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Die Welt

Hello, Freunde der Welt,

wie alles stürzt und drängt und sich übereilt. Der Sturm der Geschichte weht uns, wohin wir nicht wollen. Oder wollen wir etwa, was Geschichte will? Hat Geschichte uns mittlerweilen so im Griff, dass wir tun, was sie uns vorgibt und unterwegs sind, wohin sie uns treibt?

Die mächtigste Erzieherin des Abendlandes – und also der Welt, die vom Abendland besiegt wurde – ist die Geschichte. Nicht das formlose Vorüberziehen der Jahrzehnte und Jahrhunderte, nicht das Vorüberfließen der vulgären Zeit. Sondern die Geschichte des Heils und Unheils.

Die meisten Kulturen kennen keine Heilsgeschichte. Nur die drei Erlöserreligionen beschreiben die irdische Zeit als Ablauf der Rettung der Welt durch den Schöpfer derselben in verschiedenen Akten, Bühnenbildern und dramatischen Ereignissen.

Schöpfer und Erlöser sind identisch. Dem Schöpfer gelang es nicht, eine nachhaltig vollkommene Welt zu schaffen, also muss er sie nach dem Fall zur ursprünglichen Vollendung erlösen.

Die Schuld am Sturz aus der primären Perfektion ins Unheil gibt der Allmächtige seinen ohnmächtigen Geschöpfen, die alle Schuld auf sich nehmen und alles tun, um durch Umwandlung der Welt den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.

Immer müssen Kinder die Gebrechen ihrer Eltern ausbügeln, weil man ihnen einbläute, am Elend der Eltern allein schuld zu sein. Doch der Vater im Himmel ist so ehrpusselig und eifersüchtig auf die Fähigkeiten seiner Kinder, dass er

in der Gestalt seines Sohnes selbst die Welt errettet haben will. Erneut gucken die Menschen in die Röhre und müssen sich noch schuldiger fühlen, wenn sie auch am Elend des Sohnes schuldig sein sollen. Schuldig am Vater, schuldig am Sohn.

Auch der Sohn versagt, was nun – ihr Menschen? Auch dessen Unfähigkeit will die fromme Menschheit ungeschehen machen, indem sie durch Genie und Kreativität aus der irdischen Misere ein zweites Paradies schaffen will. Alles, was Vater und Sohn versprochen und nicht gehalten haben, versuchen die Menschen in Do it Yourself zu perfektionieren. Die Gebrechen und Unfähigkeiten von Vater & Sohn sollen aus eigener Kraft ungeschehen gemacht werden, doch so, als hätten nicht sie, sondern das heilige Duo alles geleistet.

Es ist wie bei Noah, der berauscht in seiner Blöße lag und Sem und Japhet „nahmen das Gewand, legten es auf ihre Schultern und gingen rückwärts hinzu und bedeckten ihres Vaters Blöße, indem ihr Angesicht rückwärts gewendet war, sodass sie ihres Vaters Blöße nicht sahen.“ Ham, den pietätlosen Voyeur, erwartet ein gnadenloses Schicksal.

All diese Geschichten sind Inhalt der Gesamtgeschichte, die in ihre letzte Phase eintritt. Wird der Mensch allein das apokalyptische Heil und Unheil schaffen – oder geben sich die Phantasiefiguren des Jenseits endlich zu erkennen und kommen auf die Erde, um ihre vielen Prophezeiungen zu erfüllen?

Geschichte muss spannend sein, denn niemand kennt das Ende. Die einen glauben, die anderen nicht. Doch alle sind daran beteiligt, durch irdisches Wirken die Prophezeiungen selbst zu erfüllen.

Der gefühlte und beteuerte Glaube spielt keine Rolle mehr, die Struktur der Moderne in Wissenschaft, Technik und Naturzerstörung ist christlich geworden. Niemand kann sich diesen christlichen Strukturen völlig entziehen, es sei, durch Selbstentleibung.

Eine aufgeklärte Menschheit jedoch könnte die Strukturen einer automatischen Heilsgeschichte bekämpfen, die irdische Zeit von allen transzendenten Zwängen befreien und ihr die Unbefangenheit einer natürlichen Zeit zurückgeben.

Natürliche Zeit kennt keinen Anfang und kein Ende, die Geschichten eines Gottes sind ihr unbekannt. Jeder Tag ist für sie von gleichem Rang und bemisst sich nicht danach, in welchem Maß er sich dem Ende genähert hat. Ein durch übernatürliche Allmacht verordnetes Ende käme ihr seltsam vor. Solche übernatürlichen Erfindungen hält sie für einen Aggressionsakt gegen die Natur, die zerstört werden soll.

An welchem Punkt der aufgenötigten Heils- und Unheilsgeschichte befinden wir uns? Geht es nach den Frommen: im letzten Akt. Geht es nach heidnischen Naturverehrern, ist die Frage nicht beantwortbar, denn es gibt keine spektakulären Zeitepochen in der Natur. Sub specie naturae ist es nicht sinnvoll, sich an jenseitigen Projektionen des Menschen zu orientieren, die mit der Realität der Natur nichts zu tun haben.

Der Sinn der Weltgeschichte ist der Kampf zwischen beiden Zeitdeutungen. Gehen Natur und Menschheit ihrem Ende entgegen, das sie prophylaktisch selbst exekutieren müssen – oder können sie dieses vom Westen der Welt auferlegte Heils- und Unheilsende verhindern?

Da die Gläubigen seit 2000 Jahren die Wiederkunft ihres Messias erfolglos erwarten, geraten sie unter Zeitdruck und Beschleunigungszwänge. Immer schneller und hektischer muss die Zeit vergehen, immer schleuniger müssen die Veränderungen durchgezogen werden – um den Messias zur Wiederkunft zu nötigen.

Sollte er wider Erwarten doch nicht kommen, will die gläubige Menschheit das Ende selbst produzieren. All ihre technischen und wissenschaftlichen Kompetenzen müssen aufgeboten werden, um der Natur das Abschiedslied zu singen. Vollends die Wirtschaft soll derart gefräßig und unendlich werden, dass die Natur keine Überlebenschance mehr erhält.

Doch dieses Ziel wird die Menschheit mit Bestimmtheit nicht erreichen. Dazu fehlt ihr alles. Sie wird nicht die Natur, sondern sich selbst auffressen. Das wird sie auch nicht mehr bemerken, denn post mortem ist sie mausetot.

Zur Endzeit gehört die endgültige Eroberung der Welt durch die Auserwählten. Die Aufteilung der Erde in verschiedene Machtbereiche soll beendet werden zugunsten der planetarischen Despotie der Erlöser, die sich schon heute drum streiten, welche der drei Erlöserreligionen die einzig wahre ist und am Ende der Zeiten die Nase vorne haben wird. Heute wird das Spiel 2:1 gespielt: Christen & Juden gegen Muslime. Früher gab‘s andere Gefechtsformationen.

(In Deutschland haben die obersten Thron&Altar-Christen Lammert und Gauck nach langer apokalyptischer Abstinenz die Katze aus dem Sack gelassen und der Republik die Verfallszeit eingeritzt. Zwar kein genaues Erscheinungsdatum des Herrn – das ist im Neuen Testament verboten: ihr wisset nicht die Stunde, also wachet –, aber doch die unmissverständliche Ansage des Pfarrer-Präsidenten Gauck, dass jeder irdische Staat ein Vorletztes sei.

Damit ist die vorletzte Demokratie einem letzten Heils- und Unheilsfinale unterstellt, die biblische Schöpfungsbewahrung hat sich als christogener Schwindel entlarvt. Es gibt nichts zu bewahren, alles geht einem Ende zu. Christen haben das Kommen des Endes nicht aufzuhalten und zu bremsen, sondern zu beschleunigen: komm, Herr, ach komme bald.

Nachdem das amerikanische und deutsche Christentum lange Zeit auseinanderdrifteten, zeigt sich allmählich wieder ein Gemeinsames. Die „aufgeklärte“ Entmythologisierung der Deutschen durch geschichtstheologische Abstinenz wird von Gauck eingestampft, ab jetzt darf im deutschen Protestantismus der fundamentalistische Bible Belt mit seinen johanneischen Visionen wieder umarmt werden. (Der vatikanische Katholizismus hält sich seit Augustin von allen Endzeiterwartungen fern. Sollte der Messias kommen, wäre es aus mit der römischen Seelenherrschaft.)

Die deutsch-ökologische Bewegung, schon lange christlich kontaminiert, hat sich endgültig ins Messer gestürzt. Entweder erfinden die Deutschen eine nicht-theologische Ökologie oder sie werden keine Ökologie mehr zur Verfügung haben.

Gauck & Lammert haben das aggressive Zeichen gegeben: vorwärts zum apokalyptischen Untergang. Demokratie ist eine minderwertige Staatsware mit verdecktem Vergänglichkeitsdatum. Nur Christen sind wahre Demokraten und werden die letzten Hindernisse des geschichtlichen Parcours überwinden, Gottlose und Heiden sollen zum Teufel gehen.

Das ergibt eine doppelte politische Bewegung. Einerseits entziehen die deutschen Eliten den Amerikanern zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte in hohem Maße ihre Über-Ich-Zuneigung und bewundern den neuen starken Mann in Russland, andererseits können sich im tiefsten theologischen Es die empfindsamen Seelen beider Nationen wieder zusammenfinden. Für gegenläufiges Chaos in der nächsten Zukunft ist gesorgt.

Sollte die theologische Gauck&Lammert-Demokratie sich bei uns durchsetzen, werden die Deutschen zum erneuten Male ihre Bauernrevolution, ihre 1848-Bürgerrevolution, ihre linke Weimarer Revolution und ihre im Jahre 1945 aufoktroyierte Verliererdemokratie verscherzen.

Im Schutz ihrer hohen Ämter beweisen Gauck & Lammert, dass die Deutschen noch immer nicht wissen, was eine autonome Vernunftdemokratie ist. Sie tragen die Last der Demokratie wie der Erlöser das Kreuz und die Schuld der Welt. Durch Degradierung der Demokratie zum Irdischen und Vorletzten haben sie der Republik das Kainszeichen auf die Stirn geschrieben. Die Hatz auf das Vorletzte ist freigegeben.)

Zu Beginn der Neuzeit vor 500 Jahren begann die imperiale Missionierung und Eroberung der Welt durch den christlichen Westen. England wurde zur Weltherrin Nummer Eins und machte sich vor allem Indien untertan, Frankreich eroberte Afrika, Belgien zog dem Kongo die Haut ab, schon vorher hatten Spanien und Portugal sich Süd- und Mittelamerika aufgeteilt; Moskau, das Dritte Rom eroberte Asien bis zum sibirischen Ende der Welt.

Nur China und Japan blieben militärisch unbesiegt, wurden aber mit bedrohlichen Flottenbewegungen zur wirtschaftlichen Öffnung ihrer Länder und zur Übernahme des Kapitalismus gezwungen. Eine relativ unmilitärische, dafür umso effektivere Unterjochung unter die Gesetze eines westlich erfundenen Raff- und Gierkapitalismus.

Nach dem zweiten Weltkrieg schlug das Ende des westlichen Imperialismus, die besetzten Länder wurden nominell frei. Doch zum Preis wirtschaftlicher Abhängigkeit und Unterordnung.

Erst heute haben all diese Länder ihre Aufholbewegung so weit vorangetrieben, dass sie ihre Unterlegenheitsgefühle gegenüber dem Westen abgelegt und ihre alte Weltgeltung zurückerobert haben. Dominic Johnson schreibt in der TAZ:

„India Rising“, das aufstrebende Indien, steht jetzt neben „China Rising“ und „Africa Rising“ sowie dem aggressiven Nationalismus in Russland. Die großen Machtblöcke der Welt stellen sich neu und selbstbewusst auf. Ihre Botschaft: Die Dominanz des Westens ist vorbei. Das ist die politische Dimension der Machtverschiebungen, die in der Weltwirtschaft schon seit einiger Zeit im Gange sind. Europa und die USA sind nicht mehr die wichtigsten Akteure der Erde.“

Die vorbildlich sein wollende Epoche der Nachkriegszeit, die die Gräuel des Zweiten Weltkrieges für immer überwinden wollte, geht damit zu Ende. „Indien und China melden sich auf der Weltbühne nicht neu an, sondern sie reklamieren ihre alten Plätze. Weltregionen wie Afrika und Lateinamerika, die von europäischer Herrschaft viel stärker geprägt sind, eifern ihnen nach.“

Die neuen uralten Machtblöcke eint keine gemeinsame Idee einer multipolaren, friedlich geeinten Welt. Es geht nicht mehr um eine gemeinsame Zukunft, sondern um die Verfestigung der eigenen Macht. Verschärft durch Scharmützel um die letzten Rohstoffe der Welt, um sauberes Wasser und unkontaminiertes Land. Nach außen drohen kriegerische Auseinandersetzungen, im Innern wird von der eigenen Bevölkerung Gehorsam und Botmäßigkeit gefordert.

Johnson: „In Europa ist dieses reaktionäre Denken eine Domäne der Rechtspopulisten, die Putin und Modi zujubeln. Diejenigen, die für europäische Werte stehen, müssen darauf eine Antwort finden. Aber dafür müssen sie erst einmal begreifen, dass sie nicht mehr der Nabel der Welt sind“.

Nein, es geht nicht um europäische Werte, sondern um universelle Menschenwerte, die von allen freiheitsliebenden Demokraten auf der Erde geteilt werden. Ginge es nur um europäische Werte – wie Helmut Schmidt und sonstige Putinbewunderer predigen –, wäre jedes Eintreten für Menschenrechte in anderen Ländern immer noch ein imperialer Akt.

Nein, das reaktionäre Denken ist schon lange nicht mehr die Domäne europäischer Rechtspopulisten. Der gesamte Westen, unter der Führung eines machthungrigen neoliberalen Amerika, betreibt seit 9/11 nur noch geostrategische Machtstabilisierung. Nicht nur mit Waffen, sondern vornehmlich mit wirtschaftlichen Knebelmethoden.

Die alten Machtblöcke verbarrikadieren sich und rüsten zum letzten Kampf um die Weltherrschaft. Für den neu entbrannten weltpolitischen Darwinismus brauchen die Länder starke Männer und militante Religionen. Überall werden undemokratische Alleinherrscher von den Völkern gewählt oder putschen sich an die Regierung.

Tom Schimmeck in der BLZ: „Wer irgendwo im tieferen Innern die Hoffnung pflegte, die Zeit der Potentaten, Caudillos und Führer sei passé, die Weltmenschheit schreite kulturell voran, werde laaaangsam, aber stetig offener, freier, erleuchteter, reagiert ein bisschen irritiert, fühlt Nervosität ob dieses globalen Comebacks des „starken Mannes“. Nationalismus, Machismo und Co. waren gestern? Mitnichten. Fahnenschwenken, Raketenparaden, geldpotente Kumpanei, kraftstrotzendes Posieren – alles wieder da.“

Die Rückkehr des politischen Muskelmannes ist gleichbedeutend mit Regression in die Religion. Nun auch in Indien, wo ein militanter Hindu an die Macht kam, der bei Massakern gegen Muslime beteiligt gewesen sein soll. Manche sprechen bereits von faschistischen Führern.

Doch wenn es um Stabilisierung der Wirtschaft gehen soll, haben westliche Kommentatoren viel Verständnis für die neuen Autokraten. In Deutschland werden Religionen nur als engelgleiche Friedensbotschaften angesehen.

Wie seltsam, dass die Frontlinien der politischen Konflikte allzu oft identisch sind mit uralten Frontlinien der Religionen. So in Indien, in der Ukraine, auf dem Balkan, in Afrika. Die Menschheit will anbeten und mit Unterstützung ihrer Götter Macht ausüben.

Sollte die Gattung homo sapiens sich eines Tages doch zur Friedfertigkeit entschließen, wird sie zuvor nicht nur ihre Interessen und Philosophien, sondern auch ihre Religionen überprüfen müssen.

Was für ein Zufall, dass Conchita Wurst, das androgyne und tolerante Gegensymbol gegen alle starken Männer, den europäischen Sängerwettstreit mit einem Lied gewann, dessen Inhalt mit der jetzigen Auferstehung uralten Machtdenkens übereinstimmt. India rising, China rising und Africa rising – nun auch „Rise like a Phoenix” des sanftmütigen Mannes, der eine Frau, und der Frau, die ein bärtiger Mann sein will:

Steige auf wie ein Phönix
Aus der Asche

Du warst gewarnt
Wenn ich erst verwandelt bin
Wenn ich erst wiedergeboren bin
Weißt du, ich werde aufsteigen wie ein Phönix

Steige ich auf zum Himmel
Du hast mich zu Fall gebracht, doch
Ich werde fliegen

Und aufsteigen wie ein Phönix
Aus der Asche.

Diesen Song könnten die machtpolitisch aufwachenden Länder gegen ihre früheren Unterdrücker aus dem Westen singen. Einst wurden sie von jenen zu Fall gebracht, nun steigen sie auf aus ihrer Asche und heben ab in die Etage der Weltmacht. Phönix war Vorläufer des Christus, der erst sterben musste, um zur Allmacht aufzuerstehen.

Wie viele nichtchristliche Länder wurden durch den christlichen Westen zum Elend und Untergang bestimmt? Nun suchen sie ihre uralten Religionen und starken Glaubensführer, die ihre Völker aus der Asche zu neuer Geltung auferstehen lassen sollen.

Ein halbes Jahrhundert lang bemühte sich die Menschheit um religiöse Toleranz und um die Verbreitung universeller Menschenrechte. Nun kehrt sie zurück ins Stahlgehäuse ihrer partikularen religiösen Hassgebilde.

Die Götter haben die Menschen wieder an heilige Ketten gelegt.