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Die Neue Zeit

Hello, Freunde der Naturwissenschaft,

Jaron Lanier, der sie alle kennt, von Eric Schmidt bis Steve Jobs und selbst zum Urgestein von Stanford gehört, beschreibt die Atmosphäre von SV (Silicon Valley) als reine Energie. (SV steht in Deutschland für Schlussverkauf: soviel zu den gemeinsamen Werten).

Wer im amerikanischen Zukunftshain bestehen will, muss wie Zarathustra im Gebirge leben, nahe den Blitzen und Gewitterwolken des Himmels:

„Meine ungeduldige Liebe fließt über in Strömen, abwärts, nach Aufgang und Niedergang. Aus schweigsamem Gebirge und Gewittern des Schmerzes rauscht meine Seele in die Täler. Zu langsam läuft mir alles Reden – in deinen Wagen springe ich, Sturm! Und auch dich will ich noch peitschen mit meiner Bosheit! Wie ein Schrei und ein Jauchzen will ich über weite Meere hinfahren, bis ich die glückseligen Inseln finde, wo meine Freunde weilen. Zu groß war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelächtern der Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.“ (Also sprach Zarathustra)

Einen kleinen Unterschied gibt es: Deutsche Genies wandern einsam und unverstanden im Gebirg („Den 20. ging Lenz durchs Gebirg“ – Büchner), krepieren früh oder werden am Ende ihres Lebens wahnsinnig, amerikanische klumpen gern auf dem Campus von Elite-Unis und werden am Ende ihres Lebens ungeheuer reich und mächtig. In Erwählten-Restaurants ernähren sie sich von Gerichten mit dem Titel: ich bin charismatisch. Oder: Ich bin erfolgreich. Wer beim Bestellen nicht den ganzen Satz ausspricht, muss ohne Manna auskommen. Berichtet Lanier in seinem Buch „Wem gehört die Zukunft“.

In Berlin, der Stadt charismatischer Buletten, ist die Energie-Konferenz Re:publica

 zu Ende gegangen. Überschwänglich haben die Medien getickert, jesajanisch hat Sascha Lobo gewettert und gewittert, doch seine ausgepumpten Piraten dachten nicht daran, Silicon Valley telekinetisch nach Deutschland zu holen und in Kreuzberg einen Tempel der Dynamik aus dem Boden zu stampfen.

Seit den Tagen des Führers sind Deutsche energiegeschädigt. Propheten und Richter anerkennen sie nicht, es sei, sie kommen als bescheidene Progressisten und verteilen im Hintergrund gute Gaben.

In solchen Großtreffen der Außenseiter, die auf dem Sprung in die Mitte der Gesellschaft sind, herrscht eine Stimmung aus kodierter Betriebsamkeit und verschlüsselter Apathie. Man möchte gerne Bäume rausreißen, allein, war das nicht die Sünde der Väter? Die jungen deutschen Seelen würden so gern die Welt erretten, aber hatten nicht bereits ihre Verbrecherväter die Welt retten wollen?

Deutsche Junggenies müssen all ihre Energie aufwenden, um ihre soteriologischen Energieanfälle (Soter = der Erlöser) im Zaum zu halten. Da haben‘s neocalvinistische Jung-Amerikaner einfacher. Ihre finale Rettung der Welt steht ihnen noch bevor. Noch strömen sie über. Auch über den amerikanischen Tellerrand hinaus. Ob die nichtamerikanische Welt überströmt werden will, interessiert die kalifornischen Welterlöser nicht die Bohne.

Was gut ist für Amerika, ist gut für die Welt. Sollte Merkel das noch nicht begriffen haben, nach dem Besuch bei Obama hat sie es. Wenn Flötenbläser Snowden trotz Verbots nach Berlin kommen sollte, wird ihm die deutsche Regierung im Einklang mit der CIA den Marsch blasen. Was gut ist für Amerika, ist auch gut für Deutschland, dieses Dokument musste Angela im oval office mit Blut unterschreiben.

Was Sascha Lobo und seine Gemeinde nicht wissen: Deutschland war die Wiege von Silicon Valley. Um 1900 war das neue Reich in der Mitte Europas zur Universität der Welt geworden. Alle wiss- und lernbegierigen jungen Menschen der Welt strömten nach Berlin, Heidelberg, Freiburg, Münster, Gießen und in andere schmucke Städtchen mit Fachwerkgiebeln und lustigen Wirtstöchtern.

Der deutsche Geist war dezentral, föderal und kleinstaatlich, aber von gewaltiger Wirkung. Die deutsche Zurückgebliebenheit hatte in aller Stille und Abgeschiedenheit, Einsamkeit und Freiheit, ihre Innerlichkeit zu einer Welt ausgebaut, die sie nur noch nach außen stülpen musste. Reculer, pour mieux sauter, sie mussten einen längeren Anlauf nehmen, um alle Konkurrenten zu überflügeln.

Aus dem Volk der Dichter und Denker war ein Volk exzellenter Wissenschaftler geworden, die leider – das Denken einstellten, als sie mit den Ergebnissen ihrer Wissenschaft die Welt eroberten.

Die überwiegende Mehrheit der Professoren-Republik waren Gegner der Demokratie und Befürworter des nahenden Krieges, den sie als Gottesbeweis ansahen zur Beantwortung der Frage, welche Nation die wahrhaft auserwählte sei.

Sie schrieben sich die Finger wund gegen angelsächsische Krämer und kosmopolitische Moralheuchler des Westens. Der Mensch ist kein allgemeines und gleiches Wesen, er ist national, unvergleichlich, ungleich, um nicht zu sagen chauvinistisch und rassistisch. Recht und Moral bezogen die 1914-Enthusiasten aus der eigenen Geschichte und nicht aus der Geschichte der Franzen, Balkanesen oder Hottentotten.

Geschützt durch ihre Isoliertheit und Zurückgebliebenheit hatten die Deutschen seit Sturm und Drang, Lessing und Kant, den Gedanken an sich um- und umgepflügt. Als sie ihre politische Unfähigkeit überwunden und Anschluss an die Völker gefunden hatten, ergossen sich ihre von aller Machbarkeit weit entfernten philosophischen Gedanken in streng disziplinierte empirische Einzelwissenschaften. Die Philosophen hingegen degenerierten zu akademischen Wille-zur-Macht-Schwätzern.

Die fachwissenschaftliche Weltgeltung kollidierte mit politischer Hinterwäldlerei, die sich zu reaktionärem Dünkel gegen die westliche Welt verdichtete. Das kontemplative Denken der Deutschen verwandelte sich in praktisches Wissen, das Wissen wurde zur Bacon‘schen Wissenschaft: Wissen ist Macht, Wissenschaft imperiale Machenschaft.

Die wilhelminische Flottenepoche wurde zum Massengrab der deutschen Denker. Nach Nietzsche, der lieber eine Mischung aus Cesare Borgia und Napoleon gewesen wäre, war der Ofen aus. Seitdem haben wir Neuhegelianer, Neukantianer, Neufichteaner, viel Uraltdünkel und noch ältere Messianer.

Man darf sich von den neuen sich sachlich gebenden Begriffen wie rassistische Anthropologie, historische Rechtsschule, Darwinismus und Imperialismus nicht täuschen lassen. Hier wurde in neue Schläuche nur der archaische Erwählungsglauben gegossen. Statt des Wortes: viele sind berufen, wenige auserwählt, wurden die Schädel der Völker gemessen, ihr IQ festgestellt, ihre Waffen gezählt und ihr Wohlstand notiert.

Mit voraussehbarem Ergebnis: die Erwählten des Himmels wurden zu den Stärksten der Evolution. Aus der Prädestination Calvins wurde das Survival of the Fittest, aus dem Fortschritt ins Paradies wurde der Fortschritt ins Reich der Freiheit im gottlosen Osten und ins neue Kanaan im christlichen Westen.

Der Begriff Säkularisierung (= Verweltlichung) wurde eingeführt, um die Konkretisierung der Religion in Interessenpolitik als Abfallbewegung vom Glauben zu attackieren. Das Gegenteil war der Fall. Säkularisierung war Stabilisierung und Verfestigung des Glaubens in bekenntnisunabhängige politische Strukturen. Die Frohe Botschaft überwand die Welt, unabhängig davon, was die Einzelnen glaubten und meinten.

Nun wurden die Berge wirklich versetzt, die Natur wirklich untertan gemacht, gleichgültig, was die Herren der Welt subjektiv glaubten. Ihr Glaube resultierte aus ihren Taten.

Vorbei die Scheltrede: die Christen salbadern nur, tun aber nichts. Sie predigen Wasser und trinken Wein. Nun taten sie. Und was sie taten, das glaubten sie. Ob ihnen das bewusst war oder nicht. Nicht ihre Triebregungen waren ihr Unbewusstes, sondern ihre vor aller Augen liegenden Natureroberungen, ihre Beglückungskriege, ihr welterobernder Imperialismus.

Säkularisierung war die endgültige Transformation des subjektiven Glaubens in objektive Taten. Wie Brot und Wein im Abendmahl in Leib und Blut Christi transsubstantiiert, so wandelt sich im Prozess der Verweltlichung das überirdische Wort in sichtbares Fleisch der Welt.

Apologeten des Glaubens betrachten die Säkularisierung als Abfall vom Glauben. Die Schäden der Moderne seien die giftigen Früchte dieser Gott-ist-tot-Ideologie. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar verloren viele Menschen nach Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ihren gefühlten Glauben, bemerkten aber nicht, dass die Strukturen ihres realen Tuns konkrete Folgen der ecclesia triumphans geworden waren.

Die planetarische Struktur aus weltumspannenden Eisenbahnen, Autostraßen, Luftverkehr und Meeresüberquerung, aus Rohstoffabbau in allen Winkeln der Welt, aus Naturzerstörung durch Roden, Wälderabholzen, Tiere ausrotten, hatte peinlich genau den biblischen Befehl exekutiert: Machet euch die Erde untertan.

Was in Silicon Valley passiert, ist nichts als die Fortsetzung der deutsch-wilhelminischen Verwandlung von Wissen in Macht. Mit amerikanischen Ober- und Untertönen.

Sascha Lobos Scheltrede wird folgenlos verhallen. Er ignoriert die gedankliche Verholzung der deutschen Szenerie. Die Deutschen denken mit amerikanischem Über-Ich, den Zugang zu ihren deutschen Wurzeln haben sie nicht gefunden. Sie suchen nicht mal danach. Nicht weil ihre nationale Biografie besser wäre als die der anderen Völker – im Gegenteil, sie ist pathologischer –, sondern weil es ihre Biografie ist.

Wie das Individuum nur zu sich kommen kann, wenn es seine biografische Entwicklung verstanden hat, so und nicht anders ist es bei Kollektiv-Individuen. Erst wenn man sich selbst verstanden hat, ist man offen für andere. Die Deutschen werden ihre kreativen Wurzeln erst finden, wenn sie die Wurzeln ihrer gesamten Geschichte frei gelegt haben.

Die Teilnehmer des Re:publica-Treffens hätten erst deutsche Geschichte studieren müssen, um die nationalen Determinanten ihres persönlichen Tuns aufzudecken. Das gilt für alle Bereich des Lebens: für Wirtschaft, Politik, Drittes Reich, Ökologie, Kunst und Wissenschaft.

Deutschland liegt wie unter einem Sauerstoffzelt und atmet amerikanische Luft aus importierten Stahlbehältern. Gegen ihre eigene Atmosphäre, ihre eigenen Emissionen, ist das Land der Täter allergisch, weil es seine Vergangenheit für verseucht und vergiftet hält.

Das ist sie auch. Gerade deshalb muss sie durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten angeeignet und für die Zukunft verändert werden. Unserem deutschen Sumpf werden wir nicht entkommen, solange wir ihn verleugnen.

Haben wir uns das Deutschsein erarbeitet, können wir die Psyche anderer Völker erkunden. So wenig sie sich verstehen, so wenig verstehen die Deutschen die Amerikaner.

Google und die NSA sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen. Sie sind die Ergebnisse der kalifornischen Hippiebewegung, die sich mit asiatischen Religionen, alteuropäischen Mystikern, spiritueller Erbauung, freudianischen Erkenntnissen und einer Vielfalt an kreativer Selbstverwirklichung beschäftigt hat.

Die Hippiebewegung begann als Protest gegen den Vietnamkrieg und wuchs zur weitreichenden Ablehnung des american way of life einer unbeweglich gewordenen Wohlstandgesellschaft.

Wie konnte es geschehen, dass ausgerechnet diese eher naturzugewandte, antikapitalistische und antitechnische Bewegung zu einem der technischsten und mächtigsten Faktoren der jüngsten Geschichte werden konnte? New Age nannte sich das kalifornische Sammelsurium aus grundsätzlicher Technikkritik, ökologischen Yin- und Yang-Harmonien und freudianischer Selbsterkenntnis.

New Age ist das Neue Zeitalter. Der Name entlarvt den immanenten Kern der Hoffnungen der aufbrechenden Jugend: vorwärts ins Reich einer neuen Schöpfung. Alles sollte verändert werden.

Die Energie von Silicon Valley ist Veränderungsenergie. Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht und ganz neu erschaffen werden muss.

Hermann Hesses Siddharta, seine Begegnung mit Buddha gehörten zur Lieblingslektüre der Woodstock-Generation, die – das hat sie bis heute nicht begriffen – zu den Gründervätern von Google, Apple, letztlich auch der NSA werden sollte.

Steve Jobs war in Indien, um die Menschenführung der Gurus zu studieren, die er später kaltschnäuzig einsetzte: Übermäßig loben, willkürlich jemanden herausgreifen und tadeln, den Gedemütigten wieder in Gnade aufnehmen.

Lanier erkennt nicht, dass die unberechenbaren Akte eines liebenden und zürnenden Führers identisch sind mit den Methoden des christlichen Gottes.

Die Hippiebewegung traute sich nicht, ihren Protest gegen ihre biblizistischen Eltern als Rebellion gegen deren Religion auszuweisen.

Als die ersten Computer aufkamen, waren sie nichts als interessante Spielzeuge. Wie beim Zauberlehrling wuchs das Spielzeug dieser Generation unbemerkt über den Kopf. Aus spirituellen und psychischen Selbstverwirklichungstechniken wurden unter der Hand mechanisierte und maschinenhafte Allmachtsträume.

Nach und nach verwandelte sich der Neue Mensch in einen künstlichen Menschen, in einen menschengemachten Golem mit künstlicher Intelligenz. Lanier: es kam „zu einer Vermischung von Hippie-Spiritualität und Technologiekultur.“ Jeder Hippie wollte ein „bemerkenswerter Mensch“ sein, auf dem Pfad der „Selbsterleuchtung und Selbstverwirklichung“.

Zu den Gründervätern in der Bay Area gehörte der griechisch-armenische Esoteriker Georges Gurdjieff, dessen Spiritualismus den „Vierten Weg“ zur Entwicklung des ganzheitlichen Menschen bahnen sollte. Die Jünger des New Age waren davon überzeugt, „innerhalb weniger Jahre die Welt zu verändern“.

Ein Schlüsselwort der Bewegung war „Abundanz“, die Fülle. Der Begriff sagt, dass dem erleuchteten Menschen „große Erfolge möglich sind“. Man konnte Erfolg haben, wenn man „loszog und ihn suchte“.

Gurdjieff hatte immer wieder betont, die meisten Menschen würden schlafen. Nicht so seine Jünger, die zu erleuchteten und bemerkenswerten Menschen werden konnten. Hier haben wir erneut das Wachsein-Motiv der Jünger Jesu. Wer mit dem Herrn wacht und dem natürlichen Bedürfnis nach Schlaf nicht erliegt, der kann außergewöhnlichen Erfolg haben.

Wie das Christentum eine Religion des Erfolgs ist, so können seine Gläubigen den Sieg über die Welt erringen. Nicht nur können sie „physikalische Realität beugen“, sie können ihr eine „Delle verpassen“. Silicon Valley wird vom Begriff der Begriff Abundanz regiert. „Man muss nur das Selbstvertrauen aufbringen, dass einem die besten Liebhaber zustehen, die exquisitesten Besitztümer und Gesundheit und ewige Jugend, dann beugt sich die Realität der eigenen Willenskraft“.

Versteht sich, das solche Allmachtsträume sich der neuen Intelligenzmaschine bemächtigen mussten, um sie in handfeste Realität zu verwandeln. Unbemerkt wurden aus psychischen Selbstoptimierungsideen technische Omnipotenzphantasien, die sich ihre Werkzeuge in den neuen Robotern und Intelligenzmaschinen schufen.

Ja, die Maschine sollte den Menschen überflügeln und zu einem eigenständigen und weltbeherrschenden Organismus werden. Bei der neuen Mentalität ging es darum, „dass Technologie selbstbestimmt ist, eine riesige übernatürliche Kreatur, die von selbst wächst und schon bald die Menschen vereinnahmen wird.“

Wieder einmal wurde der Traum vom Neuen Menschen zu einem Alptraum, der die Menschheit mit Zwangsbeglückungen unterjochen will. Religiöse Fieberträume der christlichen Religion sind auf fruchtbaren Boden gefallen, wenn Lanier im Cafe einem alten Freund begegnet, der als „nüchterner, seriöser Wissenschaftler daran arbeitet, die Menschen unsterblich zu machen.“ Er wird doch nicht Ray Kurzweil heißen.

Wissen die deutschen Computerfreaks von den gottgleichen Visionen ihrer kalifornischen Vorbilder? Wie können sie Gegenstrategien entwickeln, wenn sie nicht mal die Strategien der Siliconisten verstehen?

Können sie ermessen, was der Grundsatz der kalifornischen Neuen Zeit bedeutet: „Der normale Irrsinn der Welt ist dem Silicon Valley entschieden zu normal“?