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Dienstag, 01. Januar 2013 – Faschistoide Freiheit

Hello, Freunde des eigenen Lebens,

die Sterbenden sagen die Wahrheit, sie haben nichts mehr zu befürchten. Der nahende Tod ist der unerbittlichste Kritiker des falschen Lebens.

Bronnie Ware ist Palliativpflegerin, begleitet die Sterbenden, hört ihnen zu und hat ein Buch darüber geschrieben: „Die fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen.“ Sie haben nicht das Leben geführt, das sie hätten führen wollen. Sie haben ein falsches Leben geführt.

„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu führen.“

„Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.“

„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.“

„Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.“

„Ich wünschte mir, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.“

(Nina Trentmann in der WELT)

Es sind keine fünf Gründe, die von den Sterbenden angegeben werden, es ist nur ein einziger Grund, aufgeteilt in fünf Sätze: das Leben, das ich führen wollte, habe ich nicht geführt.

Der Glaube an die Wiedergeburt, der Glaube an eine jenseitige Kompensation muss diesem Gefühl der Vergeblichkeit der irdischen Existenz entsprungen sein.

Es gibt auch Menschen, die mit einem Lächeln auf dem Gesicht sterben, sagt die Autorin. Sie sind eine Minderheit. Die meisten Menschen haben die rückschauende Empfindung, ihr Leben in den Sand gesetzt zu haben. Wenn das

der Eindruck der Majorität der Menschen wäre, wäre es die vernichtendste Generalkritik an der Epoche der Moderne.

In den fünf Sätzen steckt alles, was Karl Marx nicht formulieren konnte. Wenn die Quintessenz des Lebens ein Umsonst war, ist die fortschrittliche Gegenwart ein Rückschritt. Wenn die Summe einer Biografie ein Defizit ist, wenn Sterbebegleiter zu Protokollanten eines bankrottierenden Daseins werden, dann hat das Leben rote Zahlen geschrieben, die nie mehr korrigiert oder gelöscht werden können.

Wenn Menschen wirklich leben wollen, sind die fünf Sätze das Todesurteil über alles, was uns lieb und teuer ist. Nein, nicht ist, sondern sein sollte. Wir mussten ein Leben führen, das wir uns nicht ausgesucht und nicht gewollt haben.

Das Wort Freiheit kommt in den fünf Sätzen nicht vor und schwebt doch über allen. Wenn ich mein Leben nicht frei wählen kann, hab ich meine Jahre in Unfreiheit verbracht. Wir werden zu einer Freiheit aufgerufen, die nicht die unsrige ist. Andere maßen sich an, unsere Freiheit zu bestimmen. Ihre Freiheit soll auch die unsere sein.

Die Menschheit wird nicht gefragt, auf welche Art sie frei leben will. Einige Wenige wissen hohepriesterlich, was Freiheit für alle zu sein hat – und zwingen ihnen ihre Freiheit auf. Wenn Auserwählte zu wissen vorgeben, was Glück, Gerechtigkeit, Freiheit für alle bedeutet, und die Macht besitzen, ihre Vorstellungen allen vorzuschreiben, sind sie keine Gleichen, sondern haben sich über die Mehrheit der Menschen hinweggesetzt.

Man wähle einen kostbaren Begriff und klebe ihn auf alles Verdächtige, Anstößige und Missglückte, dann ist das Schlechte wie auf einen Schlag verschwunden. Heinrich Böll karikierte noch die deutsche Dreieinigkeit Liebe-Liebe-Liebe. Heute müsste er Freiheit-Freiheit-Freiheit läuten lassen. Wenn alles Freiheit ist, was Menschen unfrei macht, ist das Verwerfliche immun geworden.

Der Begriff Freiheit ist an die Stelle der Frohen Botschaft getreten. Wer wagt es, sich dem offenbaren Heiligen zu widersetzen? Die Sterbenden hatten nicht die Freiheit, ihr freies Leben zu wählen. Einem fremdbestimmten Leben wurden sie unterworfen und mussten die Fremdbestimmung Freiheit nennen.

An der Zwangsbeglückung, am Zwang zur falschen Etikettierung erkennt man ein faschistisches System. Wir müssen eine neue Kategorie einführen. Nach Mussolini, Stalin und Hitler, faschistischen oder totalitären Systemen mit unverhüllter Gewalt, erleben wir das global wachsende Gebilde eines Faschismus mit verhüllter Gewalt, einer Zwangsherrschaft, die ihren Zwang als Freiheit verkauft.

Unter dem Vorzeichen der Freiheit werden die Menschen immer mehr an die Ketten naturschändender Ausraubung und individuellen Beutemachens gelegt. Nein, niemand steht hinter dir mit einem Schnellschussgewehr, dieser ordinäre Totalitarismus ist weitläufig besiegt. Es geht raffinierter zu in demokratischen Zwingkulturen, die ihre tollsten Begriffe auffahren, um ihre Barbareien zu verdecken.

Fast alle deutschen Idealisten reden überschwänglich von Freiheit. Doch wer sich ihrer Form der Freiheit verweigert, wird dazu gezwungen.

Bei Hegel ist es der Weltgeist, der niemanden um Rat fragt, wie die Menschheit frei werden kann. Sie hat sich dem Gang der welthistorischen Freiheit zu fügen. Frei ist, wer sich der Freiheit der Geschichte nicht widersetzt.

Bei Hayek ist frei, wer sich der Evolution unterordnet. Hayek ist Hegelianer wie alle Geschichts- und Evolutionsdenker. Gibt es eine Entwicklung oberhalb der Köpfe der Menschen, können die Individuen nicht frei sein. Sie sind Knechte und Mägde dieser Entwicklung.

Wer an eine Heilsgeschichte glaubt, ist untertan dem Herrn der Heilsgeschichte. Der deutsche Idealismus glaubte an die Entwicklung der Gattung zur Freiheit – als Zwangsgesetz, das der Gattung auferlegt ist. Sie hat keine andere Wahl. Sie ist zur Freiheit gezwungen.

Fichte kennt keine Hemmungen, den Zwang zur Freiheit zu formulieren. Wer von der Freiheit einen unsittlichen Gebrauch mache, dürfe, ja müsse zur richtigen Freiheit gezwungen werden. Die „widerstrebende Natur soll ohne Gnade und Schonung, und ob sie es verstehe oder nicht, gezwungen werden.“

Da es viele falsche Vorstellungen der Freiheit gibt, muss die wahre Freiheit von einem weisen Zwingherrn durchgepeitscht werden. Das geschieht durch eine alternativlose Zwangserziehung und Gewalt. Da die Menschen insgesamt noch nicht gut und weise sind, müssen sie in einer Revolution von oben zu ihrem eigenen Besten und ihren wahren Interessen gezwungen werden, bis die Gesellschaft durch Erziehung grundsätzlich reformiert ist.

Dabei handelt der Zwingherr zur Freiheit nach bestem Wissen und Gewissen unter dem Zwang seiner Erkenntnisse im Sinn eines aufgeklärten Absolutismus. So vermittelt er zwischen Gott und Volk. Der Zwingherr ist die Inkarnation geschichtlicher Einsicht, als Wissender eine Art politischer Messias von Gottes Gnaden, der nicht den Menschen verantwortlich ist, sondern der Weltgeschichte, dem Weltgericht, dem Jüngsten Gericht oder Gott.

Versteht sich, dass Fichte sich selbst als einen solchen Zwangsmessias gesehen hat, somit ein direkter Vorläufer Hitlers war, der sein Volk zur Freiheit von aller Not, Bedrückung und gefährlichen Feinden führen wollte.

Die deutschen Idealisten haben nicht nur den deutschen Totalitarismus vorausgedacht, sondern auch den amerikanischen Freiheitsfaschismus, der all seinen Gegnern den Untergang ankündigt. Wer sich bestimmten ökonomischen Gesetzen nicht fügt, tritt aus der Geschichte aus oder wird von jenen Mächten, die dem ökonomischen Weltgeist gehorchen, in die Mangel genommen.

Die neoliberalen Weisen haben die Gesetze der Freiheit erkannt. Wer sich diesen nicht unterordnet, wird nicht erschossen: er muss verhungern oder zu Brot- und Wasserbedingungen ohnmächtig vor sich hin vegetieren.

Der ordinäre Totalitarismus wendet direkt Gewalt an. Der freiheitliche lässt indirekt verkommen. Er macht sich die Finger mit dem Blut seiner Opfer nicht schmutzig und lässt „Naturgesetze“ walten, die er durch Macht und Gewalt zu solchen ernannt hat. Sein Wille ist Naturgesetz.

Die deutsche Revolution von oben ist stets die Zwangsbeglückung Weniger, die sich als Monopolwissende deklarieren. Wie die platonischen Weisen eine perfekte Utopie erfinden, der sich alle Bewohner unterzuordnen haben, so die deutschen Weisen, die sich als Herren Europas fühlten.

Dasselbe auf einer anderen Ebene die amerikanischen Weisen, die sich als Herren der Welt definieren. KZs, Lager und direkte Tötungen haben sie – im Prinzip – nicht nötig Ihre PR-Ideologie benutzt alle Träume der Menschen, wohlhabend und frei von unmittelbarer Gewalt zu werden.

Was eine mittelbare Gewalt ist, hat sich heute noch nicht herumgesprochen, alle Zwänge des Kapitalismus heißen Gesetze der Freiheit. Niemand zwingt dich direkt, sich den Gesetzen zu unterwerfen. Doch wehe, du tust es nicht, dann wirst du zu einem Nichts gemacht. Zu einem Feind der Freiheit, zu einem Sicherheitsfanatiker, zu einem Risikoverweigerer, letztendlich zu einem arbeitsscheuen und staatsbelastenden Amoralisten, der mit Ohnmacht, Armut und Bedeutungslosigkeit bestraft wird.

Der amerikanische Staat wird alles unternehmen, dir deine bürgerlichen Rechte zu nehmen. Du wirst überwacht, du kannst nicht wählen gehen, weil du nicht die richtigen Papiere hast. Wenn du Kommunist oder sonst ein Systemgegner bist, kriegst du keine Arbeit mehr. Du wirst nach Möglichkeit zu einem Terroristen gestempelt. Dann kannst du alle bürgerlichen Freiheiten und Rechte vergessen. Du kommst nach Guantanamo und wirst solange gefoltert, bis du sagst, was die Weisen der Freiheit von dir wissen wollen.

Hayek hat in den 40er Jahren ein bewegendes Buch gegen den Hitler-Totalitarismus geschrieben: „Der Weg zur Knechtschaft“. Sein eigener Neoliberalismus kommt ohne eine modifizierte Art Hitler und Vorsehung auch nicht aus. Er nennt sie Evolution und Gesetze des Marktes, der die Intelligenz der Menschen bei weitem überragt.

Hayek war ein Gegner der sozialistischen Planwirtschaft. Er selbst befürwortete eine Planwirtschaft der Evolution, die nicht von fehlbaren menschlichen Gehirnen berechnet werden muss – die können es nicht –, sondern von der alles überragenden Intelligenz eines gottgleichen Marktes, hinter der man unschwer die Unsichtbare Hand von Adam Smith erkennen kann, die die verworrenen egoistischen Rechnungen der Einzelnen zu einer harmonischen Endabrechnung zusammenfügen kann. Es ist kein Plan irrender Menschen, sondern einer gottähnlich irrtumslosen Institution.

Alle neuzeitlichen Geschichts- und Evolutionstheorien beruhen auf dem deutschen Idealismus. Der wiederum beruht auf der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte.

Amerika war einmal die bewundernswerteste Demokratie der Welt, als die Gesetze des Marktes noch nicht den ganzen Kontinent beherrschten und das Gefühl einer ursprünglichen Freiheit viele oligopole Machtzentren schaffte, die sich gegenseitig in Schach hielten. Das riesige Land war am Anfang kaum regierbar, jeder war dank seiner Waffen sein eigener Herr. Einen Staat gab es nicht oder nur in weiter Ferne.

Es benötigte Jahrhunderte, bis der Kontinent sich wenigen Zentralmächten fügte. Der Polizei, dem Militär – und den stärker werdenden Gesetzen der Wirtschaft und ihrer Lenker.

Der Erste und der Zweite Weltkrieg waren retardierende Momente beim Ausbau der ökonomischen Monopole. Hier siegten noch Pionierelemente der ursprünglichen Freiheit über den Terror des verseuchten Alt-Europas. Da waltete noch der unbezwingliche Enthusiasmus der einstmaligen Auswanderer, die vor den absolutistischen Mächten Europas geflüchtet waren. Der Sieg über die deutschen Verbrecher entzündete ein letztes Mal die Leidenschaft für vorbildliche Freiheit und Demokratie.

Als die Welt zusammenwuchs, die Vorherrschaft und Vorbildfunktion der Supermacht immer mehr nachließ, die internen Probleme durch Besiegung fremder Verbrecherregime sich nicht mehr regenerieren konnten, schlug die Stunde der Wirtschaft, die durch Erfindung geeigneter „Naturgesetze“ und eines attraktiven Angebots die Völker der Welt becircen und in ihren Bann ziehen wollte.

Es war das Angebot: wenn ihr unsere Wirtschaftsgesetze bei euch einführt, werdet ihr satt und reich wie wir. Das war der riesige Unterschied zu allen anderen Faschismen, die keine Angebote an andere machten, sondern sie nur mit Vernichtung bedrohten.

Die verlockende Botschaft der Amerikaner an die Welt war: alle können es schaffen, es hängt von jedem Einzelnen ab. Ihr könnt nach Belieben konsumieren, die Natur nach Belieben durch technischen Fortschritt beherrschen. Von Natur aus sind wir alle gleich. Nur der faire Wettbewerb soll entscheiden, wer aufs Treppchen darf und wer sich noch anstrengen muss, um die Sieger zu überrunden.

Das wäre ein glänzendes Konzept gewesen, um die Völker der Welt einander näher zu bringen. Doch die scheinbar allgemeinen Gesetze waren so konstruiert, dass diejenigen davon profitierten, die den anderen von Anfang an haushoch überlegen waren. Es war, als ob in einem Kindergarten der Boxweltmeister erklärte, ab jetzt gilt der faire Wettbewerb. Wer sich am besten mit seinen Fäusten durchsetzen kann, soll den Lorbeer erringen.

Die amerikanische Vormachtstellung war so überdimensional, die Staaten der Welt derart aller neoliberalen Finten und Tücken unkundig, dass der Vorsprung der Calvinisten eher zunahm, als dass die Nachkömmlinge aufholen konnten.

Der Wendepunkt kam mit dem Vietnamkrieg. Der Bonus der Weltkriegshelden war aufgebraucht, die moralische Vorbildlichkeit wurde von der freien Jugend der Welt vom Tisch gewischt, die wirtschaftlichen Probleme wuchsen den Helden über den Kopf.

Bislang waren die Gesetze der Wirtschaft noch einigermaßen fair gewesen. Die USA unterstützen alle Nationen, die den kommunistischen Lockrufen Moskaus widerstanden und sich dem westlichen Lager anschlossen. Der Kalte Krieg sollte durch demokratische und wirtschaftliche Vorteile entschieden werden. Das besiegte Deutschland wurde als Frontgesellschaft direkt an der Grenze zum Osten gebraucht und fast kollegial auf gleicher Ebene behandelt.

Im Kampf mit dem Reich des Bösen waren die USA auf jeden Partner angewiesen, der sich ihnen freiwillig anschloss und den Ruf des freien Kapitalismus pries.

Der Fall der Mauer entschied den Kalten Krieg und machte Washington zum unangefochtenen Anführer der Welt. Niemand mehr bestritt dem Neuen Kanaan den Titel des neuen Rom, das der ganzen Welt die zweite pax romana, die pax americana, verkünden sollte.

Fukuyama entwarf bereits das Ende der Geschichte im friedlichen Zusammensein der freien Völker. Kriege zwischen Demokratien? Unmöglich. Es konnte nur noch friedlichen Wettbewerb der Völker um höchsten Wohlstand oder um die liberalste und kreativste Gesellschaft gehen.

Doch schon seit Reagan hatten sich jene neoliberalen Ökonomen durchgesetzt, deren Vorstellungen von Fairness darauf hinausliefen, den Mächtigsten freie Hand zu verschaffen und zum uralten Naturrecht der Stärke zurückzukehren. Fair war ab Milton Friedman und Hayek, dass ohne Rücksicht auf Verluste die Kräftigsten und Bedenkenlosesten mit Hilfe einer globalisierten Weltwirtschaft die Erde beherrschen sollten.

Schon Nixon hatte den Bretton-Woods-Vertrag aufgekündigt, der den Dollar zu Fairness gegenüber schwächeren Währungen verpflichtet hatte. Ab jetzt konnten die nationalen Fäuste ausgefahren werden und wer getroffen wurde, ging zu Boden. War der Kapitalismus bislang durch staatliche Eingriffe gebändigt und zu sozialem Verhalten verpflichtet, fielen jetzt peu à peu alle Regeln der Solidarität.

Unter dem Ansturm deregulierter amerikanischer Wirtschaftskräfte konnte sich auch die deutsche Soziale Marktwirtschaft nicht mehr halten und übernahm hilf- und rückgratlos die asozialen Regeln der Regellosigkeit. Deregulierung war das Zauberwort jener, die von darwinistischem Chaos nicht sprechen wollten. Bindet die Raubtiere los und lasst sie zusammen in die Manege. Wer sich durchsetzt, hat gewonnen.

Die Weltwirtschaft verwandelte sich in ein Bestiarium, in dem die Bissigsten und Unverfrorensten den Gladiatorenkampf für sich entschieden. Unter dem Deckmantel globaler Gegenseitigkeit expandierten New York, London und die westlichen Finanzhauptstädte zu planetarischen Zentralregierungen.

Die Wirtschaft, bis Reagan noch eher dienender Natur und dem New Deal Roosevelts verpflichtet, warf alle Fesseln der Gemeinschaftsdienlichkeit ab und entwickelte sich zur internationalen Plutokratie weniger Geld-Magnaten.

Auch die Industriellen wurden abgehängt. Die Macht wanderte aus den unattraktiven Fabriken ins schnelle und grenzenlos scheinende Reibachgeschäft der Banken und Börsen. Mit Zocken und Spekulieren konnte man über Nacht Riesengewinne einfahren und musste nicht mühsam Produkte entwickeln, sich mit Lohnabhängigen, Gewerkschaften, Rohstoffmärkten und lästiger Konkurrenz in Billiglohnländern herumärgern.

Der Kapitalismus erklomm eine neue evolutive Ebene und verwandelte den Wettbewerb in ein globalisiertes Casino. Die amerikanische Rolle des gütigen Patriarchen mutierte zur Rolle des gorgonischen Vaters, der seine Kinder bedenkenlos auffrisst.

Das biblische Christentum, das sich die heidnische Demokratie solange gefallen ließ, solange Gottes’ Land Erfolg in der Welt hatte, bemerkt zunehmend seinen partikularen Nimbus gegen alle allgemeinen Moralen und prägt die jahwistische Überwachungsmentalität einer verunsicherten Macht, die ins Schlingern gerät.

Ob Washington offenkundig gegen nationale und internationale Gesetze verstößt, ist kaum von Interesse bei den Massen. Menschenrechtler werden zunehmend unter Druck gesetzt und ins Abseits geschoben.

Binnenprobleme eines Gemeinwesens werden dann virulent, wenn außenpolitische Erfolge ausbleiben und die gesellschaftlichen Widersprüche nicht mehr kompensieren können. Der Stern der Neuen Welt verblasst, der sinkende Held wehrt sich mit allen Kräften gegen seinen Niedergang. Auf Legalität seiner Abwehrmethoden legt er immer weniger Wert.

Nicht nur die Spannungen zum Rest der Welt steigen, auch die Klassenkämpfe im Innern der Nation werden immer schärfer. In der Schicht der Superreichen, die den Staat im Griff haben, erkennt man eine zunehmende Vernetzung mit Superreichen anderer Nationen. Der patriotische Kitt verliert seine soziale Bindekraft, die Eliten der Welt bilden einen eigenen Superstaat über alle Nationen hinweg.

Immer mehr unterhöhlt Amerika seine Bürgerrechte, entwickelt sich zum technischen Überwachungsstaat und missachtet nach Belieben Völker- und Menschenrechte. Die Vernachlässigung des Rechts in Kooperation mit frei wütenden Ökonomiegewalten hat das amerikanische System in ein faschistoides Gebilde auf der Basis abnehmender demokratischer Rechte verwandelt.

Das Geld hat es verstanden, den Begriff Freiheit als seine Vorzeigetugend zu präsentieren. Wer die Omnipotenz des Geldes attackiert, attackiert per se Freiheit und muss als Feind der Demokratie bekämpft werden. Wird sich Amerika nicht ändern, werden in wenigen Jahren die Mitglieder der Occupy-Bewegung als terroristische und amerikafeindliche Agenten im Gefängnis landen.

Auch in Deutschland werden amerikakritische Töne zunehmend als antiamerikanische – oder gar antisemitische – an den Pranger gestellt. Zunehmend macht sich in westlichen Staaten unter dem Einfluss dualistischer Erlösungsreligionen ein Klima des Entweder-Oder breit. Wer das System nicht absegnet, sei verflucht. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Immer mehr entlarvt der Kapitalismus die religiöse Herkunft seines messianischen Sendungsbewusstseins.

Der Beglückungszwang des ökonomischen Systems ist kein direkter. Es gibt einen indirekten Zwang, den schon Hegel präzis in einer seiner Frühschriften beschrieben hat:

„Im absoluten Sinne ist eigentlich kein Zwang ge­gen den Menschen möglich, weil Jeder ein freies Wesen ist, weil er seinen Willen gegen die Notwendigkeit behaupten und Alles, was zu seinem Dasein gehört, aufgeben kann. Der Zwang findet auf folgende Weise statt. An die Seite des Da­seins des Menschen wird irgend etwas als Bedingung desselben angeknüpft, so dass, wenn er das Erstere erhalten will, er sich auch das Andere gefallen lassen muss. Weil das Dasein des Menschen von äußeren Gegenständen abhängig ist, so kann er an einer Seite seines Daseins gefasst werden. Der Mensch wird nur gezwungen, wenn er etwas will, mit dem noch ein Anderes verbunden ist und es hängt von seinem Willen ab, ob er das Eine und damit auch das Andere, oder auch keines von beiden will.“

Der faschistoide Zwang der Wirtschaft – deklariert als Freiheit – besteht darin, dass der Einzelne von der Gesellschaft, die einzelne Nation von der Gemeinschaft der Völker anerkannt werden will. Also muss er sich ranhalten und die despotischen – und von keinem demokratischen Volk gewählten – Gesetze der Wirtschaft respektieren.

Er will nicht arm sein wie eine Kirchenmaus, will nicht unbedeutend und ohnmächtig sein wie ein Indiostamm am Amazonas – also muss er sich den Gesetzen der Finanzgewaltigen unterwerfen. Will er einen bestimmten Wohlstand, muss er sich einreihen ins vergiftete Netz gegenseitiger Abhängigkeit, das von wenigen Superköpfen ausgetüftelt und beherrscht wird.

Tut er’s nicht, darf er frei unter den Brücken der Seine vor sich hin darben oder – wie unendlich viele Kinder und Mütter in unterentwickelten Ländern – unbetrauert verrecken. Kein Mensch hat sie getötet. Es war nur das System unverrückbarer Naturgesetze – frisch erfunden von Genies der indirekten Beglückungszwänge.