Tagesmail vom 22.11.2024
Die ERDE und wir. XXXII,
Der Westen ist gedanklich tief gespalten und deshalb unfähig, seine uralten Differenzen zu überbrücken.
Gedanklich heißt religiös, religiös heißt politisch.
Die beiden Religionen, die den Westen beherrschen, sind zwei totalitäre Glaubensbekenntnisse, die keine Gleichheit der Völker kennen, sondern nur auserwählte und verworfene. Sie sind die besonderen und erwählten, die anderen sind völkisches Treibgut. Inzwischen haben sie sich zum Teil von der Aufklärung rationalisieren lassen.
Das Prinzip der Gleichberechtigung stammt aus der hellenischen Philosophie, die unüberbrückbare Verschiedenheit aus den totalitären Erlöserreligionen.
In der Verwandlung der totalitären Religionen zu Politik wurden sie zu intoleranten Menschenbildern, Gesetzen und Verfassungen; die Gleichheit der Hellenen verwandelte sich in Gleichheit aller Menschen und Verfassungen.
Amerika führte heftige Auseinandersetzungen zwischen Religion und Gleichheit. Einmal überwog die Toleranz der Gleichheit, ein andermal die Unterschiedlichkeit ihres Glaubens.
Kurz nach dem zweiten Weltkrieg triumphierte die Gleichheit über alle Unterschiede der Religionen, die universalistische Doktrin der UNO wurde zum höchsten Kriterium allen ökonomischen und politischen Handelns erklärt.
Doch selbst im globalen Universalismus schwammen noch immer alte Elemente der Überlegenheit Amerikas über den Rest der Welt.
Eisenhowers Gegenkandidat Adlai Stevenson begründete den globalen Führungsanspruch Amerikas mit christlicher Erwähltheit:
„Gott hat uns einen furchteinflößenden Auftrag gegeben: nichts Geringeres als die Führerschaft der freien Welt.“
Führen aber und Gleichsein: vertragen sich diese beiden Prinzipien? Nach Auffassung der Erwählten unbedingt, nach Auffassung der Verworfenen nie und nimmer.
Unilateralismus ist das Gegenteil von Universalismus. „Unilateralität (von lateinisch unus „einer, einzig“; latus „Seite“) bedeutet „Einseitigkeit“. In der Politik versteht man darunter das Handeln eines Staates im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf die Interessen anderer.“
George Dabbelju bekannte sich zum amerikanischen Unilateralismus und sagte an die Adresse der europäischen „Freunde“:
„Es tut mir leid. Die Vereinigten Staaten sind die Führer der freien Welt, und in dieser Administration beginnen wir, auch wieder entsprechend zu handeln.“
„Die Reagan-Administration verfolgte die Rekonstruktion amerikanischer Stärke. Voraussetzung hierfür war der genannte Unilateralismus. Verbündete wurden lediglich verständigt, nicht mehr konsultiert. Protektionistische Maßnahmen sollten die Konjunktur beleben. Der Amerikanismus wurde gegenüber dem Kommunismus als überlegen hingestellt. Die Reagan-Doktrin zielte auf globale Machtentfaltung und war gegen das „Reich des Bösen“ gerichtet, wie Reagan die UDSSR nannte.“ (alle Zitate in Gerd Raeithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur)
„Die USA waren nie eine Weltmacht wider Willen gewesen, sondern ein Staat, der seine Interessen zielstrebig, finessenreich und notfalls mit Gewalt durchsetzte. 130 mal setzten die jeweiligen Präsidenten Kampftruppen ohne Kriegserklärung ein. … Die bevorzugte Form der militärischen Kriegsführung war eine „schwach-intensive Kriegsführung. Eigentlich handelte es sich um staatlich geförderten Terrorismus.“ In Mittelamerika hat die Exekutive jahrelang paramilitärische Kräfte gegen die Sandinisten unterstützt. Um die Zustimmung der amerikanischen Bevölkerung zu einer härteren Gangart amerikanischer Außenpolitik zu gewinnen, musste dieser mit Mythen wie Freiheitsmission, Kreuzzug oder Verhinderung der Apokalypse verbrämt werden.“
Die amerikanische Überlegenheit machte auch vor Gorbatschow nicht halt. „Mochten die Herzen der Amerikaner dem sympathischen Gorbi zufliegen, Reagans Leute sorgten dafür, dass die Perestroika scheiterte. Eines ihrer Ziele bestand darin, die Sowjetunion wirtschaftlich zu isolieren. Inzwischen sind sich alle Politologen in West und Ost einig, dass der Rüstungswettbewerb zwischen NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten der Sowjetunion ökonomisch das Rückgrat gebrochen hat. Es wurde klar, dass die USA weiterhin mit militärischen Mitteln in Konflikte eingreifen würden, und zwar selektiv, nicht nach allgemeinen Prinzipien, sondern je nach Interessenlage.“
Das war das Ende des amerikanischen Nachkriegsuniversalismus. Ab jetzt eroberte sich wieder der Partikularismus der nordamerikanischen Erwählten die Weltherrschaft.
Hier begannen die – zumeist jüdischen – Neokonservativen den amerikanischen Sonderweg mit Abwendung von der UNO zu beeinflussen. Das bedeutete zugleich eine Parallelisierung zum israelischen Sonderweg, sodass seitdem die beiden erwählten Staaten Hand in Hand der Zukunft – oder der Apokalypse – entgegengehen.
Allerdings gibt es da einen nicht unerheblichen Haken. Die christlichen Apokalyptiker sind überzeugt, dass sich die Juden vor der Rückkehr des Herrn alle zum christlichen Erlöser bekehren werden – damit dieser wieder zurückkehren kann.
Voraussichtlich werden sich die Juden nicht zum Christentum bekehren. Das kann nur bedeuten, dass Amerikaner und Israelis einem schrecklichen Ende entgegenirren.
Robert Kagan ist ein führender Neoconservativer und schreibt:
„Die Herausforderung für die postmoderne Welt besteht … darin, sich an den Gedanken der Doppelmoral zu gewöhnen. Untereinander mögen die Europäer auf der Basis von Gesetzen und offener, kooperativer Sicherheit agieren. Doch im Umgang mit der außereuropäischen Welt müssen wir auf die raueren Methoden einer früheren Epoche zurückgreifen – Gewalt, Präventivschlag. Täuschung und was sonst noch notwendig sein mag. Im Umgang miteinander halten wir uns an Recht und Gesetz, doch wenn wir im Dschungel agieren, müssen wir uns nach den Gesetzen des Dschungels richten.“ (Macht und Ohnmacht)
Was bedeutet das? Der pädagogische Weg zwischen USA und Europa ist vorbei.
„Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da die Europäer, befreit von den Ängsten und Zwängen des Kalten Kriegs, begonnen haben, es sich in ihrem postmodernen Paradies gemütlich zu machen und die Werbetrommel für ihre Doktrinen vom Völkerrecht und von den internationalen Institutionen zu rühren, schlagen die Amerikaner den entgegengesetzten Weg ein: Sie wenden sich ab von der Solidarität mit Europa und besinnen sich auf eine Unabhängigkeitspolitik, die ältere historische Wurzeln hat, auf jene einzigartige amerikanische Form des universalistischen Nationalismus.“
Vorsicht: Betonung auf Nationalismus, nicht auf universalistisch.
„Dean Acheson, einer der führenden Architekten der Weltordnung nach dem Krieg, hielt die UN-Charta für „unbrauchbar“ und die Vereinten Nationen selbst für ein Beispiel eines fehlgeleiteten Wilsonschen „Glaubens an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen und an den Anbruch eines Zeitalters des universellen Friedens und der Herrschaft des Gesetzes.“
Die gegenwärtige deutsche Abneigung jeder Moral ist nichts anderes als die Nachahmung der amerikanischen Abwendung vom weltübergreifenden Universalismus, der hierzulande „Idealismus“ genannt wird – oder gar Ideologie (Scholz).
Hier öffnen sich uralte Klüfte zwischen dem religiös dominanten Amerika und dem hellenisch dominierten Europa. Das Ziel des christlichen und jüdischen Glaubens ist die Apokalypse, das Ziel der heidnischen Aufklärung ist der Friede unter gleichberechtigten Völkern.
„Eine der größten Differenzen zwischen Europäern und Amerikanern ist heute eine philosophische, ja metaphysische Kontroverse darüber, wie genau die Menschheit auf dem Kontinuum zwischen den Gesetzen des Dschungels – und den Gesetzen der Vernunft steht. Anders als die Europäer glauben die Amerikaner nicht, dass wir kurz vor der Verwirklichung des kantischen Traums stehen.“
Stopp, das ist ungenau. Die Europäer denken nicht daran, an den ewigen Frieden Kants zu glauben. Sie glauben höchstens an das Wachstum des Fortschritts und ihres Wohlstands. Alles andere läuft bei ihnen unter ferner liefen.
Scholz und seine SPD – inklusive Merkel und Lutheraner – wissen nichts mehr von Kant, die Sozis wissen nur noch etwas von hartem Malochen und verbotenem Faulenzen.
Die Kluft zwischen Amerika und der EU wurde von Gorbatschow aufgedeckt:
„Eine Friedensinitiative von Gorbatschow weckte in Bush die Befürchtung, die Kontrolle über den Gang der Dinge könne ihm entgleiten. Er und sein Verteidigungsminister Dick Cheney hatten sich schon bald auf einen Konfrontationskurs festgelegt und zeigten keine Bereitschaft, die Kriegsmaschine anzuhalten. Die NYT stufte die deutsche Friedensliebe – als neurotisch ein. Pazifisten beschimpfte man im In-und Ausland als Weichlinge und Drückeberger.“
Dass ausgerechnet bundesrepublikanische Firmen den Irak hochgerüstet hatten, entfachte internationales Missfallen.
Hier begann die Bigotterie der Deutschen, die hinter der staatlichen Doppelmoral ihrer großen Freunde nicht allzu weit zurückstehen wollten.
Und hier stehen wir: einerseits auf der partikularen Seite USA-Israel, die nichts mehr halten von UNO und Universalismus – andererseits auf der universellen Seite der großen Völkergemeinde. Deutschland steht mitten inne zwischen der Verbindung USA-Israel – und der unheiligen Menge der nichtchristlichen Welt.
Virulent wird die Kluft zwischen Washington-Jerusalem auf der einen Seite und der UNO auf der anderen beim Haftbefehl des ISTGH gegen Netanjahu. Biden lehnt diese Maßnahme entschieden ab – obgleich er sonst die völkerrechtswidrigen Übergriffe Netanjahus verabscheut.
Die universalistischen Staaten hingegen, die die Verurteilung Netanjahus als Völkerrechtsverbrecher in die Welt posaunen, sind absolut bereit, den theokratischen Kurs Netanjahus mit einer Verhaftung zu ahnden.
Jetzt blutet die Wunde wieder zwischen dem bigotten Washington und dem ebenfalls bigotten, aber nicht bigott sein wollenden Europa.
Das Schlimme an diesem Konflikt ist nicht der Konflikt selbst, sondern die theologisch-ideellen Abgründe zwischen beiden angeblich befreundeten Nationen. Wie kann man sich einigen, wenn man keine Begriffe zur Verfügung hat, den Konflikt zu benennen?
Der Westen schwimmt in Sintfluten von Begriffen, die jedoch unfähig sind, die Realität zu benennen, wie sie ist.
Scholzens Unterscheidung von Pragmatismus und Ideologie ist Müll. Natürlich hat er es nicht nötig, die beiden Begriffe zu erklären, noch weiß er, worum es geht.
Vermutlich meint er Idealismus, wenn er von Ideologie spricht. Doch Ideologie ist was Abfälliges, Idealismus seit Platon das höchste Ziel auf Erden. Nach dem Schüler des Sokrates nur erreichbar mit totalitärer Gewalt. Indeed, wer will das schon?
Doch wer Ideologie ablehnt, ist noch lange nicht beim Pragmatismus angekommen. Pragmatismus war der amerikanische Kompromiss zwischen Vernunft und Glauben.
Das muss man ihnen lassen: die Amerikaner kämpften einen vorbildlichen Kampf zwischen Athen und Jerusalem, zwischen Deismus und Theismus. Für Deisten war Gott nichts anderes als der Naturgott Spinozas, für die Gläubigen war ein Deist ein Gottloser.
Das Ziel der amerikanisch-jüdischen Weltpolitik ist die biblische Apokalypse mit der Trennung der Menschheit in Auserwählte, am besten in auserwählte Genies – weshalb Musk der kongeniale Organisator sein muss – und der europäischen Ignoranz auf der anderen Seite, die in endloser Zukunft hin- und her schwanken muss.
Der scheinbar beendete amerikanische Konflikt zwischen Vernunft und Glauben ist wieder aufgebrochen: wo bleiben die Experten, um den Stall zu reinigen?
Die europäischen Konflikte zwischen Offenbarung und Vernunft scheinen für die Mächtigen nicht mehr zu existieren, weshalb es gleichgültig ist, ob ein Herr Scholz oder ein Herr Pistorius sich ans Ruder der Regierung drängt.
Die Deutschen kennen ohnehin keine Politik mehr. Was sie wählen, sind nur verschiedene Gesichter: die Demütigen oder Arroganten, die Sympathischen oder schwer Erträglichen, die Nüchternen oder die Provinzpossendarsteller.
Fortsetzung folgt.