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Die ERDE und wir. XLIX

Tagesmail vom 03.02.2025

Die ERDE und wir. XLIX,

„Als ich 1949 nach 16-jähriger Emigration nach Deutschland zurückkehrte, war ich aufs freudigste überrascht über die Gelöstheit, fast konnte man sagen Fröhlichkeit, mit der sich das deutsche Volk an die Arbeit machte, verbunden mit einer gegenseitigen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die weit über die Atmosphäre der Weimarer Zeit hinausging. Andererseits hätte man auf eine solche Katastrophe auch mit dumpfer und lähmender Verzweiflung reagieren können, und es gibt Völker, die vielleicht so reagiert hätten. Uns Deutschen liegt das Gott sei Dank gar nicht, sondern wir haben im Gegenteil mit einem Maximum an Aktivität darauf reagiert, mit dem sehr begreiflichen und nur natürlichen Impuls, uns so schnell wie möglich aus dieser scheußlichen Misere herauszuarbeiten.“ (Alexander von Rüstow, Die Kehrseite des Wirtschaftswunders)

Das schrieb Alexander von Rüstow nach seiner Rückkehr aus dem türkischen Asyl. Wie kam er zu diesem, auf den ersten Blick abwegig klingenden Eindruck seiner schrecklichen Landsleute?

Tüchtigkeit und präzisen Arbeitseifer kann man nicht nur in schreckenerregendem Hass einsetzen, sondern auch im Gegenteil. Rüstow sah sehr wohl, dass die Deutschen „zwölf Jahre lang eine derartige Fülle von scheußlichen Verbrechen, von Massenmorden, von Menschenschindereien, von völkerrechtlichen Vertragsbrüchen auf sich geladen (hatten), dass man das dringende Bedürfnis hatte, sich wieder ehrlich zu arbeiten, der Welt zu zeigen, dass man die Tüchtigkeit, die man während dieser 12 Jahre auf militärischem, organisatorischem und sonstigen Gebieten im Dienst eines verbrecherischen Regimes gezeigt hatte, auch in positiver Richtung beweisen könnte. Und dieser Stolz darauf, dieses Bestreben, zu zeigen, dass man in anständiger, vernünftiger und menschlicher Richtung auch etwas leisten kann, das war damals ein sehr starker und positiver Antrieb. Uns ehrlich zu arbeiten, das haben wir ja auch in erstaunlichem Maße erreicht.“

Als ob die Deutschen tüchtige Maschinen wären; der Zweck hängt nur von denen ab, die auf ihre Knöpfe drücken. Waren das Vorerfahrungen einer deutschen KI?

Nein, so bewusstseinslos erlebte Rüstow seine tüchtigen Landsleute nicht.

„Auch dieses Bedürfnis nach Ablenkung, wenn nicht nach Selbstbetäubung in unaufhörlicher Tätigkeit, war zunächst einmal eine sozusagen biologische Reaktion, um wieder herauszukommen. … Doch jetzt müssen wir wieder lernen, unerschrocken hinter uns zu sehen und die Last unserer Vergangenheit redlich auf uns zu nehmen. Freilich bedarf es dazu einer gründlichen Neubesinnung unseres gesamten Geschichtsbildes. Ohne Geschichtsbewusstsein kann auf die Dauer kein Volk in geistiger Gesundheit leben.“

Gibt es bei uns das Geschichtsbewusstsein, das Rüstow von uns forderte?

Natürlich nicht. Hört man unsere Politiker, so kennen sie kein deutsches Geschichtsbewusstsein à la Rüstow. Dieses umfasst nämlich die ganze fröhliche Vitalität, mit der man sein Leben führen könnte, wenn … wenn man nur wüsste, wie.

Ja, was verstehen Sie denn, Herr Rüstow, nun unter ihrer viel gerühmten Vitalität?

Ach, das wisst ihr gar nicht mehr? Oder stellt ihr euch etwa dumm? Okay, dann wollen wir mal:

„Wenn fremde Nationalökonomen sagen, eine Aufstiegskurve von dieser Steilheit habe es in der ganzen Weltgeschichte noch nicht gegeben (was auch der berechtigte Grund sei, um von einem „Wunder“ zu sprechen). Aber über all den erstaunlichen Wirtschaftserfolgen seid ihr ja reine Materialisten geworden: ihr denkt nur noch an Wirtschaft und Wirtschaftserfolge. Darauf sage ich ihnen jedes Mal: das tun wir aus Idealismus! Das tun wir deshalb, weil der Wirtschaftssektor bei uns leider das einzige Gebiet ist, wo es vorwärts geht, wo man sich ins Zeug legen, wo man etwas erreichen kann. … Auf allen anderen Gebieten unseres öffentlichen Lebens stagniert es ja, und stagnierendes Wasser fault.“

Merkwürdig. Fast ein halbes Jahrhundert nach diesen Zeilen Rüstows treffen uns seine Analysen noch immer, als habe sich nichts verändert. Doch Rüstow hat eine Erklärung für diesen geistigen Stillstand.

„Dadurch, dass die Wirtschaft das einzige Gebiet ist, auf dem etwas vorwärts geht, dadurch hat die Wirtschaft jene zentrale Stellung bekommen, die ihr gar nicht gebührt. Der Tadel darf sich also zunächst gar nicht gegen die Wirtschaft richten, sondern gegen alle anderen Gebiete, in denen Deutschland versagt. Das deutsche Volk wäre genauso bereit gewesen, sich auch auf allen anderen Gebieten ins Zeug zu legen … wenn ihm dazu Gelegenheit geboten worden wäre. Sie ist ihm nicht geboten worden, sie ist ihm sogar geradezu versperrt und versagt worden.“

Hat sich das bis heute geändert? Wissen die Deutschen inzwischen, was ihnen fehlt? Waren ihre Politiker klug genug, um mit ihnen über all jene Geistesdinge zu debattieren, die zu einem vollen Leben gehören? Nicht im Geringsten.

Kurz nach dem Krieg gab es allerdings einen Politökonomen, der den Mut hatte, den „Abgrund mit einem Satz zu überqueren“, und der hieß Ludwig Erhard.

„Das Programm, das ihm den Mut zu diesem kühnen Sprung gab, war das Programm des Neoliberalismus, das im Jahre 1932, damals noch als reine Utopie, von meinem Freunde Walter Eucken und mir aufgestellt worden war. … Dieses Programm der Sozialen Marktwirtschaft ist nun von Anfang an nur auf einen Teil der Marktwirtschaft angewandt worden. Aber auch im Bereich der Sozialen Marktwirtschaft sind deren Prinzipien leider nicht wirklich rein, radikal und zielbewusst durchgeführt worden.“

Wie bitte? Rüstow will den Neoliberalismus erfunden haben? Soll das ein Scherz sein? Weiß inzwischen nicht jedes Kind, dass die leidenschaftlichen Gegner von Rüstow den Neoliberalismus erfunden haben – während Rüstow lediglich die Ideologe des Paläoliberalismus blieb? Diese Gegner waren bekanntlich die Österreicher Hayek, von Mises und viele andere Wirtschaftler, die kurz nach dem Krieg in der MPS (Mont Pèlerin Society) zusammenkamen, um die Situation der Weltwirtschaft zu besprechen. Paläo heißt Alt, Neo heißt Neu. Geschickte Wahrheitsverdreher stellten diese Begriffe auf den Kopf und tauften die österreichische Schule auf Neoliberalismus, den wahren Neoliberalismus aber auf Paläoliberalismus.

Während Hayeks Schule heute die Welt beherrscht, ist die Soziale Marktwirtschaft Rüstows fast vollständig verdrängt worden. Eine einmalige Verfälschung in der Welt der Wissenschaften. Hayeks Wirtschaft will sogar eine Naturwissenschaft sein, die in schicksalhafter Dominanz dem Menschen vorschreibt, wohin die Reise geht. Sein Verstand reiche dem Menschen nicht, so Hayek, herauszufinden, welche Elemente die Natur-Ökonomie der Menschheit aufzwingt. Nicht anders, als Jahwe den Seinen die zehn Gebote vorschreibt.

Was ist nun der Unterschied zwischen dem gefälschten Neoliberalismus und dem Paläoliberalismus, der der wahre Neoliberalismus ist. Versteht sich, dass sich die Deutschen um solchen Krimskrams ihrer Geschichte nicht kümmern und vor sich hinwursteln, dass es kracht.

Vehement verteidigt Rüstow verteidigt seinen – wahren – Neoliberalismus:

„Es ist doch unbegreiflich, dass wir kein sozialpolitisches Zielbild haben in einer Zeit, wo wir die Mittel zu seiner Realisierung hätten. Wir leben im Überfluss, aber uns fehlt der Löffel. Es ist niemand da, der ein wirkliches soziales Zielbild, das man menschlich und sachlich bejahen kann, aufstellt und proklamiert. Ist es sozial, dass man den Arbeitern selbst ehrlich und sauer verdiente Groschen aus der Tasche zieht, um sie in die Gegend zu streuen, in der Hoffnung, dass diejenigen, die es wirklich nötig haben, auch etwas davon abbekommen? Das Endergebnis kontrolliert kein Mensch. Es ist sogar schändlicherweise so, dass die, die es am nötigsten hätten, immer noch nicht genug bekommen. Das ist doch ein skandalöser Zustand. Wir wenden sehr viel auf, und gegenüber diesem Aufwand wird die wirkliche Not noch viel zu wenig gelindert. Da muss nun endlich mal der vielberufene Sozialplan her. Aber es ist tief beschämend für uns alle, dass auf einem so wichtigen Gebiet wie dem der Sozialpolitik, wo viele Mittel zur Verfügung stehen, dass da nicht das Nötige geschieht. Dass man schläft und weiter dusselt und wurstelt und Geld in die Gegend streut, ohne sich zu überzeugen, dass es auch an die richtigen Stellen kommt.“

Die Älteren werden sich erinnern, dass CDU-Geißler ständig an die katholische Soziallehre der Freiburger erinnerte. Nun, das war der Eucken-Rüstow’sche Neoliberalismus, den der Katholik aus der Pfalz in eine katholische Lehre umrüstete. Aber auch das nützte ihm nichts, seine Partei wurde immer neoliberaler. Nicht anders ging’s der SPD, die unter Schröder das Soziale aus dem Parteiprogramm warf und aus England – wo Hayek hin geflüchtet war, den Neoliberalismus importierte.

Vergessen wir nicht, auch die österreichische Schule berief sich auf ihre christlichen Wurzeln. Zwei christliche Lehren stehen gegeneinander und berufen sich synchron auf die Wahrheit der Offenbarung? Nur Rüstow berief sich auf die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen, die er in der Antike gefunden hatte.

Der Glaube an den aufgeklärten Menschen war für die Athener Demokraten der einzig wahre und vernünftige Maßstab, an dem man sich orientieren konnte. Der Glaube an einen allwissenden und unfehlbaren Gott hingegen war ein Hirngespenst.

„Jeder Mensch ist Weltbürger oder Kosmopolit, der einzig rechte Staat ist der Weltstaat.“ (alle antiken Zitate in Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, Bd. 2)

Und was Zenon von Kition, der Gründer der Stoa, formulierte, betrifft seltsamerweise unser modernstes Problem, an dem der übereifrige Friedrich Merz scheiterte:

„Wir sollten nicht nach Städten und Stämmen gesondert leben, jedes mit einer unterschiedlichen Rechtsauffassung, vielmehr sollten wir alle Menschen als Mitbürger und Volksgenossen betrachten, und Lebensweise und Gesellschaftsordnung sollten einheitlich sein, wie bei einer Herde. Die auf gleicher Weide in gleicher Weise aufgezogen wird.“

Das war der hellenische Gedanke einer politischen Menschheitseinheit in demokratischer Form. Einheit nicht durch platonischen Beglückungszwang, sondern in symbiotischer Verbundenheit gleicher Wesen.

Margot Friedländer, älteste Überlebende des Holocaust, beschwört uns, alle Menschen als gleiche Wesen zu betrachten. Jeder Mensch ist Mensch wie sein Nachbar. Nur wer diese Gleichheit in allen Bereichen realisiert, wird der Menschheit eine Chance verleihen.

Die Gesinnung der stoischen Gleichheit aller Menschen nannten sie – Philanthropie, Menschenliebe. „Liebe das Menschengeschlecht“, hatte Marc Aurel, der stoische Kaiser von Rom, formuliert.

Die westlichen Abendländer sind stolz auf ihre „Werte“ – aber was ist mit einhalten? Niemals. Ihre westliche Kultur ist eine einzige Heuchelei. Was sie predigen, tun sie nicht, was sie tun, predigen sie nicht. Mit Ausnahme von Donald Trump, dessen Zynismus es für richtig hält, sich zwar Christ zu nennen, aber jede Humanität ad absurdum zu führen.

Heute reden die deutschen Politiker wieder von globaler Gesinnung, aber nur in wirtschaftlicher Hinsicht: es muss eine globale Wirtschaft sein.

Da aber diese Wirtschaft ohne Konkurrenz nicht funktioniert, mutiert die globale Wirtschaft zu zwei Raubtierhorden, die sich den Reichtum der Welt abjagen.

Konkurrenz und humane Verbundenheit sind wie Hund und Katz zueinander.

Momentan befindet sich die deutsche Wirtschaft im Niedergang. Mit wem können sie sich verbinden, der nicht ihr Konkurrent wäre?

Trump nimmt Abschied von solidarischem Globalhandeln. Er kassiert so viele Länder, die er durch Drohungen einkassieren kann. Als Despot der Welt will er allein bestimmen, welchem Land welcher Profit zusteht.

Die Deutschen brüten in sich. Talkshows mit Ausländern gibt’s nicht bei ihnen. Ganz allein wollen sie die Siegestrophäe der VW-Nation zurückerobern. Eine soziale Wirtschaft mit gleichen Menschen ist für sie ein Alptraum.

Das Flüchtlingsproblem wäre nur zu lösen, wenn die Menschheit eine globale Politik gleicher Menschen erarbeiten würde.

Doch das Ruder der Menschheit zeigt in die konträre Richtung. Die Menschheit spaltet sich immer mehr in zwei ungleiche Hälften. Die winzige Minderheit besteht aus endlos Reichen, die massenhafte Mehrheit aus Nichtskönnern, Faulenzern und Dummköpfen.

Die Minderheit will die lukrativsten Anteile des Weltreichtums, dem Rest bleibt der Unrat.

Über diese Probleme und ihre Ursachen spricht heute niemand mehr. Alles wird teurer, schlechter und angsterregender. Eine Arbeitsfreudigkeit kennt fast niemand mehr. Hudeln und wursteln sind nicht nur die Vorlieben des einfachen Mannes auf der Straße, sondern auch der frommen Frau auf dem Kanzlersessel.

Wir müssen uns ändern, aber wie? Wir müssen uns streiten, welche humane Philosophie wir installieren wollen. Es gibt keine jenseitigen Mächte, die uns zwingen, wie wir handeln sollen. Der Mensch bestimmt allein über sein irdisches Schicksal.

Die riesigen Demonstrationen vom Wochenende zeigen uns: die Deutschen sind dabei, ihren kollektiven Schlaf zu beenden.

Fortsetzung folgt.