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Dienstag, 15. Januar 2013 – Vom Vergleich der Mächte

Hello, Freunde der Ergotherapie,

Arbeit sei gesund und schaffe Zufriedenheit, besonders die unbezahlte Mehrarbeit, sagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Die Krankenkassen sollten sich für den Gesundheitsdienst bei den Arbeitgebern pekuniär erkenntlich zeigen. Neumodische Seelenleiden gingen auf das Konto des Privatlebens oder der Freizeit. Die Unternehmen könnten aber nicht alles reparieren, was in den Familien schief laufe. Da hülfe nur die totale Abschaffung der Freizeit und des Privatlebens, spottet Andre Mielke in der BLZ.

Durch Freiheit sei der Mensch grundsätzlich überfordert, sagen neoliberale Vertreter der Freiheit. Weshalb man ihn zur Malocherfreiheit zwingen müsse, damit er richtig frei werde. Capisco?

Selbiges sagen übrigens auch Lehrer. Die Erziehungsdefizite der Familie könne die Schule nicht auffangen.

Dann hilft nur noch eins: die Familie abschaffen, Vater und Mutter in die Jungbrunnenmühle der Industrie schicken, dass sie pumperlgesund werden und endlich vom Wahn lassen, sie könnten ihren Kindern Gutes tun. Kinder werfen, in der kapitalistischen Kinderkrippe abliefern, nicht öfter als zweimal im Jahr besuchen. Das muss genügen für die christliche Famillje.

 

Starke Frauen, die Erfolg im Leben haben, sind die stärksten Widersacherinnen weiblicher Emanzipation und strikte Gegnerinnen der Frauenquote. Da sie der illusionären Meinung sind, sie hätten ihren Erfolg nur sich selbst zu verdanken, wollen sie keine konkreten Veränderungen der Gesellschaft, um ihren

Geschlechtsgenossinnen die Karriere zu erleichtern. Sie haben die amerikanische Grundstory übernommen, jede Frau habe ihr Glück selbst in der Hand.

Erfolgreiche Frauen sind die eifrigsten Jüngerinnen des Neoliberalismus und ähneln den Aufsteigern der SPD-Proletenpartei, die ihren Aufstieg auch nur sich selbst zu verdanken haben. Wer es nicht schafft, muss selbst schuld dran sein. Die SPD-Elite ist neoliberal, die Basis ein bisschen sozialdemokratisch. Doch nur solange sie es nicht nach oben geschafft hat. Dann gilt: siehe oben.

Diese Spaltung macht die alte Parteitante so erfolgreich. Ihr Matador Steinbrück beschwerte sich, dass die Kanzlerin ihn in der Finanzkrise nicht angerufen habe, „ich solle doch mal auf eine Tasse Wein herüberkommen“. Einfühlsam sprach er bescheiden von einer Tasse Wein, damit niemand auf die Idee komme, es könnte sich um einen edlen Pokal mit einem kostbaren Tropfen handeln. Dem Mann, der aussieht, als habe er sein Monokel vergessen, muss man sogar zutrauen, dass er Eierlikör aus der Studentenmütze säuft.

 

Zum ersten Mal, dass man Gideon Levy von der Fraktion der Selbsthasser in der TAZ lesen kann. Er gehört zur Redaktion der Haaretz und ist einer der unerbittlichsten Kritiker der israelischen Politik.

Levy wünscht sich, dass die Rechtesten der Rechten die bevorstehenden Wahlen gewinnen werden. Hat er die Seiten gewechselt? Nein, aus paradoxer Intervention. Nur wenn alle Rechten ihre menschenfeindliche Politik kompromisslos durchführen könnten, würde die Welt endlich begreifen:

Nur mit einer Regierung von Danny Danon (Likud-Abgeordneter, der sich gegen die Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen hat) und Tzipi Hotovely (Likud-Abgeordnete, die den Kampf der Palästinenser als religiösen Kampf des Islam bezeichnete) wird die Welt und Israel das wahre Gesicht des Landes erkennen. Nur mit einer Lieberman-Shamir-Regierung werden all die verrückten Ideen endlich in der Praxis getestet. Nur mit einer Regierung von Benjamin Netanjahu und Miri Regev (Likud-Abgeordnete, die die afrikanischen Migranten in Israel als „Krebsgeschwür“ bezeichnete) werden endlich alle aufgeweckt werden. Schluss mit all den doppelzüngigen Regierungen; wir wollen endlich die wahre Liebe, nach der sich die meisten Israelis sehnen.“

Nur wenn die neue Regierung ungehindert transferiere, annektiere, die Medien einschränke und den Obersten Gerichtshof kastriere, werde sich die Welt einmischen. Von dieser Welt hört man hierzulande in Ansätzen nur bei Jakob Augstein. Seinen deutsch-jüdischen Zensoren sollte man endlich das Monopol bestreiten, Experten in Antisemitismus zu sein. Monopole der Wahrheit kann es in Demokratien nicht geben. Weder von Tätern noch von Opfern. Im Interesse dieser Opfer und Täter.

Levy über die paradoxe Intervention: „Wir werden sehen, was am Tag nach dem Transfer und der Nacht nach der Annektierung geschehen wird. Wir werden sehen, ob wir wirklich in einem Land ohne Journalismus leben wollen, ohne Menschenrechtsgruppen und ohne den Obersten Gerichtshof, ohne Araber, ohne den Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, ohne Migranten und mit Apartheid als erklärter Politik. Wir werden sehen, wie man in einem Land lebt, dem aus dem Weg gegangen und das boykottiert wird, ohne Unterstützung der Vereinigten Staaten und aus Europa. Nicht mal die Färöer-Inseln werden uns helfen. Wir werden sehen, ob wir einen solchen Staat am Leben erhalten können.“

Israel steht kurz davor, sich als Demokratie abzuschaffen. Und selbsternannte Antisemitismus-Experten in Deutschland haben nichts Besseres zu tun, als jene, die davor warnen, als Feinde von Eretz Israel kalt zu stellen. Das deutsch-jüdische Verhältnis ist ein Tollhaus.


In Amerika kommen die Neokonservativen wieder an Deck. Nach dem Abgang von Dabbelju waren sie im Maschinenraum abgetaucht. Nun rüsten sie gegen den neuen Verteidigungsminister Obamas, Chuk Hagel, der es gewagt hat, den Begriff Israel-Lobby in den Mund zu nehmen, Netanjahu zur Friedenspolitik zu ermahnen und Amerikas Interessen von denen Israels zu unterscheiden. Ich bin amerikanischer Senator, kein israelischer, soll er gesagt haben. Das müsste ihn für alle Zeit und Ewigkeit als amerikanischen Politiker desavouieren – nach Meinung der nicht existenten Israel-Lobby.

Neokonservative sind enttäusche Linke, die aus ihrer Enttäuschung – dass die Welt nicht binnen kurzer Zeit sozialistisch geworden ist – die Konsequenzen zogen, der bösen Welt wenigstens die Demokratie zu bringen. Wenn nicht anders, mit niedlichen Flugzeugträgern und Raketen, auf denen oft zu lesen ist: Ich liebe Jesus. Nach unbestätigten Zeugenberichten soll der Genannte erfreut sein über diese Form der Liebeserklärungen.

Links sein ist ein gefährlicher Job. Vor allem, wenn man glaubt, dass der messianische Marx noch zu Lebzeiten das Reich der Freiheit bringen wird. Wenn nicht, muss aus Zorn und Ärger die Welt beschossen werden. Besonders in jenen Ländern, in denen das Böse haust. Beispielsweise im Irak des Saddam. Also hetzten die Neocons mit Hilfe faustdicker Lügen das amerikanische Militär gegen das despotische Regime im Zweistromland. Noch heute halten sie daran fest, dass der Feldzug richtig war: „Ist der Irak ohne Saddam Hussein nicht ein besserer Ort?“

Schulter an Schulter mit Netanjahu hetzen die Neocons gegen den Iran: „Glaubt irgendjemand, eine iranische Atombombe ließe sich kontrollieren?“ Zur Gruppe der Weltbeglücker per Militär – eine außenpolitische Variante des platonischen Faschismus – gehört auch Robert Kagan, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel: „Die von Amerika gemachte Welt“.

Der monströse Titel kann nur bedeuten, dass Amerika die Welt erschaffen hat. Im Anfang schuf Amerika Gott und die Welt. Amerikas Licht schien in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen. Also musste man der Finsternis Beine machen mit Drohnen und Infanterie. Wer nicht hören will, muss fühlen: Finsternis.

Was ist der Unterschied zwischen amerikanischem und deutschem Denken? Deutsche Künstler wollen die Welt überschwärzen, Amerikas Gesamtkünstler bringen das unauslöschliche Licht. Das ist der Unterschied zwischen deutschem Schwarzmalen und amerikanischem Flutlicht – oder zwischen Pessimismus und Optimismus.

Einer der wichtigsten Väter der Neokonservativen ist Leo Strauss, Schüler des Nazi-Juristen Carl Schmitt und Bewunderer von Machiavelli. Strauß vertrat die Lehre, dass „das Volk von der Elite belogen werden müsse.“ Dies ergab sich aus seinem tiefen Misstrauen gegen die liberale Gesellschaft. Dem Volk solle man den Mythos von einer freien Gesellschaft vorschwindeln, selbst aber auf keinen Fall dran glauben. Unter Freiheit würde der Pöbel nämlich das Recht verstehen, alles in Zweifel zu ziehen, was die ganze Gesellschaft zerstören würde. Mit allen möglichen Tricks öffentlicher Beeinflussung sollte man den Großen Lümmel an die Kandare nehmen.

Das also ist das Geheimnis der gigantischen Freiheit des Liberalismus – der Mythos des 21. Jahrhunderts, eine nützliche Lüge. Wenn man nur beharrlich lügt, werden selbst die größten Zweifler einlenken: das kann keine Lüge sein. Und also glauben sie.

Das philosophische Fundamentalproblem der Moderne ist nach Leo Strauß der verdrängte Gegensatz von „Athen und Jerusalem“. Strauß bezog sich auf eine Formulierung des alten griechenhassenden Kirchenvaters Tertullian, der die neuen christlichen Schulen von heidnischem Bildungsstoff befreien wollte, um die frommen Eleven nicht in Versuchung zu bringen: „Was hat Athen mit Jerusalem, die Akademie mit der Kirche gemein“? (Die Akademie war die Philosophenschule Platons in Athen.)

Athen stand für freie Vernunftäußerung, Jerusalem für göttliche Offenbarung, der kein Mensch widersprechen durfte – wenn er nicht in der Hölle verschwinden wollte.

Seit die Ultras nicht nur Jerusalem bestimmen, sondern den Geist der israelischen Regierung, gilt heute erneut, dass den Offenbarungen aus Jerusalem niemand in der Welt widersprechen darf. Falls doch, siehe Augstein.

Insofern ist die Augstein-Debatte eine unbewusste Wiederholung der Debatte zwischen griechischer Vernunftautonomie und jüdisch-christlicher Unfehlbarkeit. Das Kürzel Antisemitismus ersetzt den früheren Begriff der Ketzerei oder Blasphemie. Da kann Augstein froh sein, dass er mit Nennung auf einer schwarzen Liste davongekommen ist.

Leo Strauß hat vollkommen recht, wenn er als Grundkonflikt der Moderne den unüberbrückbaren Gegensatz von Offenbarung und Vernunft nennt. Strauss setzte nicht auf Vernunft. Für ihn gab es nur einen Weg, den Widersprüchen der Moderne zu entkommen: die Rückkehr zum orthodoxen jüdischen Glauben. Die heidnische Demokratie der Gegenwart wollte er mit Hilfe frommer Lügen zurückbringen zu den Ankerplätzen Gottes oder in den umzäunten Stall der Schafe.

Das gelingt den Neocons, in Kooperation mit Hirten aller Konfessionen, aufs Beste. Die Kirchen haben Oberwasser. Nicht unbedingt unter den Völkern, mit Gewissheit aber unter den wirtschaftlichen und politischen Eliten der Welt. Die Weltpolitik ist zum kriegerischen Schauplatz diverser Heilsbotschaften geworden, die im Endkampf der messianischen Geschichte sich den größten Teil der finalen Beute sichern wollen.

(Sebastian Fischer und Gregor Peter Schmitz im SPIEGEL: Rückkehr der Bush-Krieger)

 

Auch Uri Avnery gehört zu den israelischen Selbsthassern, weswegen ihm Chuk Hagel so gefällt. Hierzulande wird man als unverbesserlicher Antisemit eingestuft, wenn man Israels Macht in der Welt überschätzt. Da muss es Experten geben, die diese Macht mit der Diätwaage auf das Gramm genau einschätzen können. Schon bei der Erwähnung des Wortes „Israel-Lobby“ giftet Michel Friedman in Talkshows, man müsse sich erst mal die anderen Lobbygruppen in Washington anschauen, bevor man fahrlässig die israelische herausgreife.

Da hat er recht, man muss alle Lobby-Gruppen unter die Lupe nehmen, weshalb sie sich im Berliner Parlament anmelden müssen. Nur Transparenz der Macht kann die Macht kontrollieren. Das gilt natürlich auch für die Einschätzung der Weltmächte.

Ist Amerika noch immer Nummer eins der Völker? Ist Peking dabei, Washington zu überholen? Stimmt es, dass in den nächsten zwei Jahren die vereinte Wirtschaftskraft der Schwellenländer die des Westens überflügeln wird? Die verlässliche Einschätzung der Machtkonstellationen gehört zum wichtigsten Instrumentarium einer politischen Analyse.

Jedermann weiß, dass die israelische Macht weit über das kleine Land hinausreicht und sich in unbekanntem Maß über Amerika erstreckt. Jetzt nähern wir uns einem uralten wunden Punkt. Wie stark ist die Macht des „internationalen Judentums“, wie die Nationalsozialisten bedrohlich formulierten? Seitdem die deutschen Schlächter ihre Einschätzung der jüdischen Weltmacht als Vorwand für ihre Vernichtungspolitik nutzten, steht dieser Punkt unter einem absoluten Tabu.

Die jüdische Sensibilität bei diesem Trauma ist nachzuvollziehen. Dennoch ist die Verschweigung der Wunde keine Heilung der Wunde. Im Gegenteil, nur Offenheit kann zur Ausheilung der Wunde führen. Wird die Macht der Juden tabuisiert, wird sie in der Weltöffentlichkeit noch höher eingeschätzt, als sie vermutlich ist. Um den Punkt vollends zu vernebeln, hat man den Mythos vom Protokoll der Weisen aus Zion in die Debatte eingeführt. Man benutzt eine Verschwörungstheorie, um eine Verschwörungstheorie zu entlarven. Das ist so genial wie überflüssig und lenkt vom Entscheidenden ab.

Um den Machtwillen einer Erlösungsreligion zu erkennen, muss man ihre jeweiligen Heiligen Bücher zur Kenntnis nehmen. Sonst nichts. Hier ergibt sich für alle drei Erlöserreligionen die gleiche Diagnose. Mose, Jesus und Mohammed – nach Kaiser Friedrich II die drei Hauptbetrüger der Menschheit – wollen alle drei den finalen Sieg der Heilsgeschichte. Ihre Gläubigen brauchen keine konspirativen Verschwörungslokale, V-Leute und Geheimagenten. Sie brauchen nur gewöhnliche Kirchen, Synagogen und Moscheen und die Macht ihres subjektiven Glaubens.

Glauben ist selbsterfüllende Prophetie. Tun die Gläubigen nicht, was sie zu glauben vorgeben, glauben sie auch nicht.

Die aus Hass und Neid geborene Überschätzung der jüdischen Macht lag in der Ausblendung der Machtgelüste religiöser Rivalen. Man muss jede Macht in der Weltpolitik mit jeder vergleichen, um ihren Einfluss angemessen einzuschätzen. Die Überschätzung der jüdischen Macht war ein gewünschter Effekt der Unterschätzung der christlichen Staaten. Wer nach jüdischer Macht fragt, muss auch nach der des Vatikans, des Calvinismus, des Luthertums, der orthodoxen Kirchen, der Sunniten und Schiiten fragen. Darüber hinaus die des Hinduismus, des Buddhismus, des japanischen Zen-Buddhismus und des Konfuzianismus.

Macht besteht nicht nur aus Wirtschaftsdaten und der Anzahl von Atombomben. Die materiellen Daten der Macht müssen mit dem spirituellen Fanatismus der Religionen und Weltanschauungen multipliziert werden. Wer nicht alle Machtfaktoren ins Kalkül ziehen will, sollte von einzelnen die Finger lassen.

Es war die Arroganz christlicher Staaten, die jüdische Macht zu dämonisieren, die eigene Macht aber unter den Teppich zu kehren. Hier spielten die Juden ihre aufoktroyierte klassische Rolle des Sündenbocks. Macht besaßen nur die Juden, die Weltmacht der Engländer und Amerikaner verstand sich von selbst.

Es gehört zu den machiavellistischen Machtspielchen der Großmächte, die Macht der andern zu dämonisieren und die eigene zu verharmlosen. Was die jüdische Macht in den USA betrifft, hat Uri Avnery folgende Eindrücke:

„US-Senatoren sind fast alle israelische Senatoren, und dasselbe gilt auch für die US-Kongressmänner. Kaum ein einziger von ihnen würde es wagen, die israelische Regierung bei irgendeinem Problem zu kritisieren, auch wenn es noch so klein wäre. Israel zu kritisieren, ist politischer Selbstmord. Die jüdische Lobby verwendet ihre riesigen Ressourcen nicht nur dafür, dass loyale pro-Israel-Leute gewählt und wiedergewählt werden, sondern nützt diese Ressourcen offen dafür, dass die paar Gewählten, die es wagen, Israel zu kritisieren, abgewählt werden. Sie haben fast immer Erfolg.“

Das Fazit Avnerys ist eindeutig. Die Nahostpolitik Washingtons wird seit 5 Jahrzehnten von einem fremden Land diktiert. „AMERIKANER müssen fast wie Engel sein – wie sollte man sonst ihre unglaubliche Geduld erklären, mit der sie die Tatsache hinnehmen, dass auf einem lebenswichtigen Sektor der US-Interessen die amerikanische Politik von einem fremden Land diktiert wird? Mindesten seit fünf Jahrzehnten ist die Nahostpolitik der USA in Jerusalem entschieden worden. Fast alle amerikanischen Offiziellen, die sich mit diesem Gebiet befassen sind jüdisch. Der hebräisch sprechende amerikanische Botschafter in Tel Aviv konnte leicht durch den Botschafter in Washington ausgetauscht werden. Manchmal frage ich mich, ob sie bei Treffen amerikanischer und israelischer Diplomaten nicht manchmal ins Jiddische geraten. Ich habe viele Male davor gewarnt, dass dies nicht auf immer so gehen kann. Früher oder später werden echte Antisemiten – eine widerliche Brut – diese Situation ausnützen, um Legitimität zu erlangen. Die Hybris von AIPAC könnte giftige Früchte tragen.“

Das Verschweigen der jüdischen Macht wird das Gegenteil von dem erreichen, was damit beabsichtigt wurde. Die Brut der wirklich giftigen Antisemiten wird das Faktum der realen Macht – die sich nicht ewig verstecken lässt – als Munition gegen die Juden benutzen. Sie werden die rhetorische Frage stellen, warum verschweigen die Juden ihre Macht, wenn nicht zur Bemäntelung ihrer wirklichen Macht?

Mythen und Klischees werden nicht durch Gegenmythen, Denk- und Wahrnehmungsverbote widerlegt. Sondern allein durch die Realität. Verschwörungen sind nicht per se falsch. Jede Verschwörungstheorie muss als Hypothese betrachtet werden, die an der Wirklichkeit überprüft werden muss. Also müssen alle relevanten Fakten und Daten auf den Tisch.

Die Veröffentlichung des Buches „Die Israel-Lobby“ von Mearsheimer und Walt hat die Situation nicht verschärft, sondern entschärft. Aufklärung ist friedensstiftend. Hier hat der Heilige des Evangelii recht: Die Wahrheit wird euch frei machen, zumal er diese Weisheit von Sokrates übernommen hat.

Würden die Medien die jüdischen Machtverhältnisse in Amerika realistisch schildern, würde sich, nach Avnerys Vermutung, herausstellen, dass die Macht der rechten israelischen Regierungen enorm im Abnehmen ist. Netanjahu kann sich nur auf eine Clique von Funktionären stützen. Die Basis junger jüdischer Amerikaner löst sich immer mehr von der Unterstützung einer menschenfeindlichen israelischen Politik: „Amerikanische Politiker beginnen zu realisieren, dass die jüdischen Wähler weit davon entfernt sind, einmütig hinter der Lobby zu stehen.“

In Deutschland wird das Judentum immer als monolithischer Block dargestellt. „Im Zweifel halten alle Juden zusammen.“ Davon kann offenbar keine Rede sein. Immer mehr junge Israels „fliehen“ aus dem Land, dessen Inhumanitäten sie nicht mehr mittragen können. Übrigens viele nach Berlin – natürlich ohne jegliche politische Motivation, wie israelische Diplomaten schwindeln.

Auch in Amerika gibt es eine wachsende Absatzbewegung von der offiziellen AIPAC. „Das ist keine plötzliche Entwicklung. Seit Jahren haben sich amerikanische Juden, besonders die jungen Juden, vom jüdischen Establishment distanziert. Sie wurden von der offiziellen israelischen Politik immer mehr desillusioniert: von der Besatzung befremdet, angewidert von den Bildern israelischer Soldaten, die hilflose Palästinenser zusammenschlagen; sie haben sich leise davon gemacht. Leise, weil sie eine antisemitische Reaktion befürchten. Juden werden von früher Kindheit an indoktriniert, dass „wir Juden zusammenhalten müssen“ angesichts der Antisemiten. Nur ein paar tapfere amerikanische Juden sind bereit, offen – wenn auch zaghaft – Israel zu kritisieren. Aber die US-Politiker sind langsam dabei, sich der Tatsache zu stellen, dass ein großer Teil der Lobbystärke auf Bluff beruht und dass die meisten amerikanischen Juden ihr Wahlverhalten nicht von Israel bestimmen lassen.“

(Uri Avnery: Willkommen Chuck)

„Obama sieht die Lage Israels noch trostloser als Avnery. Nur in Deutschland will man die katastrophale Situation des Heiligen Landes nicht zur Kenntnis nehmen.“

(DIE ZEIT: „Obama warnt Israel vor der Isolation“)

In Deutschland ist ein kleiner Fortschritt zu melden. Zum ersten Mal ist im SPIEGEL ein Streitgespräch zwischen einem Vertreter des deutschen Judentums und einem veritablen „Antisemiten“ veranstaltet worden. (Analyse folgt)

Insgesamt müssen wir festhalten: der dringend notwendige deutsch-jüdische Dialog wird nur stattfinden, wenn die Wirklichkeit ungeschönt, geheimnislos und realitätsgetreu auf den Tisch des Hauses kommt. Macht kann nur relativiert werden, wenn sie unverzerrt wahrgenommen wird.