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Tagesmail

Dienstag, 03. Juli 2012 – Blitz der Erkenntnis

Hello, Freunde Helmut Schmidts,

der Altkanzler ist die einzige prominente Stimme in der Öffentlichkeit, die für Aufklärung eintritt. Die noch weiß, dass Aufklärung dem hellenischen Geist zu verdanken ist, den wir nicht der Vergessenheit überlassen dürfen. Die einzige Stimme, die kritische Worte zum Christentum findet. Kein Wort dazu in den Meldungen gleichgeschalteter Medien.

Deutsche Medien seien gleichgeschaltet, meint der Wiener Robert Misik. Der BILD-Nationalismus habe sich durchgesetzt mit der Grundstimmung: Europa will nur an unser Geld. Solche Sätze durchdringen ZEIT, die ARD, ZDF und die wichtigsten Gazetten. Gelegentlich wird Merkel kritisiert, doch wehe, in Brüssel gelingt es ihr nicht, ihre knallharten Neins gegen den Rest Europas durchzudrücken.

Nicht nur im Fußball nähert sich das mächtige Land in der Mitte einem autistischen Patriotismus, der sich abzuschotten beginnt, sich für die Perspektiven der Nachbarn nicht interessiert und seinen Wohlstand mit niemandem teilen will – selbst wenn dieser gefährdet ist, wenn er sich unsolidarisch zeigt.

Die einstmals deutschenfreundliche Stimmung im Ausland lässt nach und schädigt bereits den Export. Wenn Europa kollabiert, bleibt Deutschland keine heile Insel.

Schluss mit der schwäbischen Hausfrau, schrieb Günter Verheugen vor wenigen Tagen einen kritischen Artikel gegen die Kanzlerin, die immer nur sparen wolle und den Unterschied zwischen

ihrer Privatschatulle und einem Staatshaushalt nicht kenne. Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Auch schwäbische Hausfrauen wissen, dass es ihnen nicht gut gehen kann, wenn es ihren Familien schlecht geht. Europa ist schon mehr als eine Wohngemeinschaft, wo jeder ausziehen kann, wenn’s ihm nicht passt.

Wenn Deutsche mit hiesigen Verhältnissen unzufrieden sind, werden sie nicht kritisch, sondern wandern aus. Ich bin dann mal weg, ist die Formel flüchtender Mitläufer. Ihr touristischer Wahn will nicht die Welt sehen und fremde Kulturen kennen lernen, sondern nur abwesend sein. Protest durch Absenz: das ist wie Schreien ohne Stimme.

Jakob Augstein hält Merkels Position für neoliberal, im Gegensatz zu linkeren Positionen der südlichen Staaten. Das trifft‘s nur ungenau. Denn Neoliberale wollen angeblich Geld scheffeln. Doch bald wird’s Deutschland schlecht gehen, wenn es seine Partner nicht stützt, die seine Produkte kaufen sollen.

Wir wiederholen, was wir nicht durchgearbeitet haben und nähern uns einem zastermäßigen Wilhelminismus. Willem war stolz auf seine Flotte, mit der er seine königliche Verwandtschaft in England zu schockieren gedachte. Wir waren von Anfang an stolz auf unser märchenhaftes Wirtschaftswunder. Anfänglich schlichteten wir alle europäischen Konflikte, indem wir das große Portemonnaie zückten.

Doch just Kohl & Weigel waren es, die in die Gründungsverträge des Euro den bornierten nationalen Egoismus hineinschrieben. Keine Hilfsmaßnahmen für in Not geratene Länder, stattdessen Strafen für pflichtvergessene Sünder.

Um nicht bestraft zu werden, begannen alle zu tricksen, zu lügen und ihre Bücher zu fälschen. Von Anfang an gab‘s weder Offenheit noch die Fähigkeit demokratischer Auseinandersetzungen. Der Wettbewerb aller gegen alle, der Glaube an den Markt, geschah im Zeichen der Beerdigung des Marktplatzes.

Die nationale Verengung zeigte sich sofort in den deutschen Medien. Der Internationale Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern wurde sang- und klanglos eingestellt zugunsten eines Presseclubs, in dem so gut wie nie ausländische Reporter sitzen. Selbst, wenn es ausdrücklich um europäische Themen geht, bleibt man lieber neogermanisch unter sich.

Bei der Fußballberichterstattung über die gerade zu Ende gegangene EM das gleiche Spiel: nur deutsche Experten können die Löw-Truppe beurteilen. Wenn ein Tagesthemenmoderator mit italienischem Namen den Sieg der italienischen Mannschaft mit Grinsen quittiert, gibt’s einen chauvinistischen Shitstorm.

Wie man liest, hat Griechenland seine Bücher professionell von Goldman & Sachs fälschen lassen. Alle sollen es gewusst haben, niemand schlug Alarm. Dass man Freunde nicht öffentlich kritisieren darf, beweist Deutschland nicht nur am Beispiel Israel. Die Europa-Euphorie sollte nicht durch schnöde und triviale Kritik getrübt werden.

Beschiss kommt auf den Tisch, wie Pfälzer zu sagen pflegen. Unehrliche Jovialität war von Anbeginn an das Ingrediens europäischer Verbundenheit, wofür wir jetzt die Folgen tragen müssen.

Wenn schon die Eliten nicht Demokratie können, muss der Plebs es ihnen beibringen. Es wird höchste Zeit, dass die soziologische Schichtentheorie auf die Füße gestellt wird: oben ist immer da, wo das Volk ist, unten dürfen sich die Unabkömmlichen tummeln.

Apropos Leistungsträger. Leistung muss sich gar nicht immer lohnen. Zumeist wird sie sogar bestraft. Wer mit Leistung übertreibt, fällt unangenehm auf wie der Streber in der Schule. Ein Student hat in Blitzesschnelle seine Prüfungen an einer privaten Hochschule absolviert. Jetzt wird er von dieser verklagt, weil er den Rest der Studiengebühren nicht bezahlen will.

Man will keine Genies, keine exorbitanten Leistungen, man will exorbitante graue Mäuse in unauffälliger Gehorsamsleistung. Man will Studiengebührenzahler.

 

Ohnehin ist der ganze Exzellenzschwindel nur eine weitere Stärkung der quantitativen Naturwissenschaft und der industriefreundlichen Technik. Die Geisteswissenschaften gucken in die Röhre. Forschung wird gegen Lehre ausgespielt. Als ob die Kathederriesen sich opfern müssten, wenn sie den Greenhorns etwas beibringen sollen.

Sokrates lernte selbst, wenn er seine Gespräche führte. Indem er andere überprüfte, musste er sich selbst überprüfen. Nicht selten endeten die Frühdialoge in Aporien, in Ausweglosigkeit. Der spätere allwissende Sokrates war Platon, versteckt hinter der Maske seines Lehrers.

Eine Lehre, die sich nicht selbst erforscht, ist Offenbarung, aber keine Lehre. Die meisten Gelehrten verwechseln ihr Katheder mit einer Kanzel. Was ist eine Vorlesung anders als eine Predigt ohne Talar?

Max Weber wollte der Gottähnlichkeit der Honoratioren dadurch entgehen, dass er deren politische Wertungen nur außerhalb der Unis dulden wollte. Diese Gefahr besteht heute nicht mehr, ein ordentlich bestallter Prof. hat keine Meinungen und Wertungen mehr, also muss er sie auch nicht verheimlichen.

Lernen geht nur über Dialog. Ein echtes Gespräch ist ein erotischer Akt à deux, das heutige Lehren wie Onanieren vor Publikum. Die alten Sittenwächter hätten hier zu Recht gewarnt: Selbstbefriedigen in Form von Vorlesungen führt leicht zu Rückgratsverkrümmungen.

Warum sind die meisten Vorlesungen so abstoßend sinnen- und denkfeindlich? Weil der platonische Eros, der im Untergrund lauert, vorbeugend abgeschreckt werden muss.

Lehren und Lernen kann man sachgemäß nur sexologisch beschreiben. Bei Sokrates gehörten mindestens zwei zur lustvollen Erkenntnissuche. Erkenntnisse waren Früchtchen eines Zeugungsaktes, die man nur per Hebammenkunst zur Welt bringen konnte. Wie der Mensch ein zoon politicon, war seine Wahrheit ein zoon eroticon.

Bei einem Verhältnis von ein Dozent gegen 100e Studenten kann man sich leicht vorstellen, warum Klein-Eros sich nicht in die düsteren Unisäle traut. Lernen kann man nur in vertrauten Gruppen Gleichwertiger, nicht im Zwei-Fronten-Krieg von Wissenden und Unwissenden.

Unter griechischen Vorzeichen hat das Studium an einer modernen Hochschule mit Lernen nichts zu tun. Denn Lernen war Nachdenken und Philosophieren, solche Zeit- und Energiereibungsverluste beim Einpauken des Vorgeschriebenen kann sich keine Alma Mater heute leisten.

Schon alma Mater, gütige Mutter, ist ein Etikettenschwindel der unverfrorenen Art. Ist doch das Inhalieren fertig abgepackter Instanterkenntnisse das patriarchalischste Geschäft, das man sich vorstellen kann. Nur noch zu übertreffen von einem Gottesdienstbesuch.

Übersetzt man heidnisch nährende Mutter mit der jungfräulichen Mutter Gottes, kommt man dem Schwindel auf die Spur. Dort wurde ein irdisches Weib zur asexuellen Gebärmaschine degradiert, um das erwünschte Genie wie im Labor zu erzeugen. Nicht unähnlich der stumpfen und passiven Masse von heute, die sich vom dozierenden Solisten in Frontalunterricht bestäuben lassen muss.

Die abendländischen Erkenntnistheorien sind nichts als Varianten im einseitigen Bestäuben. Zu einem flotten Zweier, Dreier, gar einer exaltierten Erkenntnisorgie in Gruppen kommt es nirgendwo. Immer ist eine Seite hoffnungslos dominant, die andere ein passives Nichts.

Zumeist war es der männliche Geist, der das hohle, weibliche Lehrobjekt mit Erkenntnis abfüllte. Bei Locke offenkundig: alles Gute kommt nicht mehr von oben, sondern von außen. Die glatte Umkehrung Augustins, bei dem alles Gute von innen kommt, denn das Innen ist die irdische Filiale des Himmlischen: alles Gute kommt von Oben.

Descartes‘ belanglose Übergangsform übergehen wir und kommen gleich zu Kant, der der Natur vorschrieb, was er von ihr zu erkennen gedachte. Von Fichte übertroffen, der sich mit Erkennen gar nicht mehr abgab, sondern Natur in toto gleich aus dem Nichts erschuf.

Hegel peilte eine androgyne Erkenntnisweise an, doch letztlich überwand auch er nicht die absolute Überlegenheit des männlichen Geistes. Am Anfang war der selbstbestäubende Geist, am Ende war er es auf höchster Stufe wieder. Dazwischen gibt’s eine schlechte Imitation der weiblich-männlichen Polarität in Form der These und Antithese, die sich als Widerspruch eine Zeit lang fetzen darf, bis sie vom synthetischen Männergeist wieder eingefangen und in die babylonische Gefangenschaft finaler Allwissenheit abgeführt wird. Ende der Vorstellung.

Man könnte an eine Transvestitenfarce denken. Der Mann spaltet sich in sich selbst und übernimmt imitatorisch die Frauenrolle, bis er dem wirren Spuk des Behauptens und Widersprechens ein Ende macht und sich mit sich selbst zu Gott vereinigt.

In jeder Erkenntnistheorie geht’s ausschließlich um Lenins Frage: wer – wen? Wer bestimmt wen? Wer hat das Sagen, wer die Wahrheit? Wer hat sich nach wem zu richten? Erkennen ist aus der Sicht des Lehrenden stets ein Befehlen und Vorschreiben, aus der Sicht des Lernenden ein Akt des Gehorsams und der passiven Hinnahme.

Das Urbild der abendländischen Erkenntnis ist die Offenbarung: auf der einen Seite ein allmächtiger und allwissender Gott, auf der anderen ein menschlicher Wurm, der durch Erleuchtung aus Nichts zu Etwas wird.

Nach Hegel, bei Marx & Engels, gibt’s einen weltweit hallenden Bruch, alles wird auf den Kopf gestellt und bleibt doch wesentlich gleich. Nicht mehr der männliche Geist bestimmt die weibliche Materie, sondern umgekehrt: der Geist wird zur Chimäre erklärt, alle Erkenntnisse und politischen Entscheidungen kommen vom mütterlichen Prinzip, der Materie.

Das war eine außerordentliche Reaktionsbildung mit weitreichenden Politfolgen, die 100 Jahre später im Kalten Krieg kulminierten und erst mit dem Fall der Mauer wieder vom Erdboden verschwanden.

Reaktionsbildungen haben es an sich, dass sie die Einseitigkeit einer herrschenden Ideologie mit einer antithetischen Einseitigkeit beantworten. War der Idealismus die einseitige Dominanz des Geistes, antwortet der Materialismus mit der einseitigen Dominanz der Materie.

Im Idealismus ist das passive Wesen die Natur, beim Materialismus der Mensch mit seinem Denken und Tun, das durch die materielle Geschichte zur Nichtigkeit erklärt wird. Nicht der Mensch entscheidet, sondern die Geschichte. Entweder folgt der Mensch oder er wird platt gemacht.

So ungeheuer es war, dass die Frau sich 1000e von Jahren zu einer tabula rasa degradieren ließ, so ungeheuer ist es, dass ab Marx der Geist sich zu einem Nichts erniedrigen ließ. Zwei der gelehrtesten, denkfreudigsten und aktivsten Männer der Geschichte erklären ihr eigenes philosophisches Tun für wesenlos: „Die Philosophie hat die Geschichte nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“.

Dabei sprachen alle empirischen Befunde gegen diese These der Väter der Revolution. Nie gab es lernbegierigere Proleten als in der anfänglichen Arbeiterbewegung. Selbst die 68er waren in einem Rausch nachholender Erkenntnisse über fast alle Dinge dieser Welt: von Hegel, Marx, über die Frankfurter bis zu Marcuse und Wilhelm Reich. Von der Philosophie über Soziologie, Psychoanalyse, Erziehung bis zum Feminismus. Von der Aufhellung der NS-Verbrechen bis zur Kritik am Vietnamkrieg. Von der antiautoritären Pädagogik – Neill, Neill, Birnenstiel – bis zum aggressiven feministischen Nebenwiderspruch der Frauen. Von der agitatorischen Gruppenarbeit, der Verlagerung des Protests auf die Straße bis zur Einrichtung sozialtherapeutischer Gefängnisse.

Es war das fiebrig lernende Bewusstsein, die mitreißende, begeisternde Erkenntnis, die das Sein bestimmten, obgleich die Bewegung in absurdem Selbstmissverständnis daran festhielt, passiv dem Trompetenstoß der Geschichte zu folgen.

Die nächste Revolution wird im Einklang mit sich sein oder sie wird nicht sein. Bewusste Menschen werden ihre Verhältnisse bewusst in eigene Hände nehmen und sich nicht mehr abhängig machen von übermenschlichen Instanzen, von Gott über Evolution bis zur Geschichte. Die Tat wird dem befreienden Denken folgen wie die Frucht der Blüte.

Warum gibt es heute so viele blutleere Basisgruppen, die ihre protestantische Politpflicht säuerlich abwickeln? Weil sie keinen Erkenntnisfuror besitzen. Sie glauben, ihre notwendige Ration an Weisheit bereits im Säckel zu haben. Der Sozialpsychologe Welzer hat das theoretische Erkennen eingestellt und ist zum bloßen Tun übergegangen.

Dabei hat das Erkennen in der Gesellschaft noch nicht mal angefangen. Die letzte Erkenntniswelle ist klaftertief im Boden verscharrt.

Allmählich dämmert’s den NGOs, dass ihnen etwas fehlt. Die letzte Umweltkonferenz in Rio wäre nicht so folgenlos verlaufen, wenn die Aktivisten nicht kraftlos zugeschaut hätten, wie Politiker sie aus dem Wege räumten.

Es ist nicht in erster Linie die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, die uns weiter bringen kann. Denn die Wissenschaft hat selbst die Verbindung zum Erkennen verloren.

Das Denken, aus dem die Tat folgt, wird sich erst einstellen, wenn Natur und Geist, Materie und Idee, Weib und Mann, Lehrende und Lernende sich gleichberechtigt gegenüberstehen und dem Eros der Erkenntnis die Chance geben, wie der Blitz in die Dumpfheit der Gegenwart einzuschlagen.