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Dienstag, 20. November 2012 – Himmler

Hello, Freunde der Gazetten,

Zeitungssterben in Deutschland? S‘wird höchste Zeit. Zeitungen sind reißerisch und duckmäuserisch, leben nur dem Augenblick und haben kein Gedächtnis. Schreiber passen sich jedem Zeitgeistgewäsch an und überbieten sich mit dem Geschrei der letzten Sekunde. Ihre Meinungen begründen sie nicht, weil sie sich für genial halten. Sie hassen ihre Leser und denken nicht daran, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Was methodisches Streiten ist, wissen sie nicht.

Schreiber fühlen sich erwählter als die Gewählten. Den Tätern der Geschehnisse neiden sie die Taten, die sie durch Endlos-Schwatzen übertünchen und übertrumpfen müssen. Ihre innerste Wunde, die sie streng vor sich verbergen müssen, wäre so zu beschreiben: sie fühlen sich überflüssig und nutzlos. Immer nur Worte drechseln und nichts Substantielles tun.

Was in der Vergangenheit geschehen ist, wissen sie nicht. Dass Vergangenheit uns bestimmt, interessiert sie nicht. Sachkenntnisse lehnen sie mit Entrüstung ab. Was sie einst per Zufall studiert haben, darauf bleiben sie bis zu ihrer Pensionierung sitzen. Ihrem Schreiben merkt man an, welch cleverer Generation sie entstammen, die es nicht mehr nötig hat, ihre Reserven zu überprüfen und Grundsätzliches hinzuzulernen.

Im Zweifelsfall stützen sie jene Eliten, die sie im Alltag zum Schein attackieren. Denn von der Stabilität der Etablierten hängt ihre Schreiberzunft ab. Das Volk, das sich

schreibend zu Wort meldet, hassen sie wie die Pest, weil dadurch die Aura ihrer Einmaligkeit flöten geht.

Ihre Zeitungen sind voluminöse Werbepakete, umrahmt von dünnen, nichtssagenden redaktionellen Mäntelchen. Eine normale Zeitung hat man in drei Minuten durchgeblättert, dann weiß man Bescheid.

Der Markt der Meinungen ist zu Meinungsmonopolen verkommen. Im Zweifelsfall, der zum Dauerzustand geworden ist, verteidigen Zeitungen das religiöse Macht- und Zensurklima, weil anders der Pöbel nicht zu reglementieren ist.

Im Nebenjob sind sie fast alle Laienprediger und aufrechte Verteidiger der 10 Gebote, der Bergpredigt, doch über Himmel, Hölle, dogmatische Naturfeindschaft und selbsterfüllende Apokalypsen ihrer heiligen Schriften schweigen sie.

Dass Demokratie nicht aus eigenen Werten leben kann und den Segen von Oben benötigt, ist inzwischen ihr Alpha und Omega. Aufklärung, der wir Demokratie und Freiheit verdanken, wird in ihren Verdunkelungspostillen immer mehr als totalitär verschrien. Der Ungeist der Deutschen Bewegung sprießt und wuchert fast in allen ihren Kommentaren. Der Begriff Deutsche Bewegung ist ihnen völlig unbekannt.

In der demokratiefeindlichen Postmoderne, in gefälligen Relativierungen der Menschenrechte, in ästhetischer Bewunderung des Grauenhaften und Absurden suhlen sie sich, hinter wertneutraler Distanz verstecken sie ihre Abneigung gegen universelle Rechte.

Auseinandersetzungen zwischen den Schreib-Päpsten gibt es nicht. Man belauert sich, um aus Nichtigkeiten läppische Skandale zu machen, um von den wahren Skandalen ihrer immer enger werdenden Perspektiven abzulenken.

Den Einbruch des Neoliberalismus haben sie alle geschichts-ergeben mitgemacht. Das Neue muss automatisch das Bessere sein. Selbst linke Gazetten zeigten sich allergisch gegen Gerechtigkeitsforderungen. Im Zweifelsfall, der zum Normalfall geworden, verfließt die Vierte Gewalt mit den Drei anderen zu einem Einheitsbrei.

Das Motto: wer mit uns hinaufgefahren ist, fährt auch mit uns hinab – gilt nicht nur für die Schreihälse der Zunft, sondern für alle selbstgefälligen Karriereförderer und -vernichter. Einrevierzeitungen quer übers Land sind unangefochtene Meinungszaristen. Sie bestimmen die Atmosphäre der Kommunen und zu hohem Teil die Politik der Reviergrößen, die bei ihnen hofbuckeln müssen.

Zeitungen bilden nicht ab, sondern inszenieren, was sie als objektive Berichterstattung verkaufen. Wahrheit ist für sie ein Traumtänzerwort. Was für sie wahr ist, müssen sie selbst konstruiert, lanciert und eingefädelt haben. Die ideellen Dumpfheiten und Ausdünstungen über der Republik sind in hohem Maß ihr Werk.

Nicht weniger schlimm ist nur noch das Publikum, das sich diese Wortemacher gefallen lässt. Zeitungssterben in Deutschland? Wir brauchen keine Erbhöfe von Meinungsmietlingen mehr.

Ach so, zwei oder drei Ausnahmen bestätigen die Regel.  

(Jürn Kruse in der TAZ: Lesen im 21. Jahrhundert)

 

Mit Eins plus haben die Deutschen ihre Vergangenheit bewältigt. Niemand fragt, ob sie dadurch klüger geworden sind, ob sie etwas gelernt und verstanden haben. Wie auch, wenn man aus der Geschichte eh nichts lernen kann? Wenn der Mensch an sich kein lernfähiges Wesen, wenn er nur eine maskierte Bestie und ein Sündenkrüppel ist?

Wenn man früher für natürliche Ereignisse keine Erklärungen hatte, griff man zu Gott. Gott wurde zum asylum ignorantiae, zum Zufluchtsort der Ignoranz, zum Füllsel der Unwissenheit, zum schwarzen Loch der Dummheit.

Heute ist das Böse an die Stelle des göttlichen Ersatzerklärens getreten. Warum verübten gebildete Deutschen schreckliche Verbrechen? Weil sie böse waren. Warum waren sie böse? Weil sie es waren. Das Böse ist unerklärlich. Da der Großteil der Geschichte aus Bösem besteht, ist ein Großteil der Geschichte weder versteh- noch erklärbar. Die Nebel von Avalon werden immer dichter und undurchdringlicher.

Die Aufklärer, von Newtons Naturerklärungen enthusiasmiert, wollten sich mit der Erklärung der Natur nicht zufrieden geben. Sie wollten auch die Geschichte verstehen. Also machten sie Geschichte zur Natur, die nach gleichem Muster von unveränderlichen und berechenbaren Gesetzen beherrscht wird wie die Natur. Nicht nur Condorcet, Comte, auch Marx gehörte zur Gruppe der Newtons der Geschichte.

Wenn man die Grundgesetze der Geschichte verstanden hatte, konnte man sie berechnen und ihren weiteren Verlauf prophezeien. Nein, prognostizieren. Prophetie geht mit Hilfe Gottes, Prognosen müssen mit Verstand betrieben werden.

Für Marx war die Ökonomie der Kern der Geschichte. Wer die Gesetze der Wirtschaft erkannt hatte, hatte das Geheimnis der Geschichte durchschaut und konnte sie bis Adam und Eva zurück- und bis ins Reich der Freiheit vorwärtsrechnen. Die Geschichte war nicht länger dubios, zufällig und willkürlich, nicht mehr von Gottes Ratschlüssen abhängig. Sie war so durchsichtig wie die Lösung einer physikalischen Berechnung.

Natur und Geschichte verwuchsen zu einer transparenten Riesenuhr, die keine prinzipiellen Rätsel mehr bot. Einige kleinere Unkenntnisse noch auswetzen, dann war man am Ziel. Als Max Planck am Ende des 19. Jahrhunderts Physik studieren wollte, sagte man ihm, er solle etwas Sinnvolleres studieren, das Fach habe alle Grundsatzfragen gelöst.

Rechtgläubigen Marxisten geht es nicht anders mit der Geschichte. Sie entwickelt sich nach Gesetzen der berechenbaren ökonomischen Materie, unbeeindruckt und unbeeinflussbar von menschlichem Tun und Machen – abgesehen von kleineren Beschleunigungen oder Verzögerungen des historischen Prozesses.

Klar, dass der Mensch in einer berechenbaren Geschichte nicht frei sein kann, sondern ihren Gesetzen untertan sein muss. Bis zum heutigen Tag hat sich an dieser determinierten Sicht von Mensch und Geschichte nicht viel geändert, obgleich der demokratische Mensch die größte Freiheit der Weltgeschichte genießen soll.

Vor kurzem noch sprach man vom Fortschritt, der unaufhaltsam die Menschheit beglücken wird. Oder vom unaufhörlich wachsenden Reichtum, der ultimativen Loslösung von der Natur, der baldigen Abwanderung der Menschheit ins Weltall, der Transformation des minderwertigen biologischen Menschen in eine immer vollkommenere Mensch-Maschine oder in ein unsterbliches Wesen.

Heute ist es weniger die Geschichte, die den Menschen dominiert, sondern das Gehirn. Die Gehirnforscher setzen an die Stelle der berechenbaren Geschichte das beobachtbare Gehirn, das uns zu Marionetten der Amygdala und anderer Gehirnregionen macht. Solange der Mensch eine berechenbare Maschine ist, kann auch seine Geschichte berechnet werden.

Ist der Mensch aber frei, werden seine Entscheidungen unübersichtlich, seine Geschichte löst sich von der Natur. Wäre die ganze Menschheit vernünftig, wäre die Geschichte wieder verlässlich und prognostizierbar.

Viele Modernen halten die vernünftige Verlässlichkeit für die Eigenschaft einer unfreien Maschine, weshalb sie lieber chaotisch sein müssen, um ihre angebliche Freiheit zu beweisen.

Auch Körperfunktionen des Menschen sind nicht mehr vorausschaubar, denn sie unterstehen dem Regiment des Geistes, dessen Entscheidungen nicht prognostizierbar sind. Dieselbe Krankheit führt bei dem einen zum Tod, beim andern, der sich gegen die Krankheit mit vitalem Lebenswillen wehrt, führt sie zur Genesung. Biologie ist dem Geist untertan.

Doch das geistigste Wesen ist nicht allmächtig und bleibt von Gesetzen der Biologie abhängig. Solange die Natur nicht anders entscheidet, werden wir sterblich sein. Die Freiheit des Geistes ist nur partiell und bleibt von biologischen und psychologischen Gesetzen abhängig.

Nach Meinung griechischer Philosophen sind diejenigen Menschen am freiesten, die sich paradoxerweise den Gesetzen der Natur am wenigsten widersetzen. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.

Doch halt, Notwendigkeit kann natürlich oder künstlich-politisch sein. In totalitären Regimes wird jene Freiheit propagiert, die identisch ist mit der devoten Zustimmung in die politische Unfreiheit. Je mehr ich meine Unfreiheit akzeptiere, je freier soll ich sein. Das ist die imitative Perversion der wahren Freiheit als Einsicht in die natürliche Notwendigkeit.

Wenn ich mich sinnvoll ernähre, gesund lebe, mich meines Daseins erfreue, bin ich am freiesten. Die Natur wird mich durch Krankheitssymptome nicht daran hindern, dass ich mich meiner Rechte erfreue und meinen Pflichten nachkomme. Je mehr ich die Gesetze meines biologischen und psychischen Leibes achte, umso freier werde ich all das tun können, was ich für richtig halte.

Das meinte auch Freud mit der Formel: wo Es war, soll Ich werden. Ich ist das freie Zentrum meiner Persönlichkeit. Freud hätte genauer formulieren können: wo Es und lebensfeindliches Über-Ich war, soll Ich werden. Auch die verinnerlichten Normen meiner Autoritäten, Religionen und Ideologien muss ich prüfen und korrigieren, wenn sie mich an der Lebensfreude hindern, zu rigide-einschränkend oder zu lax-haltlos sind.

Wenn ich mir durchsichtig, mit mir identisch geworden bin, habe ich die maximale Freiheit erobert, die mir möglich ist. Das merke ich daran, mit welcher Spannkraft, freudigen Erwartung und Neugierde ich meinen Aufgaben nachkommen kann. Bin ich müde, abgespannt, verdrossen, resigniert, geht meine Freiheit gegen Null. Ich werde zum Getriebenen meiner Umgebung und meiner persönlichen Zwänge.

Im Mittelalter wollte Gott sich von allen Naturbedingungen und Moralvorschriften lösen und die totale Freiheit für sich beanspruchen. Das war er auch schon in der Bibel, doch im Mittelalter begann die Einarbeitung des biblischen Denkens ins Grundgerüst der griechischen Philosophie. Es kam zum voluntaristischen Gott, dessen willensmäßige Freiheit unendlich und dessen Macht absolut war: das Vorbild aller totalitären Allmachtsdespoten von Hitler über Stalin bis zu den technischen und wirtschaftlichen Allmachtsphantasien unserer gottebenbildlichen Modernisten.

 

Und nun zur Frage, welche Faktoren ursächlich daran beteiligt waren, die Deutschen ins Verderben zu bringen? Dazu ein Blick in die Himmler-Biografie von Peter Longerich, in der SZ von Franziska Augstein besprochen.

Es beginnt mit einer geheimnisvollen Formel: „weniger antisemitisch als antichristlich“. Sind das nicht zwei austauschbare Begriffe? Heute, nach vielen Schminkaktionen – sprich neuen Schriftdeutungen – natürlich nicht mehr. Wie man weniger antisemitisch sein soll, wenn man einer der größten Judenschlächter in der Geschichte ist, bleibt ein Rätsel des Verfassers.

Dann die standardisierten Klischeezuschreibungen, denen kaum ein Nazi entgeht: „heuchlerisch und sexuell verklemmter Zyniker“. Womit klar ist, der Herr glaubte nicht an seine Ideologie, er benutzte sie nur zynisch.

Die NS-Ideologie ist damit bereits im Vorfeld aus dem Rennen, der Rest ist großbürgerliche Abscheu gegen kleinbürgerliche Spießer, die aus sexuellem Frust zu Massenmördern wurden. Ein Casanova wie Goebbels hätte demnach kein Nazi werden können, vermutlich nicht mal Zyniker. Nazis sind kleine von unten gekommene linkische Typen, die verklemmt herumlaufen, den ganzen Tag heucheln und den Mädchen nicht in die Augen schauen können.

Heucheln heißt, etwas anderes sagen, als man denkt. Da müssen die NS-Schergen die lautersten und aufrichtigsten aller Deutschen gewesen sein. Denn ihre gesamte Blut- und Bodenideologie haben sie millionenfach gesagt, geschrieben, gepredigt und vor allem in die Tat umgesetzt. Warum soll „Mein Kampf“ noch immer der Öffentlichkeit entzogen werden, wenn dort nur harmlos Heuchlerisches stünde?

Man weiß, dass Franziska Augsteins Vater Rudolf die Goldhagenthese einer allgemeinen antisemitischen Verseuchung der Deutschen mit Vehemenz ablehnte. Er selbst kam aus einem nazikritischen katholischen Elternhaus und wollte das Verhängnis auf wenige Zirkel der NS-Eliten beschränken. Deutschsein an sich hatte mit Hitler nichts zu tun, es waren nur ein paar Zyniker, die mit raffinierten Werbemaßnahmen den einfältigen, blutgierigen und verklemmten Pöbel verführten.

In einer der ersten Hitler-Biografien von Werner Maser wurde der Führer als analphabetischer Kretin dargestellt, der nicht bis drei zählen konnte und unausweichlich zum beruflichen Totalversager werden musste. Es wäre eine interessante Frage, wie dämlich die Deutschen gewesen sein mussten, dass sie einem solchen Volltrottel verfielen.

Dieser kretinistische Faden zieht sich so lange durch die folgenden Hitler-Biografien, bis die Chose kippte und der Führer zum genialen Uomo universale aufstieg, der sich blitzschnell in ein Gebiet einarbeiten und mit fabelhaftem Gedächtnis selbst die größten Experten immer wieder verblüffen konnte.

Wie wär‘s mit einer Umfrage unter den Deutschen, ob sie lieber einem Allroundgenie oder einem Gehirngeschädigten erliegen wollen?

Himmlers Lieblingswort „anständig“ ist kein Beweis für seine Heuchelei. Er meinte das absolut ernst. Anstand heißt, den richtigen Regeln folgen. Im Privatleben der blonden Herrenrasse hat man fürsorglich und lieb zueinander zu sein, im politischen Leben hat man den Regeln der Natur oder der Geschichte zu folgen und das schädliche Unkraut zu jäten. Im Geist emotionsloser Korrektheit gegenüber dem Auftrag der Vorsehung. Mit Eifer, aber ohne persönlichen Zorn. Was alles zum Anstand gehört.

Die Sieger der Geschichte hassen ihre Feinde nicht, sie erledigen treu und gewissenhaft ihre eschatologischen Pflichten. Um nach erledigter Arbeit entblößten Hauptes vor der Geschichte zu sagen: Wir waren nur nützliche Knechte, haben nur unsere Pflicht getan.

Augstein hält es für einen Vorzug des Buches, dass es nicht nur Fakten erzählt, sondern auch die psychischen Umstände schildert, die „einen Menschen zu seinen Taten treiben“. Viel versprochen, nichts gehalten. Longerich selbst räumt ein, dass die biografischen Einzelheiten Himmlers nicht ausreichen, um den Werdegang des Reichsführers SS zu einem Monstrum zu erklären.

Der Grund wird sofort klar, wenn man liest, wie der Vater Himmlers geschildert wird. Zwar streng und deutschnational, doch mit einem „liebevollen Interesse“ für seine Kinder. Offenbar hat der Historiker eine wütende Bestie à la Dutroux erwartet, der zum Frühstück regelmäßig kleine Kinder verspeist. Grotesker kann man Psychologie nicht betreiben. (Aus Dutroux wäre auch niemals ein Himmler geworden).

Weiß der Historiker nicht, dass Naziväter vorbildliche Väter waren, Kinder und Schäferhunde wahrhaft liebten? Dass ihre „Libido“ vollständig entmischt und nur aufs Private konzentriert war, um die Todeswünsche dem Feinde vorzubehalten?

„Eine Auflehnung gegen den strengen Vater sei nicht wahrnehmbar gewesen“? Auflehnung gegen Väter ist nur für Alt-68er ein Naturgesetz. In den meisten Kulturen ist sie unbekannt. Je humaner eine Kultur ist, umso weniger tritt sie auf. Warum sollten Kinder sich gegen Väter auflehnen, wenn sie von ihnen gut behandelt werden und jene auch sonst keinen Anlass zur Auflehnung geben? Wie etwa Heuchelei, schikanöse Ungerechtigkeit oder sonstige Infamien?

Viele Nazi-Führer waren glänzende Pädagogen, entstammten oft der Wandervogelbewegung, hatten sich mit freien Erziehungsprinzipien auseinandergesetzt und wollten den neuen Menschen schaffen, rechtwinklig an Leib und Seele.

Die Liebe zu den Zöglingen war ein Teil des Programms, das seit Stefan George bis zur homosexuellen Praxis reichte, in den damaligen Landschulheimen bis zur Pädophilie (Gustav Wyneken). Die gegenwärtige Odenwaldschule-Affäre ist ein Nachläufer dieses „pädagogischen Eros“ der deutschen Gräcophilie, die um die Jahrhundertwende in der deutschen Jugend aus Theorie in Praxis umschlug.

Hans Blüher hat über die ersten Sexualerfahrungen in den Zelten der Wanderer seine Aufsehen erregenden Bücher geschrieben. Es war die Liebe zum eigenen Fleisch und Blut, in welchem man die zukünftigen Generationen einer neuen weltbeherrschenden Rasse sah und in denen man sich selbst bewunderte. Die Väter als potentielle Helden waren den meisten Jungen nachahmenswerte Vorbilder.

Eine neue Spur des potentiellen Bösen tut sich auf: Himmler hat Probleme mit Frauen. Dagegen hilft in der Tat nur die Karriere eines Gewaltverbrechers, der nach damaligen Maßstäben gar kein Verbrecher, sondern ein vorbildlicher Geschichtsvollstrecker war.

War Himmler antichristlich? Da muss man schon neudeutscher Historiker sein, um solchen Unsinn zu verzapfen. Die Nationalsozialisten waren anti-klerikal, nicht antichristlich. Sie wollten in Gehorsam vor dem Gott der Vorsehung das 1000-jährige Reich mit Feuer und Schwert etablieren. Das wahre Christentum wollten sie unter dem Schutt der kirchlichen Verfälschungen ausgraben und ins Leben zurückbringen.

Das Heldentum der ecclesia militans war für sie die leitende Idee. Jesus war ein indogermanischer Held – dessen Vater ein blonder Römer namens Panthera gewesen sein soll –, der seine Feinde mit der Peitsche verjagte und für immer ins höllische Feuer schickte.

Himmler ließ die Geschichte der Germanen erforschen, um untergründige Zusammenhänge zwischen ihrer wilden Tapferkeit und dem unbezwinglichen Heroismus des Urjesus ausfindig zu machen. Überall, wo Helden in der Weltgeschichte zu entdecken waren, konnte man nach Himmler von arischen Langzeitwirkungen sprechen, die bis tief in den Himalaya ihre Spuren hinterlassen hatten. Weshalb er auch im buddhistischen Tibet nach psychischen Machttechniken der Arier forschen ließ.

Wie bei Breivik wird die Misere eines Menschen als privatistischer Psycho-Tumor eines Einzelnen betrachtet. Die Biografie eines Einzelnen ist nicht die Ursache ihrer selbst, auch nicht die Biografie des Vaters.

Massenneurose schützt vor Einzelneurose. In einem pathologischen Kollektiv kann der Einzelne völlig harmlos scheinen. Das Kollektiv muss erforscht werden, um das Individuum zu erklären. Es kann nur im Spiegel seiner Geschichte erkannt und erklärt werden. Die Geschichte des deutschen Kollektivs glänzt bei Longerich durch Abwesenheit.

Täter Breivik war Opfer der norwegisch-europäischen Umstände. Täter Himmler war Opfer der deutschen Sonderwegverhältnisse seit der Epoche der Romantik, die sich von der Aufklärung abgewandt hatte, um sich eine Helden-, Eroberungs- und Vernichtungsideologie zuzulegen, die in Nietzsches ekstatischer Prosa ihren Höhepunkt fand. Auf seine Frage, wo sind die Barbaren des 19. Jahrhunderts, konnte die SS mit einem zackigen „Hier!“ antworten, wie Alexander Rüstow formulierte.

Über diese verhängnisvollen Faktoren der deutschen Entwicklung kann man in Longerichs Buch offenbar kein Wörtlein lesen. Seine Vorstellungen einer biografischen Anamnese sind lächerlich, von einer Deutschen Bewegung weiß er nichts zu sagen.

Denselben Fehler wie Longerich machte Theweleit in seinen – einst von Vater Augstein – gerühmten „Männerphantasien“, in denen er viel tiefenpsychologische Einbildungskraft entwickelte, aber vor lauter selbstverliebter Tiefenguckerei die Bäume mit dem Wald verwechselte. Auf Theweleit verweist Tochter Franziska, um Himmlers Psyche mit seinen wirren Konstrukten zu erklären. Nicht alles, was ihr Vater rühmte, war wirklich genial.

Sollte man Longerichs Buch und Augsteins Rezension als typische Beispiele der deutschen Vergangenheitsbewältigung nehmen – man sollte –, so wäre die Frage: was haben die Deutschen von ihrer Vergangenheit begriffen? mit Hinweis auf das Böse zu beantworten. Das Böse ist nicht erklärbar und nicht verstehbar. Wir wissen nichts und wir werden nichts wissen.