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Die ERDE und wir. XXVII

Tagesmail vom 04.11.2024

Die ERDE und wir. XXVII,

Der 5.11.2024 anno domini wird – wie sagen die Deutschen? – in die Geschichte eingehen.

In die Geschichte eingehen, heißt: die Zeit ist nicht endlos-zirkulär, sondern begrenzt. Allen Dingen auf Erden setzt Gott eine Grenze, alle Grenzen münden in das ultimative Urende.

Danach beginnt etwas völlig Neues – oder alles ist auf ewig futsch.

Mit diesem Geschichtsende will sich die Moderne nicht abgeben. Silicon Valley, ihr wissenschaftlicher Tempel, schaut in eine unbegrenzte Zukunft.

„Ich sah das Land, und siehe, es war wüst und leer, sah zum Himmel, und er war finster. 24 Ich sah die Berge an, und siehe, sie bebten und alle Hügel wankten. 25 Ich sah, und siehe, da war kein Mensch, und alle Vögel unter dem Himmel waren weggeflogen. 26 Ich sah, und siehe, das Fruchtland war eine Wüste, und alle seine Städte waren zerstört vor dem HERRN und vor seinem grimmigen Zorn. 27 Denn so spricht der HERR: Das ganze Land soll wüst werden, aber ich will mit ihm doch nicht ganz ein Ende machen. 28 Darum wird das Land betrübt und der Himmel droben traurig sein; denn ich hab’s geredet, ich hab’s beschlossen, und es soll mich nicht gereuen, ich will auch nicht davon ablassen.“

Geschichte ist der Kampf eines Gottes gegen seine Feinde. Obgleich allmächtig, ist Gott auf Unterstützung angewiesen: auf seine liebsten Geschöpfe, das erwählte Volk.

Natürlich gibt es hitzigen Streit, ob es mehrere auserwählte Völker geben kann. Zurzeit sind Israel und USA die größten Favoriten, ihre heftigsten Feinde sind die muslimischen Völker.

Jerusalem ist für Juden und amerikanische Biblizisten ebenso der Mittelpunkt, wie Mekka das Zentrum der Muslime. Alle drei Erlöserreligionen sind Theokratien der gleichen Machart. Weil sie sich so ähnlich sind, hassen sie sich gegenseitig am meisten.

Als muslimische Gastarbeiter nach Deutschland kamen, entbrannte ein heftiger Konflikt zwischen ihrer religiösen Unfehlbarkeit und der Intoleranz ihrer eigenen Kirchen. Da Deutschland eine junge und ehrgeizige Demokratie war, wollte ihre Toleranz sich von niemandem übertreffen lassen.

Sie ignorierte die Intoleranz ihrer Gäste, um ihrer eigenen Intoleranz nicht ansichtig zu werden. Bis heute gab es deshalb endlose Konflikte zwischen der Intoleranz ihrer Gäste und der unterdrückten ihrer eigenen Kirchen.

Erst heute ist die Streitlage übersichtlich geworden. Die Intoleranz der Fremden ist im Kern identisch mit der ihrer eigenen lutherischen und katholischen Konfessionen.

Während Deutschland sich immer mehr mit dem humanen Universalismus identifizierte – nicht nur in der Theorie –, entwickelten sich die USA und Israel immer weiter zurück zum Status der erwählten Völker, die zwar Mitglieder der UNO, dennoch den Universalismus der Völker immer trotziger ablehnten.

Das ist der Status von heute: obzwar die USA und Israel äußerliche Anhänger der universellen UNO-Gesetze sind, lehnen sie diese in der politischen Praxis strikt ab und bestimmen selbst, nach welchen religiösen Prinzipien sie beurteilt werden wollen: nach den Satzungen der Heiligen Schrift. Damit fallen sie zurück in die Zeit der Kreuzzüge, in der Christen gegen Muslime und Juden kämpften.

Später erkämpften sich die Juden die Gleichberechtigung mit den Christen, doch die Beziehungen Europas zu den muslimischen Völkern blieben religiös intolerant.

Die Krisen der Zeit beruhen auf der Unklarheit der grundlegenden Rechte: Völkerrecht für alle oder nur für die „Heiden“ unter den Völkern?

Die solistischen Privilegien eines Volkes entstanden als Folgen ihres Monotheismus. Die Propheten des Alten Testaments warnten vor dem Polytheismus der anderen Völker und forderten, dass Jahwe allein angebetet werden dürfe.

„Eine solche Forderung war zur damaligen Zeit einmalig. Natürlich verlangten auch die Schutzgötter anderer Völker eifrige Verehrung. Aus der Jahwe-allein-Tradition entstand der Monotheismus, und von dieser Tradition stammen das Judentum und, vermittelt über das Judentum, das Christentum und der Islam ab.“ (Norman Cohn, Die Erwartung der Endzeit – Vom Ursprung der Apokalypse)

Die Gesetze der Hebräer galten als von Gott gegebene und unterstrichen die Auserwähltheit seines Volkes. Je strenger die Gesetze, je schuldiger das Volk. Doch Schuld war nicht nur Strafe, sondern auch Zeichen der Erwähltheit: Wen Gott liebt, den züchtigt er. Schuldig werden war eine Auszeichnung.

Schuldig werden war das Zeichen der Auserwähltheit eines Volkes. Wenn die Juden der Gegenwart heute klagen; immer seien sie stets die Schuldigen – vergessen sie, dass Schuld mit Auserwähltheit identisch ist.

„Gerade das Ausmaß der Katastrophen wurde als Beweis sowohl für Jahwes Gerechtigkeit als auch für seine Macht ausgegeben.“ (Cohn)

Wir haben demnach in der Entwicklung des Abendlandes zwei Formen von Schuld. Bei den Griechen war Schuld die Voraussetzung einer rechtmäßigen Strafe in einem Volksgericht, bei den Juden war Schuld das Zeichen ihrer Auserwählung.

Diese beiden Schuldbegriffe verwirren auch noch heute die politische Lage der Kriegsteilnehmer.

Als Zeichen der rationalen Aufklärung gilt: Schuld wird durch Strafe getilgt.

Als Zeichen eines privilegierten Volkes: „durch den Korpus religiös sanktionierter Gesetze entstand eine ausschließlich israelitische und jahwistische Lebensform: die Israeliten wurden ein abgesondertes Volk ganz eigener Art.“ (ebenda)

Hinzu kommt noch eine andere Eigenart. Die Bösewichter, die, im Auftrag Gottes, die Kinder Israel bestraften, wie die Assyrer oder Babylonier, waren zwar noch immer Bösewichter, dennoch auch Werkzeuge Gottes, mit denen sie bestraft wurden.

„Die Könige von Assyrien und Babylonien, die doch so überwältigend mächtig wirkten, waren nichts weiter als Werkzeuge, mit denen ihr Gott sie bestrafte. Das war etwas Neues. Ständig wiederholte göttliche Bestrafung, verhängt für ständig auftretende nationale Apostasie – eine solche Deutung der politischen Ereignisse und des Laufs der Geschichte hat in anderen Kulturen der Alten Welt nicht ihresgleichen. Gerade das Ausmaß der Katastrophen wurde als Beweis sowohl für Jahwes Gerechtigkeit als auch für seine Macht ausgegeben.“ (ebenda)

Im heutigen Streit um die Entstehung von Antisemitismus wird oft die Frage gestellt: wie konnte ein gebildetes Volk wie die Deutschen solch grausame Verbrechen wie Auschwitz begehen? Dabei wird Folgendes übersehen:

Nicht nur, dass die Deutschen ihre „Laster“ als besondere Tugenden betrachteten (siehe Himmlers Posener Reden), gerade die schlimmsten Verbrecher mussten als Werkzeuge Gottes betrachtet werden:

„Es gibt keinen Anlass, dem Henker die Schuld zu geben und noch weniger, sein Handeln durch politische, ideologische oder soziale Gründe zu erklären. Der Henker – sei es der Pharao, Amalek oder Hitler – ist nichts weiter als ein Werkzeug zur Vollstreckung der göttlichen Strafe; ein grausames Mittel, das dem Zweck dient, die Juden dazu zu bringen, Buße zu tun. Dementsprechend sind die Katastrophen, die das jüdische Volk heimsuchen, auch nur durch die göttliche Vorsehung erklärbar. In diesem Sinn äußerte sich Rabbi Wassermann, wenige Jahre, bevor er selbst von den Nazis ermordet wurde. Sein Aufsatz Die Epoche des Messias ist bis zum heutigen Tag eine der wichtigsten Quellen der jüdischen Kritik am Zionismus. Nach Meinung seines Zeitgenossen Simon Schwab waren die Gesetze, die die Rechte der Juden im dritten Reich einschränkten, eine Strafe für ihre Abwendung von der Thora.“ (Yakov Rabkin, Im Namen der Thora, Die jüdische Opposition gegen den Zionismus)

Hier darf auch Uri Avnery nicht fehlen:

„Israels Handlungsweise ruft Ablehnung und Widerstand überall in der Welt hervor. Das stärkt den Antisemitismus. Angesichtes dieser Gefahr fühlen sich alle jüdischen Organisationen gedrängt, Israel zu verteidigen und bedingungslos zu unterstützen. Würde man mich um Rat fragen, ich würde allen jüdischen Gemeinden in der Welt sagen: Befreit euch aus diesem Teufelskreis. Entwaffnet die Antisemiten. Kehrt zurück zu den traditionellen Werten: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du suchen (5. Mose 16, 20).“ Immer mehr jüdische Organisationen auf der Welt gehen diesen Weg. Sie zerstören noch einen weiteren Mythos: die Pflicht der Juden überall in der Welt, sich den Beschlüssen unserer Regierung zu unterwerfen.“ (ebenda, 2004)

Heute ist die Situation auf den Kopf gestellt: die Ultras haben die Macht über Israel gewonnen, sehen nur Feinde in der Welt und fühlen sich von den „heidnischen“ Völkern ungerecht angeklagt. Schuldig ist die ganze Welt, die Israel an den Pranger stellt, weshalb die Ultraregierung die UNO besonders heftig attackiert.

Deutsche Antisemitismus-Bekämpfer wissen nichts Besseres, als mit Polizeimethoden immer brutaler zuzuschlagen. Die Geschichte Israels zu erforschen, dafür haben deutsche „Besserwisser“ weder Zeit noch Muße. Sie empfehlen sich Netanjahu als besonders verbissene Antisemitismus-Jäger, die von seinen Völkerrechtsverbrechen ablenken sollen.

Moshe Hirsch schrieb 1974:

„Jahrhunderte lang lebten wir in Frieden mit den Arabern und wären da nicht die zionistischen Agitatoren, wir hätten keinen Grund, anzunehmen, dass es Probleme mit ihnen geben könnte. Ich habe zwei Jahrzehnte lang mit Arabern zusammengelebt und ich versichere Ihnen, dass sie nichts anders sind als andere Völker, mit denen die Juden überall auf der Welt friedlich zusammenleben.“ (ebenda)

Inzwischen ist es den Ultras in Zusammenarbeit mit Netanjahu gelungen, die demokratisch-humane Anfangsstruktur des jungen Staates in religiöses Gift zu verwandeln. Weshalb sich der ehemalige Vorsitzende der Jewish Agency, Avrum Burg, an seine Zeitgenossen wandte und jedem empfahl – der die Möglichkeit habe – einen fremden Pass zu erhalten und das Land hinter sich zu lassen.

Auch Arafat, ein Freund Avnerys, betonte: „Es ist lebenswichtig, zu betonen, dass es keinen Konflikt zwischen Juden und Arabern gibt.“

Was hingegen heute geschieht, ist eine perverse Umdrehung aller Katastrophen. Moshe Sober schreibt 1990:

„Wir müssen aufhören, Israel als romantischen Traum wahrzunehmen und anfangen, es als einen heterogenen Staat zu sehen, in dem zwei starke und stolze ethnische Gruppen leben, die zahlenmäßig ungefähr gleich sind und die beide um die Kontrolle kämpfen.“

Rabkin zieht Bilanz:

„Juden, die ihre Treue zur Tradition bewahren, entdecken, dass sie immer weniger gemein haben mit Juden, deren Jüdische Identität sich auf Israel und den Zionismus konzentriert. Es scheint, das der Abgrund zwischen den Anhängern der jüdischen Tradition und den Befürwortern einer jüdischen Nationalität … immer tiefer wird.“

Der große Gelehrte und scharfe Kritiker Israels, Yeshayahu Leibowitz, schließt den Kreis:

„Die Existenz dieses Staates hat keine Bedeutung für die Existenz des jüdischen Volkes … die Juden in der Welt können sehr gut ohne Israel leben.“ (ebenda)

Die Verschmelzung von Zionismus und Judentum ist verhängnisvoll geworden. „Sie ist eine überaus wirkungsvolle politische Waffe, um die Kritik an Israel zu ersticken und den Zionismus, eine Art europäischen exklusiven ethnischen Nationalismus, zu legitimieren.“ (ebenda)

Der 5.11.2024 wird in die Geschichte eingehen. Entweder weil Harris gewinnen und Amerika zu einer vorbildlichen Demokratie reformieren wird – oder weil Trump triumphieren wird, der sein Land in eine apokalyptische Hölle verwüsten wird.

Die deutschen Antisemitismus-Jäger hingegen wollen keinen Antisemitismus bekämpfen, sondern jegliche Kritik an Netanjahus Hasspolitik für immer ausrotten.

Fortsetzung folgt.