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Die ERDE und wir. XXIV

Tagesmail vom 25.10.2024

Die ERDE und wir. XXIV,

„Unser Zeit ist nun vollendet,
der Tod das Leben endet,
Sterben ist unser Gewinn;
kein Bleiben ist auf Erden;
das Ewge muss uns werden,
mit Fried und Freud fahrn wir dahin.
Drauf wolln wir fröhlich sterben,
das Himmelreich erwerben,
wie er es uns hat bereit’;
hier mag ich nicht mehr bleiben,
der Tod tut uns vertreiben,
unser Seele sich vom Leibe scheidt.“

(Lied: Nürnberg 1555, modern gefälscht)

Gefälscht wurde der Singular in den Plural. Die Heilsgeschichte entscheidet nicht über mich allein, sondern über alle sterblichen Wesen.

Hat noch jemand eine Weltkatastrophe im Koffer, die heute fällig wäre?

Beginnen wir mit der Doppelkrise Natur – Klima.

„Auf einer Uno-Konferenz in Kolumbien ringt die Weltgemeinschaft um den Naturschutz. Desinteresse ist gefährlich. Das Artensterben ist bedrohlicher als der Klimawandel. Die Zwillingskrise aus Klimawandel und Artensterben jetzt in Cali anzugehen, hätte deshalb auch symbolischen Wert: Die Natur sollte an erster Stelle stehen.“ (SPIEGEL.de)

Ersticken wir in den Abgasen der Menschheit oder enden wir mit der untergehenden Natur? Oder beides?

Auf jeden Fall geht die Rechtsordnung der Menschheit unter.

„Der UN-Generalsekretär hat sich von Putin einladen lassen und mit ihm friedlich vor Kameras posiert. Damit hat er den Westen verraten. Standardpraxis, das Völkerrecht ad absurdum zu führen? Standardpraxis, den völkerrechtswidrigen Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, mit seinem Besuch am runden Tisch der Brics-Gruppe in Russland zu normalisieren? Damit hat Guterres die UN diskreditiert. Er findet offenbar nichts dabei. Und er findet nichts dabei, wenn Staaten wie Iran, China und Russland auf offener Bühne vom „diktatorischen Westen“ faseln, wenn sie verlogen von einem „demokratischen wie transparenten System“ sprechen, das „Menschenrechte fördert“, und welches sie innerhalb der Brics-Gruppe aufgebaut hätten. Kein Staatenlenker, der am Tisch in Kasan Platz nimmt, der fröhlich mit dem Fuß wippend den Klängen von „Kalinka“ im Kasaner Kreml zuhört, verurteilt Putin für das, was der Diktator der Ukraine und auch seinem eigenen Land antut. Auch Guterres tut das nicht, mag er auch auf die UN-Charta samt territorialer Integrität aller Länder hinweisen. So spielt er das Propagandaspiel Putins mit und lässt sich von staatstreuen russischen Medien vorführen. Guterres liefert autoritären Staaten, die sich in der Putin-Show sonnen, die Bestätigung für all das, was diese Staaten ohnehin genüsslich von sich geben: Der Westen sei am Ende. In Kasan wird dem Westen demonstrativ die Tür gewiesen. Und der einzige anwesende Vertreter des Westens lässt sich das gefallen.“ (TAZ.de)

Gibt es eine neue Weltordnung, die zugleich eine neue Rechts- oder Moralordnung wäre?

„Jetzt aber steht Putin wieder in der ersten Reihe. »Der Übergang zu einer gerechteren Weltordnung verläuft nicht einfach«, sagt er in Kasan während der großen Gipfelrunde am Donnerstag. Die Brics-Mitglieder seien entschlossen, »sich der Praxis unrechtmäßiger Sanktionen und den Versuchen, traditionelle moralische Werte zu untergraben, zu widersetzen«. Die Brics, das ist Putins Gegenbewegung gegen den Westen. »Die Weltmehrheit«, wie er sie gerne nennt.“ (SPIEGEL.de)

Ist Guterres, Hüter der alten UNO-Ordnung, Putin – dem Möchtegernhüter einer neuen Ordnung – unter den Rock geschlüpft? Hat er die universelle Humanität verraten?

Putin spricht vom Übergang zu einer gerechteren Weltordnung. „Die Brics-Mitglieder seien entschlossen „sich der Praxis unrechtmäßiger Sanktionen und den Versuchen, traditionelle moralische Werte zu untergraben, zu widersetzen.“

Wie kann er eine neue Weltordnung ausrufen, wenn er „traditionelle moralische Werte“ gegen den Westen verrät, der sie verteidigt?

Bekanntlich ist der Westen bigott. Offiziell hat er sich den höchsten humanen Werten der UNO verpflichtet – in einem Tagesgeschehen aber wüten meinungs- und morallose Intelligenzler und Antimoralisten. Wer von den beiden Mächten hat wirklich das Sagen: Döpfner & BILD, zusammen mit Musk und Thiel – oder Guterres und die letzten Humanisten der Weltgeschichte?

Ulrike Herrmann widersetzt sich teilweise ihrer harschen Kollegin:

„Dieses Bild vom Weltenlenker Putin ist nur billige Propaganda. Faktisch bestimmt Putin gar nichts – stattdessen dominiert China, das Russland als seinen Juniorpartner betrachtet. Diesen Machtverlust hat sich Putin selbst zuzuschreiben: Zudem sind die Brics-Staaten keineswegs geeint. Die meisten betreiben eine Art Schaukelpolitik zwischen dem Westen und Russland. Das gilt für Indien oder Brasilien, aber auch für die mögliche Beitrittskandidatin Türkei – die bekanntlich Nato-Mitglied ist. Zwischen einzelnen Staaten deuten sich sogar militärische Konflikte an. Und so ist die eigentliche Nachricht, dass sich China und Indien jetzt über ihre Grenze im Himalaja verständigt haben. Das klingt friedlich, ist aber eine schlechte Nachricht für Taiwan oder Malaysia. Denn wenn Xi Jinping einen Konflikt bereinigt, kann es nur heißen: Er will Kapazitäten freischaufeln, um neue Kriege anzuzetteln.“ (TAZ.de)

Die Brics-Staaten seien gar nicht geeinigt – offenbar auch nicht in Politik und Moral. Dass Putin der neue Weltenherrscher sei, davon könne keine Rede sein.

Wieviele Moralen gibt es auf der Welt? Sind sie vereinbar oder sind sie diametrale Gegensätze?

Wenn die Welt zerfällt, zerfällt dann auch das Parlament der EU?

„Zahlreiche Abgeordnete zeigten sich empört. „Seit heute ist das Europäische Parlament ein anderes“, sagte Terry Reintke, Co-Chefin der Grünen, „Manfred Webers EVP arbeitet jetzt völlig offen und ungeniert mit der AfD und ihren rechtsextremen Freunden zusammen.“ Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner sagte der Süddeutschen Zeitung: „Die EVP hat jegliche Scham verloren.“ (Sueddeutsche.de)

Natur kaputt, Klima kaputt, universelle Moral kaputt, Demokratie kaputt, UNO kaputt, Ökonomie kaputt, Europa kaputt.

Ist Putin der humanistische Retter der Ukraine vor der Amoral des Westens? Ist er der Retter der Welt vor der Verseuchung ihrer traditionellen Moral? Will er eine neue Weltmoral kreieren mit Hilfe der überkommenen alten Moral?

Hat Guterres tatsächlich einen Kniefall getan vor der neuen Putinmoral und die universelle UNO-Moral verraten und verkauft – oder hat er nur, beim Besuch der Brics-Staaten, einen psychologisch vorsichtigen Annäherungsversuch unternommen?

Wo steht Deutschland? Einerseits klar auf Seiten der UNO und einer humanistischen Weltmoral, andererseits auf Seiten Netanjahus, der Putins Abneigung gegen UNO und Guterres teilt, im aktuellen Fall aber sich keiner Partei anschliesst und eine theokratische Sonderrolle spielt. Was interessieren ihn die Scharmützel der Welt, wenn diese demnächst ohnehin auf sein neues Jerusalem-Kommando hören werden?

Deutschland scheint tief gespalten: einerseits aufgeklärt und kantisch, andererseits – durch seine ungeheuren Verbrechen – zurückgefallen in eine religiöse Sondermoral, die Netanjahu als Strafe für den Holocaust von ihm fordert?

Dann wäre Deutschland tief im Widerspruch mit sich selbst! Wie aber kann man leben, wenn man sich ständig widerspricht?

Man kann dann leben, wenn man auf einen deutschen Philosophen hört, der den Widerspruch zum Motor der göttlichen Geschichte erklärt hat: Hegel.

Der junge Hegel ertrug es nicht, in seinen frühen Studien mit zwei Kulturquellen des christlichen Europa konfrontiert zu sein: mit der rationalen Antike – und der irrationalen Offenbarung des Christentums.

Beispiel: der Christ soll seinen Nächsten lieben und ihn nicht töten. Was hingegen predigte der römische Kirchenvater Augustin? Aus Liebe darf der Christ seinen Feind töten. Was denn nun? Sind töten und lieben vereinbar oder nicht?

Also zauberte Hegel aus einem widrigen Problem eine generelle Problemlösung. Nur mit Hilfe ständiger dialektischer Widersprüche ist der Allmächtige fähig, seine Heilsgeschichte so ans Ende zu führen, wie er es geplant hatte. Widersprüche waren keine Lösungshindernisse mehr, sondern Geburtshelfer finaler Lösungen.

Schon in Athen gab es zwei Moralen, die sich grundsätzlich widersprachen. Nestle spricht vom Naturrecht der Starken – den heutigen Oligarchen, KI-Musks und Milliardären – und dem Naturrecht der Schwachen, den Armen, Ungebildeten und Energielosen.

Die athenische Polis stritt um den Vorrang der richtigen Moral und entschied sich für jeweilige Volksentscheidungen nach strengen Debatten in der Volksversammlung. Jeder Mensch hat eine gleichberechtigte Stimme, die er auf der Agora einbringen kann.

Doch dann erschien das Christentum und widersprach: die rationale Moral der Heiden ersetzte es durch Gottes Moral, die die Bibelleser in der Schrift fanden. Vieles übernahmen sie, aber veränderten es je nach Lage ihrer Erleuchtung. Doch der selbstbestimmten Grundlage widersprachen sie: Moral ist keine Erfindung des rationalen Vernunftwesens, sondern eine gnädige Gabe von Oben.

Das Naturrecht der Starken entspricht dem heutigen Kandidaten Trump, für den alles richtig ist, was seinem unkontrollierten Willen entspricht. Ein Starker ist „nicht an eine bestimmte Schicht gebunden, er kann ein geborener Fürst oder Königssohn, aber ebenso gut ein Sklave sein, wenn er nur „von Natur fähig“ ist, sich zum Herrscher aufzuschwingen.“

Das Naturrecht der Schwachen ist das vom Volk festgelegte Recht, das gleicherweise für alle gilt. Wer gegen dieses Recht verstößt, wird rechtmäßig bestraft.

Moderne Demokratien berufen sich auf den gleichberechtigten Humanismus der Athener, doch jetzt kommt das Problem: was sollte aus dem Christentum werden, das sie nicht verwerfen wollten, das aber keineswegs aus gleichberechtigter Vernunft bestand, sondern aus diametralen Weisungen ihres Herrn?

Die Klüfte zwischen dem Naturrecht der Starken, dem Naturrecht der Schwachen und der christlichen Offenbarung sind das Grundrauschen der demokratischen Moderne bis heute.

Als Gläubige konnte man eine strenge Moral predigen, doch wer sie nicht befolgte, musste nur glauben, um aus Gnaden selig zu werden.

Das war Bigotterie als Grundlage einer irrationalen Gnadenmoral. Nicht der Mensch war fähig, eine rationale Moral zu entwickeln, sondern allein der Selbstbewusste.

Amerika ist besonders geprägt vom Wirrwarr athenischer und christlicher Widersprüche. Einerseits die prächtigste und verlässlichste Demokratie der Welt, die den Sünder Deutschland vorbildlich zur Demokratie erzog, andererseits noch immer eine urchristliche Offenbarungsgemeinschaft, die der Ratio der Heiden scharf widerspricht.

Amerika hat verschiedene Epochen durchgemacht, in denen sie einmal vorbildlich demokratisch, ein andermal aufsässig gegen die weltliche Vernunft dem Buchstaben der Schrift folgte.

Bidens ständiges Schwanken gegen Netanjahus Theozentrismus ist das beste Beispiel für Amerikas untergründiges Beben zwischen Vernunft und Offenbarung.

Morris Berman beschreibt die Situation in seinem Buch: „Finstere Zeiten für Amerika“: „Das manichäische Weltbild beherrscht die gesamte amerikanische Nation. Wie eine Umfrage ergab, glauben 59 % der Amerikaner, dass sich die apokalyptische Prophezeiung aus der Offenbarung des Johannes erfüllen wird.“

Die Endzeit, der wir uns rasend nähern, ist ein Apokalypse-Thriller à la Offenbarung des Johannes. Am Ende werden die Guten und Gläubigen gewinnen, die Ungläubigen kommen ins höllische Feuer.

Dementsprechend sucht die heutige Amerikapolitik alle ungläubigen Nationen, um sie mit „Liebe zu drangsalieren oder gar zu eliminieren“. Das ist der Sinn der Rede von einer Achse der Bösen und einer der Guten. Die Guten sind die streng Gläubigen, die fest an der Hand der Amerikaner die Welt erobern. Die nationalen Achsen der Bösen haben keinerlei Chancen, müssen unterworfen oder vernichtet werden.

Berman: „In Anbetracht der Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Demokratie sollte uns die antidemokratische Grundhaltung der Regierung Dabbelju Bush nicht wundern, besonders nach den Terrorangriffen am 11. September in NY.“

„Nicht nur die Menschenrechte einiger Häftlinge wurden seitdem systematisch verletzt, sondern das gesamte Fundament der amerikanischen Demokratie unterhöhlt. Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, Verweigerung eines Rechtsbeistands, jahrelange Verhöre in Isolationshaft – dies ist gängige Praxis in den USA.“

Amerika hat sein Gesicht gewendet und zeigt der Welt seine theokratische, antidemokratisch-abscheuliche Seite.

Diese Doppelmoral, die auch für den gesamten Westen gilt, ertragen die nichtchristlichen Völker nicht mehr und beginnen, sich als Brics-Staaten zusammenzuschließen.

Möglich, dass Putin aus tief russischer Seele der Verlogenheit des Westens nicht mehr zuschauen konnte und der Ukraine den Krieg erklärte. Doch er erkennt nicht, dass er dem Verfall der westlichen Moral mit demselben Verfall der russischen Moral begegnen will.

Putin und das biblizistische Amerika – in Trump verkörpert – sind wesensverwandt. Man darf sich nicht wundern, wenn diese beiden Gottes- oder Teufelsdarsteller hinter den Kulissen dasselbe Spiel verabreden:

Die Welt gehört den Starken, die Starken sind wir.

Die deutsche Nation, innerlich erblindet, ist unfähig, einen einzigen widerspruchsfreien Satz zu formulieren. Sie schwimmt in der Ampeldialektik, der Lieblingsdialektik einer Merkel und eines Scholz und ihrer fortschrittlichen Wohlstandsgemeinde.

„Der Widerspruch ist das Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstandes. Es ist eine zu große Zärtlichkeit für die Welt, von ihr den Widerspruch zu entfernen. In der Tat ist es der Geist, der so stark ist, den Widerspruch ertragen zu können.“ (Hegel)

Fortsetzung folgt.