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Die Kanzlerin und Sokrates

Hello, Freunde der Kanzlerin,

60 Jahre und kein bisschen weise. Die beste Voraussetzung, eine Heilige zu werden. Zur Abwechslung keine katholische, sondern eine lutherische, eine Johanna von Mecklenburg. Auf der Politikseite der BILD prangt sie schon als verklärte Dauerikone in weichgezeichneter Aura.

Heiligenlegenden beginnen zu grassieren. Über Nacht könnte sie sich in die Lüfte heben, ganz nach dem Vorbild ihres Heilands und Erlösers, der vor den Augen seiner Jünger emporgehoben wurde und eine Wolke nahm ihn auf, sodass er ihren Blicken entschwand. Bittere Tränen wird Deutschland vergießen, wenn Angela, die Engelgleiche, das Land verlassen wird, das sie nicht verdient hat.

Der Kyffhäuser, Deutschlands unterirdischer Olymp, rüstet schon die Gemächer, um die Entrückte standesgemäß zu empfangen. Alle bayrischen Marienstatuen sollen mit Merkels Demutsmiene nachgerüstet werden.

Dabei begann die mächtigste Frau der Welt ihren weltlichen Siegeslauf als Magd Gottes ohne Gestalt und Schöne. Sie gab sich als hässliches Entlein und wurde von allen unterschätzt. Sie war die Allerletzte und wurde die Erste, denn sie vertraute ihrem Vater im Himmel, der in den Schwachen und Unansehnlichen mächtig ist.

Wie lachte man über ihre Ossifrisur, wie verhöhnte man

ihre Second-Hand-Klamotten? Doch Gott sah nicht hin auf die Niedrigkeit seiner Magd: Er hat Gewaltige vom Thron gestoßen und Niedrige erhöht. Kohl, der Gewaltige, wo ist er hin? Seine männlichen Palladine, wer kennt noch ihre Namen?

Das ach so christliche Deutschland kennt nicht die christliche Paradoxie, mit der man die Macht über die Welt erringt. Es kennt nicht die biblische Selbsterniedrigung, um über alle erhöht zu werden. Die Untertanen der Kanzlerin bewundern ihre Demut und Bescheidenheit und wissen nicht, dass die Letzten die Ersten sein werden.

In operativer Absicht werden sie die Letzten, um die Ersten zu werden. Sie tun, als könnten sie nicht bis auf Drei zählen – und schon sitzen sie an den Tischen der Mächtigen, um die Felle der Menschheit unter sich aufzuteilen.

Warum eigentlich jammern die Politbeobachter, Merkels Politprinzipien seien schwer zu durchschauen? Merkel würde in Camouflage machen?

Ganz offenherzig verrät sie ihre ideologischen Grundsätze, man muss nur hinsehen. Bei jedem persönlichen Jubiläum lädt sie Gelehrte zum Vortrag. Einmal durfte Gehirnforscher Singer über den unfreien Willen des Menschen dozieren. Und zum 60sten war der Historiker Osterhammel geladen, der laut FAZ keine moralischen oder politischen Sprüche machte: „Universalgeschichte ohne Geschichtsphilosophie“. Osterhammels „Geschichtsschreibung kennt darum nur ein Wie, kein Wozu“.

Merkels Fazit aus beiden Vorträgen: Der Mensch hat keinen freien Willen und es gibt keine rationale Utopie in der Geschichte. Das ist die Botschaft der lutherischen Merkel, die unbeirrt in den Fußstapfen ihres Reformators wandelt.

Nicht nur Calvin, auch Luther blieb seinem Kirchenvater Augustin treu und beharrte darauf, dass der Mensch keinen freien Willen hätte. Die heutigen Hirnforscher wollen es nicht wissen, doch sie sind die unmittelbaren Nachfolger der christlichen Vorherbestimmungslehre (Prädestination):

„Wenn wir glauben, es sei wahr, daß Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Dann ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, daß es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.“  (Luther)

Bei modernen Gehirnforschern ist der Mensch seinem Nervenkostüm untertan, bei den frommen Vätern seinem persönlichen Gott. Womit bewiesen, dass Gott ins Nervensystem des Menschen gekrochen ist, um ihn aus dem Zentrum der Innerlichkeit zu beherrschen. Ein Christ, sonderlich ein Deutscher, muss an seiner Innerlichkeit anklopfen, um seinem Gott Guten Tag zu sagen.

Die Selbstentlarvung dringt dem Menschen aus allen Poren, sagte Freud, da kannte er Merkel noch gar nicht, die ihre Geheimnisse mitten auf dem Marktplatz ausbreitet – weshalb sie nicht gesehen werden.

Moderne Journalisten sind Rechercheure, die mit der NSA eins gemeinsam haben: sie schnüffeln im Verborgenen, um die Rätsel der Mächtigen zu ent-bergen. Was offen herumliegt, interessiert die cleveren Investigateure nicht im Geringsten. Weshalb die amerikanischen Geheimdienste noch nie etwas Relevantes entdeckt haben. Je mehr Schrott sie sammeln, je dümmer werden sie.

Rechnen, verehrte Schlapphüte, genügt nicht. Man müsste auch lesen und das Gelesene verstehen können. Kleiner Tipp: beginnt mit der nächst erreichbaren Uni-Bibliothek. Wenn nicht, ist die nächste Hausaufgabe für Silicon unvermeidlich: erfindet eine IQ-Maschine, die euch das Denken erspart – kinderleicht bei eurem Denkvermögen –, ohne dass ihr die Illusion verlieren müsst, die Meister der Geschichte zu sein.

Nach so vielem Heiligkeitsgedöns müssten wir noch kurz klären, was weise ist. Auf jeden Fall das komplette Gegenteil zu allem Heiligen. Keine paradoxen Purzelbäume, wie man in frommer List Demut heuchelt, um sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen die Macht zu ergattern.

Was man sagt, meint man. Was man meint, tut man. Was man tut, hat man in seinem eigenen Kopf durchdacht. Noch Fragen Kienzle?

Zu einfach? Okay, dann rufen wir den Weisesten herbei. Oh, sage, großer Meister, der seinsvergessenen modernen Welt, was weise ist. Bist du in der Lage, so zu reden, dass auch die Intellektuellen und Edelschreiber es verstehen? Sei bitte nicht zu klar, sonst werden sie misstrauisch. Ohne mehrere Tropfen Geheimniskrämerei lockst du sie nicht von ihren Laptops weg. Nur was sie nicht verstehen, halten sie für klug und weise.

Antwortete der hässliche Gnom: Ich weiß, dass mein Satz: Ich weiß, dass ich nichts weiß, bei euch Deutschen benutzt wurde, um die klerikale Dunkelmännerei zu unterstützen. Schon dafür solltet ihr Deutschen in der Hölle schmoren – wenn‘s denn eine gäbe.

Ich weiß, dass ich nichts weiß, ist keine Bankrotterklärung der menschlichen Vernunft, sondern das genaue Gegenteil. Vernunft ist in der Lage, genau zu unterscheiden, was der Mensch wissen und was er nicht wissen kann. Vor allem, was er wissen muss, um ein vernünftiger Mensch zu sein.

Alles, was neurotische Naseweise am meisten wissen wollen: Gibt es Götter, ist der Mensch unsterblich und ähnlich sinnlose Fragen, können wir nicht wissen. Müssen wir aber auch nicht. Selbst wenn es Götter gäbe, selbst wenn wir nach dem Tode diese halbseidenen Gespenster träfen, würde ich mit ihnen nichts anderes machen, als was ich auf dem Marktplatz mit den Menschen mache: ich würde sie genauestens unter die Lupe nehmen und ihr Denkvermögen prüfen.

Was wir auf jeden Fall wissen können, bezieht sich allein auf unser Tun, nicht auf Jenseitsspekulationen. Was wir tun müssen, um menschlich miteinander umzugehen, das können wir wissen. Denn wir können es in der Praxis überprüfen. Die Folgen unsres Tuns fallen auf uns selbst zurück. Will der Mensch gut behandelt werden, muss er selbst gut handeln. Das weiß doch jedes Kind.

Mehr als die Kinder können wir niemals wissen. Wir Griechen waren so gute Philosophen, weil wir immer Kinder blieben. Werdet wie die Kinder, hat euer Heiliger von uns übernommen und ins Gegenteil verkehrt. Kinder wollen nicht glauben, wenn sie wissen können.

Wie wir handeln können, müssen wir nicht glauben, das können wir wissen. Und was können wir wissen? Das erkläre ich euch jetzt. Soll niemand sagen, er hätte es nie gehört. Selber schuld, wenn er nicht darüber nachdenkt:

Wer nach Macht, Reichtum und Ehre trachtet, kann dem Unrecht kaum entgehen. Denn das sind Güter, nach denen die Eliten streben, um andere herumzukommandieren.

Doch wer nach Weisheit strebt, der strebt nach Erkenntnis und Besonnenheit. Ist er erfüllt von der Erkenntnis, dass wir nur gut handeln, wenn wir uns gegenseitig Gutes tun, kann er gar nicht mehr anders als tun, was er erkannt hat. Sich und seinen Mitmenschen würde er schaden, wenn er nicht gut handeln wollte.

Natürlich genügt es nicht, nur gut handeln zu wollen. Durch Ausprobieren und Streiten müssen wir herauskriegen, was wir für das jeweils Gute halten. Dazu brauchen wir eine freie Polis und eine Volksversammlung, in der jeder mit seiner Meinung mitbestimmen kann, was die Demokratie tun soll.

Klingt alles ziemlich einfach, stimmts? Tja, das Einfachste ist das Schwierigste. Warum seid ihr in euren modernen Demokratien so weit von diesem Einfachen entfernt? Was bei euch nicht komplex und kompliziert klingt, das bespuckt ihr.

Ihr wollt uns Griechen in allen Dingen übertroffen haben. Ihr glaubt, weil ihr tolle Maschinen habt, seid ihr uns auch in anderen Dingen überlegen. Pustekuchen. Technisch habt ihr uns überholt, doch ich sage euch: all eure Technik, die die Natur zerstört, die wollten wir gar nicht. Wir wollten den schönen Kosmos nicht zerstören. Wie sagen unsere Brüder, die Indianer: wer will schon seiner Mutter mit dem Pflug den Bauch aufschlitzen?

Die Grundlagen aller Wissenschaft habt ihr sowieso von uns. Wir aber wollten nur wissen, wie Natur ist und ihre Vollkommenheit in Distanz bewundern. Doch ihr glaubt, die Natur nur zu erkennen, wenn ihr sie zu Hackfleisch macht. Das wäre so, wie wenn ich meinen Mitmenschen nur erkennen würde, wenn ich in Stücke schneide.

Kann es sein, dass ihr pervers seid? Ihr werdet nicht aufhören, auf diese kannibalistische Art die Natur zu erkennen, bis sie euch die rote Karte zeigt und euch von der Tenne fegen wird. Und wisst ihr was: daran tut sie gut. Ihr scheint nichts zu kapieren, außer, man traktiert euch mit dem Hammer.

Hat nicht einer eurer berühmtesten Denker eine Philosophie mit dem Hammer entwickelt? Nur zu, schlagt alles kaputt, dann werdet ihr schon sehen, wer das Massaker besser übersteht: ihr oder die Natur.

Wie meinen? Ihr könntet, selbst wenn ihr wolltet, nicht mehr die Zeit zurückdrehen? Solch einen Unsinn könnt nur ihr daherquasseln, weil ihr an eine heilige Geschichte mit einer linearen Zeit glaubt. Müsst ihr etwa die Zeit zurückdrehen, um euren Kindern beizubringen: eins und eins ist zwei?

Die Zeiten ändern sich und ihr ändert euch mit ihnen? Mir wird schlecht bei diesem Unsinn. Ihr allein verändert die Zeiten und niemand sonst.

Aber es ist typisch für euch, dass ihr immer unschuldig sein wollt. Immer zwingt euch irgendjemand, einmal euer Gott, dann eure Geschichte, eure Gene und Synapsen und wenn das nicht hinhaut, lauft ihr irgendwelchen Führern hinterher, die euch das kleine und das große ABC beibringen.

Natürlich verstehe ich, warum ihr diesen Unsinn treibt. Euer Gott will selber unschuldig sein und schiebt alle Schuld an seiner kaputten Schöpfung euch in die Schuhe. Anstatt zu protestieren und eurem Gott auf dem Forum das konstruktive Misstrauen auszusprechen, fällt euch nichts Besseres ein, als die Schuld an andere weiter zu schieben, die sich nicht wehren können. Also an die so genannte Zeit.

Keine Zeit schreibt euch vor, dass ihr euch ändern müsst, wenn ihr euch selber nicht ändern wollt. Ihr verändert euch und verändert die Zeiten. Niemals ändern euch die Zeiten, wenn ihr euch nicht ändern lassen wollt.

Genau dieser Unsinnsglaube, dass Wahrheit und Erkenntnis von Zeiten abhängig wären, wird euch noch das Genick brechen.

Nein, so unterschiedlich sind Menschen nicht, wie euer großkotziger Fortschrittsglaube es wissen will. Wahrheiten der Natur und des Menschen – der selbst Natur ist – sind von Zeiten unabhängig. Nur euer Geschichtsgott, der von Zeit zu Zeit das Neue offenbart und das Alte vernichtet, für den ist Wahrheit eine Funktion der Zeit.

Wer sich solchen Offenbarungszwängen entzieht und sich an seine naturgegebene Vernunft hält, der muss an keiner Zeitschraube herumdrehen, um zeitlose Wahrheiten zu erkennen.

Vor lauter überkandidelten neuen Wahrheiten, die keine sind – hier schnaubte Sokrates wie ein erzürnter Satyr – merkt ihr Modernen nicht, dass ihr die simpelsten Wahrheiten über Bord werft?

Eure überschätzte Kreativität muss eher blanken Unsinn produzieren, als dass ihr in der Lage wärt, eure Erfindungszwänge an die Leine zu legen. Ihr müsst euch ständig eure Genialität beweisen, um euren Schöpfer aus dem Nichts zu imitieren. Dass eure meisten Fündlein nichts taugen, außer eure Naturzerstörung zu beschleunigen, das wollt ihr nicht sehen.

Eure Mutter Merkel zelebriert Politik wie Gottesdienst, alles ist bei ihr in Gottes Hand. Gott gibt, Gott nimmt, was er wirklich will, weiß niemand. Ihre Vernunft benutzt sie nicht, von menschlicher Vernunft hält sie nicht viel. Auch hier folgt sie ihrem protestantischen Reformator, der Vernunft für eine Hure hielt.

Weise sein heißt, seine selbstgemachten Probleme für lösbar halten. Ihr dürft gar nicht weise sein, sonst kommt euer Gott über euch, der auf die menschliche Weisheit eifersüchtig ist und sie als Torheit der Welt in den Boden stampft.

Alles, was Menschen von sich aus können, hasst euer himmlischer Vater. Denn je mehr ihr könnt, je weniger wird Er gebraucht. Er will aber gebraucht werden. Das ist seine grenzenlose Sucht. Nur durch bedingungslose Anerkennung seiner Geschöpfe ist er überlebensfähig.

Die Götter Epikurs brauchten keine Anerkennung der Menschen. Sie hausten tief im Universum und ließen die Menschen ihr Spiel machen. Ihr aber müsst eure Probleme für unlösbar halten, damit ihr eurem Gott das Geschenk machen könnt: ja, Herr, wir taugen nichts, nur Du kannst uns retten.

Wenn ihr bei diesem unwürdigen Verhalten bleibt, werdet ihr niemals weise werden. Das gebe ich euch schriftlich. Ihr Modernen habt uns nicht überholt, ihr seid in die Epoche der Mythen und Göttersagen zurückgefallen. Bei diesem unmündigen Glauben sind wir Griechen nicht stehen geblieben. Die lächerlichen Erzählungen über eifersüchtige und launische Götter haben wir mit der Stahlbürste ausgebürstet.

Wir haben unseren Glauben mit Vernunft humanisiert. Die Folge der Überprüfung unserer Religion war unsere stolze Philosophie, von der ihr Modernen noch heute das Denken lernen könnt. Euer Problem ist, dass ihr glaubt, die Weisheit mit dem Löffel gefressen zu haben, obgleich ihr jeden Tag konstatieren müsst, dass euch die Felle davon schwimmen.

Leider kann ich auf euch nicht stolz sein. Mit Demokratie und Menschenwürde – Ideen, die bei uns geboren wurden – geht ihr liederlich um. Zudem macht ihr euch einer unverschämten Geschichtsfälschung schuldig, indem ihr unsere Beiträge zur Weisheit als Geschenke eures Gottes ausgebt, obgleich er sie jahrhundertelang mit dem Schwert verfolgt hat.

Da könnt ihr euch mit eurer Neuerungssucht auf den Kopf stellen: echte Weisheit sagt immer dasselbe – sofern der Mensch erkannt hat, was seine Gattung glücklich macht.

Ich behaupte dreist, wir haben das Wesentliche erkannt: der Mensch will auf Erden glücklich werden. Und er kann es.

Ihr seid nicht nur keinen Millimeter weiter gekommen, ihr seid hinter uns zurückgefallen. Denn ihr sucht das Glück nicht auf Erden, sondern in einem eingebildeten Himmel. Für diese Illusion seid ihr bereit, eure ganze Existenz auf Erden zu riskieren.

Es liegt an euch, ob ihr von uns lernen oder hochmütig untergehen wollt, weil ihr glaubt, wir hätten nichts mehr zu bieten.

Seid ihr überhaupt in der Lage, euch zu entscheiden? Ich seh‘s euren Augen an, wie viele Urängste ihr noch vor eurem Gott habt. Noch immer glaubt ihr, er wird euch bei lebendigem Leib rösten, wenn ihr es wagen solltet, Ade zu sagen.

An diesem Punkt hapert‘s: wenn ihr diese panischen Ängste nicht überwindet, werdet ihr eure Vernunft und die Weisheit des guten Lebens niemals finden. Gehabt euch wohl.

Doch Moment, wollten wir nicht über Merkel sprechen?