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Dienstag, 11. September 2012 – Judith Butler

Hello, Freunde des Euro,

Ulrike Herrmann ist sicher: Morgen wird Karlsruhe die Deutschtümelei des Merkel-Euro-Kurses beenden. Der Rettungsschirm werde abgesegnet, immerhin habe ihn die Mehrheit des Bundestages befürwortet. Würden die Richter den ESM stoppen, bräche der Euro auseinander, ganz Europa wäre gefährdet. Ein Euro-Crash käme für Deutschland und ganz Europa so teuer, dass „das BVG seine Legitimation verlieren würde“. (Ulrike Herrmann in der TAZ)

Judith Butler ist die erste Frau, die den Adorno-Preis erhält. Die offiziellen jüdischen Organisationen werden der Feier in der Paulskirche fern bleiben. Butler sei eine „Israel-Hasserin“, die das „Geschäft der Todfeinde Israels“ besorge, so der Zentralrat der Juden.

Muss man Israel lieben, um kein Antisemit zu sein? Hass ist kein schönes Gefühl, aber noch kein Mord. Besser Hass, der sich offen erklärt, als gleißnerisches Gift der Freundschaft. Wer sich Rechenschaft über seine Gefühle ablegt, muss sie zuerst zur Kenntnis nehmen und darf sie nicht verdrängen. Nur durch offene Feldschlacht kann man sie zur Raison bringen.

Die meisten „Antisemitismus-Gefühle“ in Deutschland sind vermutlich unterdrückte Ressentiments der Art: darf ich Juden nicht mal freimütig für bescheuert erklären wie einst Bayern die Preußen, ohne gleich als Judenfresser zu gelten? Welcher Ehemann hat seine traute Gattin noch nie gehasst?

Die Juden haben derart Grauenhaftes in Deutschland erfahren, dass sie „übersensibel“ reagieren. Übersensibilitäten und Ängste aber sind keine verlässlichen Instrumente zur Messung kollektiver Befindlichkeiten.

Den Empfindlichkeiten deutscher Juden entspricht spiegelbildlich die ständige Angst

nichtjüdischer Deutscher, durch die geringste falsche oder kritische Äußerung zum Lager der Menschenfeinde gezählt zu werden. Man kann Günter Grass für sein Gedicht durchaus zur Rede stellen, ohne ihn gleich zu einem Nachfolger Görings zu machen.

Hier versagen die deutschen Medien auf der ganzen Linie. Warum ist ein öffentliches Streitgespräch zwischen Grass und Graumann geradezu undenkbar? Weil beide Seiten zu wenig demokratisches Bewusstsein aufbringen, um sich für ihre Äußerungen auf der Agora zu rechtfertigen. Völlig undenkbar, dass ein Uri Avnery, ein Moshe Zuckermann in Kulturzeit auf Broder oder Friedman träfen.

Jeder Streit über jüdische oder israelische Angelegenheiten geht indirekt über die Bande. Juden und Deutsche sprechen übereinander, nicht miteinander. Sie halten Monologe.

Ohne Abrüsten auf beiden Seiten wird es zu entgifteten Verhältnissen nicht kommen. Man muss sich nicht versöhnend in den Armen liegen, wie wär‘s aber, wenn wir uns allmählich unverstelltere Emotionen zumuteten, um ihnen auf die Schliche zu kommen?

Butler boykottiert auch israelische Oliven, die aus dem besetzten Palästinenserland kommen. Die beiden Organisationen Hamas und Hisbolla hat sie der „globalen Linken“ zugerechnet, deren Militarismus aber abgelehnt. Keine Gnade vom Zentralrat; die Jüdin darf sich mit dem Namen Adorno nicht schmücken. Heute würde sie, so die Philosophin selbstkritisch, den Begriff der „globalen Linken“ ablehnen.

Zumeist geht es bei jüdisch-deutschen Streitigkeiten um Benennungen und verschwommene Begriffe, die man nur verstehen kann, wenn man den mittelalterlichen Universalienstreit und den Unterschied zwischen Nominalismus und Realismus kennt. Sind Bezeichnungen der Dinge realer als die Dinge – Realismus – oder sind sie nur künstliche Namen, auf Lateinisch nomen, woher Nominalismus kommt?

Begriffe werden wechselweise angebetet und verflucht, als seien sie göttliche Prägestempel. In der Prager Erklärung – die Gauck in seiner Vorpräsidentenzeit noch „leichtsinning“ unterschrieb – wurden Nationalsozialismus und Stalinismus auf dieselbe Stufe gestellt.

Sind Hitler und Stalin gleichwertig? In welcher Hinsicht? In allem Vergleichbaren gibt‘s ähnliche und unterschiedliche Elemente. Thats all. Zwei völlig identische Dinge gibt’s nirgendwo im Universum, nicht mal in der Dreieinigkeit.

In der frühen Christenheit haben sie sich die Köpfe eingeschlagen, ob der Sohn dem Vater wesensähnlich oder wesensgleich ist. (Konzil von Nicaea, 325: die beiden griechischen Wörter unterschieden sich nur durch das kleine i.) Ebenso könnte man fragen, wieviele Engelein auf eine Nadelspitze gehen?

Ein Opfer darf sich gekränkt fühlen, wenn sein Leid verharmlost wird. Ein anderes Opfer darf sich mit demselben Recht gekränkt fühlen, wenn sein Leid nur von minderwertiger Qualität sein soll.

Rangordnungen im Bereich subjektiver Gefühle sind abwegig. Weder ist das Glück des einen mit dem des andern objektiv zu vergleichen – das setzte objektive Messmethoden voraus –, geschweige das Leid, das einem zugefügt wurde. Jeder Schmerz ist für den, der ihn fühlt, absolut.

Gewiss, wir vergleichen uns selbst, um uns entweder zu entlasten – verglichen mit dem kranken Nachbarn geht’s mir noch gold – oder mich erst recht in meine Schmerzen zu stürzen, weil ich fürchte, ohne Übertreibung keine Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese Vergleiche sind selbst subjektiv und haben einen erkennbaren psychischen Zusammenhang.

Der scholastische Streit um Begriffe verdeckt zumeist den wahren Streit hinter den Begriffen.

Hör zu, Deutscher, ich fühle mich gekränkt und abgewertet, wenn du den Holocaust zu einem Allerweltsverbrechen verharmlos – kann ein Jude sagen.

Hör zu, Jude, ich fühle mich als einer, der aus der Geschichte gelernt hat, als Menschenrechtsfreund und Demokrat nicht ernst genommen, wenn du meine Kritik an Israel unentwegt als Antisemitismus abwertest.

Ohne präzise Begriffe geht’s natürlich nicht. Doch präzise Begriffe sind differenzierte Begriffe und keine inhaltsleeren, zur Unkenntlichkeit aufgeblasenen Abstrakta.

Welcher Linke ist heute identisch mit dem offiziellen Beschluss seiner Partei? Das gilt für alle Parteien. Das Wörtchen krinein heißt unterscheiden, woher der Begriff Kritik stammt. Kritik gibt es heute nicht mehr. Entweder haut man drauf oder das Objekt der Begierde wird mit Hauen und Stechen verteidigt.

Alles prüfet, das Beste behaltet – ein Motto für Laue, die Gott aus dem Munde speien wird. Das Klima der Auseinandersetzung wird zunehmend dualistischer und unversöhnlicher. Schwarz oder weiß, wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Heute bereut Butler, der Fangfrage nach der „globalen Linken“ auf den Leim gegangen zu sein. Hier gibt es eine gewisse deformation professionelle der Berufsdenker, die in ihre Babys – selbstgeheckte Begriffsmonstren – so verliebt sind, dass sie kaum ein Wörtchen des Zweifels zulassen können.

Dasselbe gilt dem „doing gender“. Der Tatsache, dass Geschlechtsfragen keine biologischen Tatsachen, sondern „hermeneutische“ sein sollen. Auch hier – wie in der Theologie, wo er gezeugt wurde – herrscht hermeneutischer Größenwahn.

Nicht Tatsachen, nicht der Text, nicht die Wirklichkeit entscheiden, sondern die menschliche Benennung, das deutende Konstrukt, das transzendentale Apriori, das großkotzige Ich, das in seiner Grandiosität die Wirklichkeit setzt, wie es gerade lustig ist.

Deutungen sind subjektiv, alles ist deutbar, ja deut-notwendig. Doch wenn die Subjektivität beginnt, gottähnlich zu werden und alle Freiheitsgrade möglicher Perspektiven zu überschreiten, werden Deutungen zu gefährlichen Fälschungen.

Die gesamte theologische Deutung in Deutschland ist seit Dezennien zur grundsätzlichen Fälschung der Schriften ausgeartet. Die Trickser und Täuscher kommen sich ungeheuer gottähnlich oder gottgleich vor, wenn sie wieder die neueste „korrekte Übersetzung“ der heiligen Schrift dem verblödeten Publikum vorsetzen, in der – um feministisch korrekt zu sein – Gott penetrant als Göttin übersetzt wird.

Von dieser hermeneutischen Tradition, die von der deutschen Romantik ausging und den ganzen Westen flutete, ist Frau Butler nicht freizusprechen. Welches Lieschen Müller weiß denn, was Gender ist? Ist Lieschen in Wirklichkeit vielleicht ein Mann? Nur die Gesellschaft hat sie in omnipotenter Deutung zur Frau geschlechtsumgewandelt?

Wäre es nicht schärfer und genauer, zu sagen: Lieschen muss als Weib minderwertige Rollen spielen, die sich die Männer ausgedacht haben, um ihre eigene Macht zu stärken? Hätte Butler nicht sagen können, an Hamas finde sie gut, dass die Organisation sich gegen die ungerechte Besatzung der Israelis wehrt, sie finde es schlecht, dass dies mit Gewalt geschieht? Ende der Fahnenstange.

Wozu scholastische Begriffsklaubereien über die Frage, was die linke Welt im Innersten zusammenhält? Begriffe sind Schall und Rauch. Erst im Zusammenhang mit der Realität unterliegen sie dem Wahrheitstest.

Typisch für die Schizophrenie der Gegenwart, dass man Wahrheit in Bausch und Bogen ablehnt, die Realität der Realität leugnet, alles für Konstrukt und Gemache der Menschen hält, gleichzeitig um hohle Begriffe streitet, als ginge es um Seligkeit.

Was würde ein Deutscher sagen, wenn ein Engländer ihm freudestrahlend erklärte, er hätte ihm ein „Gift“ mitgebracht? In jeder Debatte, die Missverständnisse vermeiden will, müssen „selbstverständliche“ Begriffe stets neu geklärt und definiert werden.

Der Nationalsozialismus ist ein totalitäres System, somit dem totalitären Stalinismus vergleichbar. Ein Totalitarismus ist ein verschärfter Faschismus, um dem „humaneren“ Mussolinismus nicht Unrecht zu tun – oder den Hitlerismus im Vergleich mit italienischen Zuständen nicht zu verharmlosen.

Doch alle drei Systeme sind Zwangsbeglückungen, die Platon in seiner Politeia zum ersten Mal philosophisch formulierte und die das Christentum als civitas dei ins Absolute hochrechnete. Jeder Staat, der seine Untertanen mit Gewalt zum Glück, zum Wahren, Guten und Schönen zwingen will, ist ein Faschismus.

Der gravierende Unterschied zwischen Platon und seinem Lehrer bestand darin, dass Sokrates auf freiwillige Einsicht setzte, Platon aber dieser Einsicht nicht mehr traute und also glaubte, zu Gewaltmaßnahmen greifen zu dürfen.

Heute ist eine Reaktionsbewegung eingetreten. Wer von Wahrheit und Vernunft spricht, landet sogleich in der totalitären Ecke, weil man Platon nicht von Sokrates unterscheiden kann.

Es gibt das Wahre, Gute und Schöne. Aber niemand hat das Recht, seine Vorstellungen dieser Ideen den Mitmenschen mit Gewalt aufzuzwingen. Er kann seine subjektive Wahrheit der demokratischen Öffentlichkeit immer nur anbieten, die Öffentlichkeit entscheidet, ob sie das Subjektive eines Andern in „objektive Politik“ verwandeln will, weil sie es für einleuchtend und überzeugend hält.  

Poppers Platon-Interpretation bleibt gültig, obgleich alle deutschen Platonverehrer sich inzwischen bei seinem Namen bekreuzigen. Bis heute haben die Neugermanen nicht verstanden, dass das Dritte Reich im Kern eine platonisch-christliche Höllenutopie war.

Es ist Unsinn – der noch heute unter ehemaligen linken Sowjetverehrern herrscht –, den Stalinismus als mildere Variante des Grauens zu betrachten, weil Stalin „das Gute“, also ein gerechtes Wirtschaftssystem, gewollt habe. Auch Hitler wollte das Gute, wollte die Welt vom Übel des jüdischen Verderbens erlösen. Mag sein, dass Stalin von persönlichen Hassgefühlen gegen Kulaken beherrscht wurde – war er deshalb ein Jota menschenfreundlicher als der Führer? Oder besonders grausam, weil völlig unberechenbar und willkürlich?

Diese Fragen als Kern der Debatte zu bezeichnen, zeugt von scholastischem Sadomasochismus, mit Erkenntnissen haben sie nichts zu tun.

Stefan Reinecke weist in der TAZ den Zentralrat der Juden ob seiner unmäßigen Attacken gegen Butler zu Recht in die Schranken.

War Adorno selbst ein Freund des Staates Israel, obgleich er und Horkheimer ausdrücklich keine Zionisten waren? Er bejahte unbedingt, dass die vom Holocaust gezeichneten Juden endlich eine politische Zuflucht gefunden hatten.

Dennoch hegte er Zweifel, ob die Bildung jüdisch-staatlicher Machtstrukturen nicht eine Abkehr von der universalistischen Ethik des Judentums bedeute, welches seine Kraft immer daraus bezogen habe, sich nie mit der Macht verflochten zu haben. (Richard Herzinger: Der Adorno-Preis und die Wirrungen der “Dialektik”)

Michael Wolffsohn hat diesen Gedanken weiter verfolgt und die These aufgestellt, nach dem Fall des zweiten Tempels habe sich das Judentum mit Hillel völlig runderneuert und aller Macht abgesagt. Im Grunde seien es die Juden gewesen, die den Weisungen des Bergpredigers gefolgt seien, während im spiegelbildlichen Gegenzug die Christen die Gewaltmethoden der urhebräischen Theokratie übernommen hätten.

Solche Überlegungen werden von deutschen Medien nicht zur Kenntnis genommen. Sie wähnen, sich erlauben zu dürfen, nichts von jüdischer und christlicher Theologie und Geschichte verstehen zu müssen.

Ein Gespräch zwischen Juden und Deutschen wird nur zustande kommen, wenn in den Schulen nicht nur bekenntnis-orientierte Religion gelehrt wird. Sondern alle drei Religionen in kritischer Äquidistanz zur Debatte gestellt werden.

Der Antisemitismus ist das Produkt jüdisch-christlicher Überbietungs- und Verdrängungskonkurrenzen, die sich in der Neuzeit lediglich mit scheinwissenschaftlichen Rassismusthesen maskiert haben.

Für Hitler war Rasse eine Religion, identisch mit dem christlichen Erlösungsglauben, die der Welt nach einer apokalyptischen Generalreinigung das reine Licht des Heils bringen werde.

Kritiker dieser These aus dem Lager der Christen, die ihren Glauben zum einzigen und wahren Widerstand gegen den NS glorifizieren, verweisen auf Rauschnings „Gespräche mit Hitler“, wo dieser den „jüdischen Christenglauben und seine weichliche Mitleidsmoral“ vernichten will und einen „starken, heldenhaften Glauben an Gott in der Natur, an Gott im eigenen Volk, an Gott im eigenen Schicksal, im eigenen Blut“ propagiert.

Hitler wollte in der Jugend katholischer Priester werden, doch er verwechselte folgenloses Bekennen mit dem wirklichen Tun des Gerechten: „Nicht jeder, der zu mir Herr Herr sagt, wird in das Reich der Himmel kommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut.“ Hitler tat den Willen des Vaters, den er Vorsehung nannte. Wenn Gott in allen Dingen ist, ist er auch in Natur, Volk und Schicksal.

Das Christentum identifizierte er mit der kopfnickenden, unterwürfigen und demutsheuchelnden ecclesia patiens, der leidenden Kirche. Dass Jesus der gewaltige Herrscher des Universums, die Kirche als ecclesia militans et triumphans auch ganz anders konnte, scheint er, unter dem Einfluss von Howard Stewart Chamberlain, nicht wahrgenommen oder verdrängt zu haben.

Rauschning schreibt selbst, dass man Hitler und seine fanatischen Anhänger als das sehen muss, was sie real waren: „die apokalyptischen Reiter eines Weltuntergangs.“ Im Braunen Haus in München, erzählt Rauschning, hing ein Bild mit dem Titel „Triumph der Bewegung“:

„Auf einem unendlichen Blachfeld drängte eine ungeheure Menschenmenge wie im jüngsten Gericht die Schar der Auferstandenen durch Sturm und Gewölk dem helleuchtenden Hakenkreuz am Himmel entgegen.“

Das war die späte politische Umsetzung der Worte aus der Offenbarung des Johannes, fast 2000 Jahre nach der Niederschrift der letzten neutestamentlichen Schrift:

„Und ein anderes Pferd kam hervor, ein feuerrotes, und dem, der darauf saß, wurde Macht gegeben, den Frieden von der Erde hinwegzunehmen und zu bewirken, dass sie einander hinschlachten sollten; und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben. Und der siebente Engel posaunte; da erschollen laute Stimmen im Himmel, die sprachen: «Die Herrschaft über die Welt ist unserem Herrn und seinem Gesalbten zuteil geworden, und er wird herrschen in alle Ewigkeit.»“