein objektives Wesen an, das uns aus all unseren Problemen retten wird.

Sollte es uns retten können, wären wir es, die uns gerettet hätten. Sollte es nicht – tatsächlich hat es noch nie der Menschheit geholfen, es war immer der Mensch selbst, der sich mit Hilfe seiner göttlichen Imagination half –, müssten wir ihn langsam zur Pensionierung vorschlagen, es muss ja nicht unter Hartz4-Bedingungen sein.

Die Pensionierung des Gottes wäre eine Grenzziehung. Wir müssen lernen, Phantasie nicht als Realität zu betrachten. Träume ich von 30 Talern, habe ich sie noch lange nicht in der Tasche, so simpel widerlegte Kant den wichtigsten Gottesbeweis. Kant zog eine Grenze zwischen Mensch und, nein nicht Gott, sondern seiner Gottesphantasie.

Natürlich kann man keine Götter erkennen, denn sie sind keine objektiven, von uns unabhängigen Fabelwesen. Sie sind unsere Erfindungen. Schauen wir auf unsere Einbildungskraft: dort werden sie nach Belieben ausgebrütet. Wer sie als Motivationshilfen seines Tuns benötigt – nur zu und Gottes Segen.

Wer sie aber als Popanze missbraucht, um seine Passivität zu legitimieren, der verrät die Menschheit und alle rationale Weltpolitik. Er betrachtet seine Immobilität sogar als Dankespflicht gegen den Herrn der Heerscharen, dessen Ehre darin besteht, dass der Mensch Ihn brauchen würde. Ja, dass der Mensch ohne Ihn nicht lebensfähig wäre. Das ist menschenfeindlicher Götzendienst.

Marc Beise stellt in der SZ fest, dass die Kirchen pünktlich zur Weihnachtszeit die üblichen menschheitsrettenden Forderungen in die Welt hinausposaunten: Liebe, Liebe, Liebe für die Frommen, für die anderen Solidarität – ohne dass ein Mensch diese Forderungen ernst nähme. Es sind Propagandasprüche von der Galerie, die kein Papst, kein evangelischer Bischof selbst in die Tat umsetzen will.

Die beiden großen Kirchen gehören zu den größten Arbeitgebern in der BRD, sind aber nicht mal bereit, ihre Abhängigen nach weltlichen Tarifen zu bezahlen. Die Kirchenoberen residieren wie Industriekapitäne, beuten den säkularen Staat aus und betreiben mit Steuern kirchliche Indokrinierungsarbeit.

Ihre Forderungen sind weiße Salbe, sie erfüllen nur die von den Eliten geforderte moralische Besänftigungspolitik. Die Massen sollen den beruhigenden Eindruck erhalten, im Staat werde den Mächtigen tüchtig die Meinung gegeigt.

Die Kirchen wollten von Anfang an keinen Staat reformieren, sondern ihn durch Herbeiflehen der Endzeit überwinden und vernichten. Die Steuern dem Kaiser, das Gebet dem Gott. Von Steuerermäßigungen für die Armen oder Steuererhöhungen für die Reichen war keine Rede. Der Klerus sollte die Gerechtigkeitswünsche des großen Haufens dämpfen zugunsten der Gerechtigkeit Gottes über den Wolken.

Von Anfang an bis heute spielen die Hirten Luftgitarren in Sachen Moral. Sie hauen mächtig in die Luft, tremolieren auf der Kanzel vortrefflich – doch kein Mensch hört etwas Konkretes. Pastor Gauck verlangt Solidarität – von wem? Hat er nicht eben noch Hartz4-Empfänger als Freiheitsallergiker beschimpft?

Die christogene Moral ist abstrakte Luftmoral und konkrete Pöbelbesänftigungsdroge. Luft-Forderungen sind nie falsch und können nie widerlegt werden, denn sie waren nie konkret. Das Problem der Folgenlosigkeit aller kirchlichen Moral ist kein Lapsus, sondern systematisch gewollt. Auch nicht mit Ökonomie zu lösen, wie Beise meint, sondern nur mit Abschaffung der unreifen Phantomtheologie. (Marc Beise in der SZ: „Jesus als Marke“)

Die Kirchen verlangen keine Reformen, denn sie halten den Menschen nicht für reformierbar. Die Sünden und Untugenden der Kreaturen könne man nur überschminken oder vertuschen, gründlich kurieren und ausheilen werde sie erst der Heiland am Ende aller Tage.

Die Frohe Botschaft schlägt die Wunden des Menschen, die sie zu heilen vorgibt. Was hätten die Himmelsärzte zu tun, wenn sie keine Kranken hätten? Also müssen sie erst mal für Kranke sorgen.

Beim Papst und Katrin Göring-Eckardt nicht anders. Sie fordern die Menschen auf, sich nicht von der immer schneller werdenden Zeit auffressen zu lassen. Dabei ist es die apokalyptische Beschleunigung der Endzeit, die die Menschen immer nervöser und hastiger vor sich hertreibt.

Die Hirten mit den sanften Stimmen versprechen den Menschen eine Vorahnung der Heimat in der Weihnachtsfeier, nachdem sie unisono und mit Jubel in der Stimme gesungen: Welt ward verloren. Die christliche Moderne gibt sich der freudigen Erregung hin, dass ihr Erlöser die irdische Heimat der Menschen zertrümmern will. Wenn das kein Wahnsinn ist, muss es eine Religion sein.

In der Weihnachtsfeier erleben die Besucher, was sie in Aufbietung ihrer letzten ehrlichen Sehnsüchte selber mitbringen: ihr Bedürfnis nach Ruhe, das einmal im Jahr für einen kurzen Augenblick auf seine Kosten kommen darf. Als Konzentrat aller Erinnerungen, die man irgendwie als Frieden empfunden hatte – wenn die Familie sich nicht vor lauter Friedenspflicht gegenseitig zerlegt hatte.

Wie irreal auch immer, das Bedürfnis nach Stille der Seele überwinterte und darf einmal im Jahr auf seine Kosten kommen. Paradies ist langweilig, aber einmal im Jahr für wenige Minuten erträglich.

Den Griechen gelang die Grenzziehung zwischen Mensch und Gott. Für Sokrates war es gleichgültig, ob es Götter gibt. Sollte es sie geben, werden sie genau so moralisch sein müssen, wie er seine autonome Moral durchdacht und praktiziert hatte. Sollten sie dennoch anderer Meinung sein, wird er sie in der Unterwelt in Grund und Boden debattieren.

Wir sind für unsere Moral allein zuständig, keine Götter können stellvertretend für uns handeln und uns zur Unmündigkeit verdammen.

Die Grenze gilt für beide Seiten: auch Götter haben zu respektieren, dass es zwischen ihnen und den Menschen einen Wall gibt, den sie nicht überspringen können.

Die frühgriechische Aufklärung war eine bis heute unerreichte Loslösung von potenten und omnipotenten Göttern der Kindheitsepochen der Menschheit. Götter, haltet euch raus aus unseren Angelegenheiten. Wir sind erwachsen geworden und regeln unsere politischen Probleme selbst. Ihr könnt euch aufs Altenteil zurückziehen.

Nicht zufällig entstanden an dieser Weichenstellung des Erwachsenwerdens Demokratie und Philosophie.

Was geschah zeitgleich im Lager der Erlösungstheologie? Der Sohn versuchte sich vom Vater zu lösen, scheiterte auf der ganzen Linie und kroch zurück zu den Fleischtöpfen des Vaters, der die schmähliche Niederlage des Sohnes als Fest feiern ließ.

Ein anderer Sohn wagte nicht mal diesen kleinen Emanzipationsversuch. Das Einzige, wozu er sich aufraffen konnte, war das Stoßgebet: Vater, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen. Doch dein Wille geschehe.

Es war der totale Triumph des Vaters, als der Sohn der Welt mitteilte: „Ich und mein Vater sind eins.“ Die Grenzziehung zwischen Vater und Sohn, Gott und Mensch misslang auf der ganzen Linie. Sie wurde nicht mal ernsthaft in Erwägung gezogen.

Der Westen hat sich dem Vater unterstellt, der eine selbstbewusste und reife Menschheit nicht duldet. „Weil ihr aber nicht aus der Welt seid, deshalb hasst euch die Welt.“