Tagesmail vom 24.01.2025
Die ERDE und wir. XLVI,
„Der Philosoph, der in der Öffentlichkeit eingreifen will, ist kein Philosoph mehr, sondern Politiker; er will nicht mehr nur Wahrheit, sondern Macht.“ (Hannah Arendt)
Ein Philosoph, der keine Macht will, um die Menschen mit seiner Wahrheit dialogisch aufzuklären, ist kein Philosoph.
Die Macht eines Philosophen ist die gewaltlose Macht seines Wortes, die allein durch Argumente überzeugen kann.
Überzeugen ist kein Akt der Macht. Sonst müssten wir alle Schulen und Universitäten schließen.
Sokrates widerspricht Hannah Arendt:
„»Die Philosophie sagt immer dasselbe, nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln, und nur ein wirkliches Glück, gut oder gerecht zu handeln.« Diese Überzeugung ist nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch eine Kraft: der gute Mensch ist stärker als der böse, und dieser kann daher jenem keinen wirklichen Schaden zufügen, wobei freilich vorausgesetzt wird, dass jene unerschütterliche seelische Haltung ein höherer Wert sei als alle äußeren Güter einschließlich des Lebens.“ (Nestle, Vom Mythos zum Logos)
Wer Wahrheit sucht, will die Voraussetzungen eines guten Lebens erforschen. Für sich und seine Mitmenschen. Das wäre Wahrheitssuche als Politik. Wer Wahrheit sucht ohne Politik, bleibt ein autistischer Eremit.
Politiker ohne Wahrheitssuche und Wahrheitssucher ohne Politik sind die beiden Zerstörer der humanen Menschheit.
Sokratische Ethik ist das Ergebnis seiner Wahrheitssuche. „Diese Ethik ruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und Autarkie. Hier handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen. Wer sie durchführt, der ist der wirklich starke, freie und tapfere Mensch, der nichts, auch den Tod nicht fürchtet, fest und sicher im Sturm des Lebens steht.“ (ebenda)
In der Moderne gilt Sokrates nichts mehr. Goethe wollte ein Stück über ihn schreiben – vergeblich.
Die Moderne will Macht über Natur und Mensch, keine Wahrheit, die dieses Ziel unmöglich macht.
„Roland Barthes wendet sich im Rahmen seiner Kritik … auch gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, »den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen.«“
Wer sich widerspricht, ist ein Schand-fleck, sagt Barthes. Sokrates scheint mit seiner Mäeutik nichts anderes zu wollen als die Menschen in die Schande zu treiben.
Nur schand-freie Machtmenschen sind angeblich in der Lage, der Welt eine fortschrittliche Zukunft zu bescheren. Diese Zukunft ist jene Macht, die Gewalt über Mensch und Natur anstrebt.
Die Geschichte der Moderne ist nicht nur macht- und gewaltgierig, sondern auch sokrates-feindlich.
Zwar geht Sokrates nicht ausdrücklich in die Riege der Politiker, aber er betreibt mäeutische Politik auf dem Marktplatz, dem Treffpunkt der gewöhnlichen Menschen. Auf der Agora verbindet er Wahrheits-Suche und Wahrheits-Macht.
Die Geschichte des Abendlands besteht aus zwei Teilen: der eine Teil sucht nach der unbekannten Wahrheit, um ein gutes Leben zu führen; der andere Teil verinnerlicht die Wahrheit als Besitz der Offenbarung und ist vom Gesamtsieg der göttlichen Wahrheit überzeugt.
Die Geschichte des Abendlandes ist ergo der unerbittliche Kampf zwischen zwei Wahrheiten: der menschlich-suchenden und der göttlich-bestimmenden.
Trump sollte seine politische Macht durch Handauflegen auf die amerikanische Bibel erhalten. MAGA war nicht die Erfindung der Moderne, sondern die christliche Weissagung für die Weltmacht des neuen Kontinents.
In der damaligen Literatur erschien Amerika als Paradies, als neugefundenes Eden. „So zahlreich tummelten sich die Fische in den virginischen Gewässern, schrieb John Smith, dass man versucht sei, sie mit der Bratpfanne zu fangen.“
Die amerikanische Geschichte ist ein Auf und Ab zwischen der autonomen Wahrheit griechisch-englischer Demokraten – und der fremdgeleiteten Wahrheit der Frommen.
Wenn universale Humanität die Losung der Amerikaner war, wie in der Nachkriegszeit, bedeutete das die Siegeszeit der selbstbestimmten Vernunft.
Als aber die Überlegenheit über den Rest der Welt verfiel, meldete sich wieder die Sehnsucht nach Gottes Unterstützung. Seitdem treibt Amerika nach rechts. Rechts, dieses Nichtswort, bedeutet die Wiederherstellung der theokratischen Führungsmacht über die Welt.
Man sagt „rechts“, um die religiösen Aspekte der Moderne auszuradieren. Zwar will man christlich bleiben, aber nur als emotionaler Wärme- und Bestätigungspunkt eines auserwählten Volkes. MAGA ist der Inbegriff dieses Volkes – von Anfang an.
„Ein neues Kanaan,
Ein Kanaan hienieden soll das alte überbieten
Von einem schönern Berg Hermon wird mans sehen.“
„Cotton Mather entnahm der Literatur seiner Zeit, dass die amerikanische Hemisphäre am Jüngsten Tag der Verbrennung der Erde entgehen würde – danach bräche ein 1000-jähriges Reich an. Nur in Amerika würde man es in heiliger Ruhe wirklich genießen.“ (in Gerd Raeithel. Geschichte der Nordamerikanischen Kultur, Bd 1)
Möglicherweise ist die politische Gleichgültigkeit der Amerikaner gegen das schreckliche Feuer in Los Angeles – auch der Abschied vom Pariser Klimaabkommen – die Langzeitwirkung dieser biblischen Erwählung, die sich in Gottes Hand sicher fühlt, besonders am Ende der Welt.
Amerikas Polarität zwischen jenseitigem Himmel und irdischer Vernunft ist das unbewusste Vorbild für die ganze Welt, völlig unabhängig von offiziellen Religionen.
Trumps lärmende Politik ist die Selbstentlarvung einer Geschichte, die auf irdische Vernunft und sokratische Wahrheit mit Abscheu verzichtet.
Die Superreichen aus der Sekte der Trumpisten lachen über Wahrheit, sie kennen nur eins: den Turmbau zu Babel mit Geld und Börsenwetten. Erfolg ersetzt hier die Wahrheit.
„Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“
Eine unerbittliche Strafe für eine ungehorsame Menschheit, die seitdem die gesamte Geschichte des Westens prägt: die vielen Nationen verstehen sich nicht mehr, ihre Sprachen sind ihnen fremd geworden.
Seitdem sind sie auf der Suche nach Maschinenwesen, die ihre Fremdsprachen übersetzen. KI ist der Ersatz für die Wahrheitssuche in einer verständlichen Gemeinschaftssprache.
Wahrheit gibt es nicht mehr. Die Erbauer des modernen Babel werfen sie in den Mülleimer und bauen ihren Turm im Sprachengewirr bis zum Mars. Nur Zahlen können sie übersetzen, denn die sind ohnehin festgelegt. Naturwissenschaften können sie übersetzen, denn die kennen nur Quantitäten.
Was das bedeutet, sieht man vor allen an den Medien. Döpfner, Vertrauensmann der Trump- und Musk-Sektierer, fühlt sich vom Schicksal der Babelbauer voll bestätigt:
„Journalisten, die die Werte des Hauses verkörperten, »tolerieren und debattieren die Meinungen Andersdenkender. Sie (be)schreiben, was ist, nicht was sein soll.« Weiter führte der Springer-Chef aus: »Wir stehen für Marktwirtschaft und Wettbewerb, für Eigentum und Leistung. Wir stehen für die Sicherheitsarchitektur der Nato und das transatlantische Bündnis (egal wer gerade Präsident ist und übrigens ganz besonders dann, wenn jenseits des Atlantiks das Interesse an den europäischen Partnern geringer wird).« Das Existenzrecht Israels und das Recht zur Selbstverteidigung seien ebenso unverhandelbar wie die Überzeugung, dass jede Form von rechtem, linkem oder islamistischem Antisemitismus bekämpft gehöre.“ (SPIEGEL.de)
Echte Schreiber kümmern sich nur um die Beschreibung des „Ist“, denn sie wollen neutral und objektiv bleiben. Döpfner scheint nicht zu wissen, dass Neutralität und Objektivität nur alte Streit-Begriffe für Wahrheit sind. Wer das „Ist“ erfasst, erfasst zugleich die Wahrheit des „Ist“.
Doch im nächsten Satz schon kommt eine ganze Liste von Themen und politischen Elementen, bei denen die Ist-Beschreiber nicht neutral bleiben können: „Marktwirtschaft, Wettbewerb etc.“ – Wer Wahrheit verwirft, ist unfähig, die Ist-Fakten getreu zu beschreiben.
Wer etwa ein Krankenhaus beschreiben will, und sich nur auf die Möblierung der Krankenzimmer und das metallene Glitzern der chirurgischen Instrumente beschränkt, hat das Wesen der Krankenbehandlung nicht verstanden. Denn das kranke „Ist“ soll ja in ein gesundes „Soll“ verwandelt werden.
In der Politik nicht anders. Wenn kranke Menschen Politik treiben, kann ihre Politik nur krank sein. Versuchen sie, dieser Verpestung zu entkommen, müssen sie beschreiben, was sie sollen, um zu einem gesunden Leben zu gelangen.
Trumps neues Weltregiment soll wieder ein explizit christliches sein. Was aber nicht bedeutet, dass Barmherzigkeitsprediger die Übermacht gewinnen dürfen.
Hier sehen wir das Kompromissgewirr des Zwists zwischen Himmel und Erde: die Offenbarungen kommen von Oben, aber die Deutungen der Offenbarungen entstammen der Marktkompetenz der Neoliberalen.
Oben wird das reine Elixier der himmlischen Wahrheit hineingeschüttet, unten zapft man das unerträgliche Gemisch aus Himmlischem und Irdischem.
Wie Satan, der gehorsame Knecht Gottes, dennoch macht, was er will, so auch Trump: über den Inhalt der Schrift bestimmt er selbst.
Wenn es bei den Medien darum geht, Fakten zu überprüfen – also, das was „ist“ – machen sie sich nicht auf die Suche nach der Wahrheit, sondern betreiben einen Fakten-Check.
Vorsicht, festhalten. Fakten ohne Vergangenheit und Zukunft gibt es nicht, checken heißt kontrollieren, überprüfen. Wie kann man überprüfen, wenn man nicht weiß, welche Wahrheitsmaßstäbe überhaupt gelten. Der Kern der Wahrheit muss bekannt sein, wenn man dessen Normen als „Lineal oder Waage etc.“ nutzen will.
Eine wahrheitslose Wahrheitsüberprüfung ist Schwachsinn. Wer das „Ist“ der Tagespolitik prüfen will, kann sich keineswegs auf ein totes Faktum beziehen. Jedes „Ist“ geht schwanger mit einem „Wird“, und war das Ergebnis eines „Wurde“. Wer sich hier auf eine tote Gegenwart bezieht, gleichzeitig aber die Zukunft eines Erfolgs prophezeit, ist ein Hayekianer.
Die Selbstbeschreibung der Medien als Beschreiber toter Fakten ist etwas ganz anderes: sie ist die Immunisierung eines Berufs, der keine Verantwortung für die „Behandlung“ der kranken Gegenwart übernehmen will, selbst wenn es um den möglichen Untergang der Menschheit geht.
„Hat mit uns nichts zu tun, ist allein euer Kram!“ Dabei geht es oft genug um Schelte der Klimaaktivisten, die angeblich gar nicht wissen, wie man die Welt retten kann. Die Medien wissen alles besser. Greift man sie aber an, ziehen sie ihre Fühler sofort zurück: hat nichts mit uns zu tun.
Viele Schreiber folgen dem rüden Motto: schreiben, was ist, immer weniger. Das lässt hoffen. Doch sie scheinen unfähig, ihr absurdes Motto offiziell in die Luft zu sprengen.
Warum kommen die Ergebnisse der Klimaforschung nicht an? Weil die meisten von der Wahrheitskompetenz der Naturwissenschaft nichts halten. Warum können die Mediziner ihre Erkenntnisse zwischen Geistes- und Naturwissenschaften nicht erklären?
Trump hält nichts von der Klimaforschung. Das Klima ist just so, wie er es haben will. Punkt.
Sokratische Wahrheit ist jene, die man sich erwerben muss. Durch eigene Erfahrungen, endlose Gespräche und scharfes Nachdenken. Das nennt man Lernen. Aber in unseren Schulen wird nicht gelehrt, wie man lernt, sondern wie man gedankenlos speichert.
Wie in Athen müssen wir wieder Denker werden, demokratisch miteinander streiten und mit unseren Gedanken die Macht der Realität ergreifen. Dann pfeifen die Trumps, Musks und Döpfners wieder auf dem letzten Loch.
Fortsetzung folgt.