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Die ERDE und wir. XL

Tagesmail vom 20.12.2024

Die ERDE und wir. XL,

Ade, ruchloses Jahr 2024!

Willkommen 2025, das uns – so hoffen wir – von allen Übeln erlösen wird.

Das glauben die Frommen, die es nicht länger erwarten können, dass der Messias vor der Tür stehen wird. Wie aber nennt man eine Epoche von Gläubigen, die über ihre eigenen religiösen Hoffnungen nur noch wiehern können?

In ihrer alttestamentarischen Form ist die Hoffnung national, „nämlich die Hoffnung auf die Wiederherstellung des Davidreiches unter einem davidischen König. Der Messias, der die neue Heilszeit heraufführen wird, ist als Mensch gedacht. Er wird König in Jerusalem sein; die zwölf Stämme werden aus der Zerstreuung im Heiligen Land gesammelt werden und der König wird das Land unter sie verteilen. Er wird als Kriegsheld die Feinde zerschmettern und Israels Weltherrschaft aufrichten.“ (Rudolf Bultmann, Das Urchristentum)

Wir vermuten, Netanjahu wird sich immer mehr als politischer Messias profilieren, dessen Erfolge seine Erwählung bestätigen. Wenn Trump an die Macht kommt, wird er die israelischen Pläne rückhaltlos unterstützen.

In Deutschland gibt es keine religiösen Debatten. Schon gar keine zur Erkennung der Heilszeit, die wir vielleicht schon erreicht haben.

Zwischen „sittlicher Reife“ und „Tünkram“ versinkt das Land der Reformation in einer verseuchten Felsenspalte. Neuwahlen werden nichts bringen, denn sie werden das verfaulte und verrottete Ideenmaterial nur ein weiteres Mal durchmischen, aber auf keinen Fall erneuern.

Neue Koalitionen und Kompromisse werden nur Variationen der stinkenden alten Müllberge sein. Dann fängt alles von vorne an – aber nur in derselben alten Gärungs- und Verfallsform.

Deshalb weiß niemand, wo wir heute stehen. Die Gegenwart ist keine Erfüllung religiöser Prophetien, weshalb wir nicht fähig sind, den etwaigen Vollzug der Vorhersagen politisch zu bestimmen.

Selbsterfüllende Prophezeiungen gibt es ohnehin nicht. Wenn sich etwas erfüllt, so ist es das Werk Gottes.

Neoliberalismus ist die ökonomische Erfüllung göttlicher Heilsprophetien. Denn die Werkzeuge, die der Herr der Geschichte benutzt, um seine Heilszeit zu vollenden, sind Mammon und Macht. Irdische Erfolge sind Zeichen des Gehorsams gegen den Himmel.

Wirtschaftliche Erfolge sind keine Leistungen autonomer Menschen, sondern Gaben des Himmels an Fleißige und Gehorsame. Es ist wie bei Calvins Prädestination. Niemand weiß, ob er zu den Erwählten oder Verfluchten gehört. Doch je mehr weltlichen Erfolg er genießt, umso mehr kann er von seiner Erwählung überzeugt sein. Seine Glaubensgewissheit beginnt als eine Als-Ob-Gewissheit, die immer mehr zur stahlharten psychischen Gewissheit verhärtet.

Im Gegensatz zur zirkulären Zeit der Griechen ist die Weltzeit der Frommen eine gerade Linie – die aber in zwei Teile geteilt ist: in diesen Äon und den kommenden.

„Die Wende der Äonen steht nahe bevor, denn die Schöpfung wird schon alt und ist über die Jugendzeit hinaus. Der ganze Ablauf der Weltzeiten ist vorherbestimmt, die ganze Weltgeschichte in Perioden geteilt, und so können die Apokalyptiker im Rückblick auf die Geschichte berechnen, an welchem Punkt die Gegenwart steht.“

Vielleicht können wir uns jetzt einige Fragen beantworten: warum sind die meisten Zeitgenossen heute so müde und abgespannt? Warum sehen sie pessimistisch und hoffnungslos in die Zukunft – obgleich die Futuristen tun, als seien sie kurz vor dem Sieg über das Weltall?

Ihr Zukunftsrausch ist nichts als der Versuch, ihre gegenwärtige Bedrücktheit zu vertuschen, um sich nicht als Opfer des kaputten Zeitgeistes präsentieren zu müssen. Nichts wie weg, nichts wie weg ins Universum, um den Fängen der kranken Erde zu entkommen.

Von außen strahlt die Erde wie ein überenergischer Planet, der gar nicht daran denkt, sich aufzugeben. Wer aber mit einer Sonde ins Innere unserer Genies schauen könnte, der würde erschrecken: diese Schwarzseher wollen wie Gott sein, um sich als künftige Sieger der Heilsgeschichte darzustellen.

Die Psychologie der jetzigen Menschheit ist nicht das Produkt ihrer subjektiven Lebenszeit, sondern das der gesamten objektiven Menschheitsgeschichte. Wer wissen will, warum wir so zerrissen agieren, muss die gesamte Evolution des Menschen ins Auge fassen.

Natürlich ist es einfacher, eine KI zu erfinden, die angeblich den Menschen übertreffen wird, zumal diese Prophetie aus dem Munde ihres Erlösers bestätigt wird:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.“

Auf Deutsch: „Damit der Vater in dem Sohn verherrlich werde, verheißt Jesu seinen Jüngern eine Geisteskraft, die sie befähigt, noch größere Werke zu tun als er selber, das heißt sogar ihn selbst durch Wirkungen des Heiligen Geistes zu übertreffen.“

Die endlose Zukunft der KI-Genies ist nichts anderes als die Übersetzung der christlichen Eschatologie in Maschinokratie:

„Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Auch diese hohe Stufe wird nicht die letzte sein. Doch die Christen wissen schon jetzt, dass die letzte Stufe eine weitere unvorstellbare Seinserhöhung mit sich bringen wird: die Gleichförmigkeit mit dem erhöhten Christus.

„Hier erscheint der Geist als Kraft einer progressiven Seinserhöhung, die ihn ins Übermenschliche erheben wird.“ („Der Übermensch“, herausgegeben von Ernst Benz)

Die Erwartung eines Außerordentlichen und Übermenschlichen war die futuristische Bewegungskraft der ganzen abendländischen Geschichte. Das ist nicht nur die Arroganz des Neuen Testaments, sondern wird bereits im Alten Testament angekündigt:

Psalm 81, 1: „Ihr seid Götter“. Diese Übermensch-Spekulation geht über Origenes, Dionysius Areopag, die mittelalterliche Mystik und Reformationszeit, den Pietismus, Lavater, Herder, Goethe, Hegel, David Friedrich Strauß, Jean Paul bis Nietzsche – und den deutschen Führer.

Goethes Faust hat die Nase voll von wissenschaftlicher Angeberei. Er will einen neuen Erkenntnisweg:

„Drum hab ich mich der Magie ergeben … und tu nicht mehr in Worten kramen.“ Bei der Betrachtung des Zauberbuchs von Nostradamus fühlt er sich ins Übermenschliche erhoben:

„Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!“

Auch die Amerikaner kennen die Figur des Übermenschen. Bei Emerson verknüpft sich die Linie der christlichen Endzeiterwartung mit der darwinistischen Evolution.

Nietzsches Übermensch ist keineswegs ein besserer Mensch, sondern kann gleichzeitig der bösere Mensch sein, dessen Spannweite die Höhe des Himmels und die Abgründe der Hölle umfasst.

„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, der überwunden werden soll. Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für all unsere Wertschätzung – und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen. Nicht „Menschheit“, sondern „Übermensch“ ist das Ziel.“

Nun sind wir in der Gegenwart angekommen: Futur, keine Vergangenheit mehr, Übermenschen à la Musk und Trump, keine Humanisierung der Menschheit.

Wir sehen eine winzige Elitegruppe von Übermenschen heranwachsen, die die Geschicke der Menschheit unter sich ausmachen.

Auch in Russland gibt’s den Übermenschen bei Solovjev, Lermontov und anderen.

Von wem stammt der Satz: „Bei uns ist es immer so: Wenn es ruhig ist, ist uns langweilig. Man will mehr Action. Wenn dann die Kugeln pfeifen, fürchten wir uns. Aber ich sage Ihnen: Russland macht Fortschritte.“

Ein Krieg aus Langeweile? „Ich habe Russland vor dem Abgrund gerettet“, sagt Putin selbstbewusst. „Es geht voran“, sagt er immer wieder. „Wir haben die Souveränität im Herzen, im Westen dagegen sind sie gottlos.“ (TAZ.de)

Er stammt von Schröders bestem Freund Putin, der sich mit menschlichen Dingen langweilt. Er hält es für Gottesdienst, das Außerordentliche, Übermenschliche zu suchen, um seine Erwählung als Übermensch zu praktizieren.

Die Elite der Menschheit hebt ab: sie wollen mit dem Pöbel der Armen und Erfolglosen nichts mehr zu tun haben. Und hier kommt wieder die Botschaft des Neoliberalismus. Für sie ist Wirtschaft eine christliche Heilslehre, die mit Hilfe der Konkurrenz wenige Erfolgreiche und massenhafte Versager produziert.

Neoliberalismus ist identisch mit Heilskonkurrenz. Es geht nicht um ein Mehr oder Weniger an Geld und Gütern, es geht um die despotische Steuerung der Erde durch Übermenschen.

Am Übermenschen können wir erkennen, was ihn von der Masse der Normalmenschen unterscheidet:

„Vor allem gilt es, die Zeichen zu erkennen, die den Anbruch des Endes ankünden. Denn gegen das Ende zu, in den „Wehen des Messias“, wird alle teuflische Bosheit ihren Höhepunkt erreichen – mitunter zusammengefasst in der Person des Antimessias: Verwirrung in der Menschen- und Völkerwelt wird ausbrechen. Freunde und Verwandte werden sich bekämpfen, Völker werden in Kriege geraten. Ebenso gerät die Natur in Verwirrung: Hungersnöte, Missgeburten, kosmische Unordnung; die Sonne wird bei Nacht scheinen und der Mond am Tage, Wasserquellen werden überströmen, die Bahnen der Gestirne geraten durcheinander, Feuer bricht aus Abgründen, Blut träufelt von den Bäumen, Steine werden schreien und so weiter.“

„Und es kommt die Periode, die ewig bleibt, die neue Welt.“

Doch was geschieht mit den Gottlosen?

„Das Schicksal der Gottlosen ist Vernichtung oder ewige Qual in der Feuerhölle.“

Ist Musk der wahre Messias oder sein Gegenbild: der Antimessias? Vielleicht finden wir’s noch heraus.

Wenn Jesus tatsächlich der Inbegriff der neoliberalen Wirtschaft wäre, wie könnten wir das folgende Zitat aus dem Neuen Testamentt voll verstehen:

„Wenn einer zu mir kommt und hasst nicht Vater und Mutter, Weib und Kinder, Brüder und Schwestern, ja. auch sich selbst, der kann mein Jünger nicht sein.“

Ablösen, ablösen ist die Losung der antifamiliären Moderne. Wer ist denn so sentimental und braucht seine Familie als Kuschelecke? Jesus hat sich von seiner Familie gelöst: „Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter.“

Doch wenn Jesus der Oberpriester des Mammons ist, was machen wir mit den folgenden Versen:

„Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Das ist das allergrößte Glaubensgeheimnis: in allen wichtigen Aussagen widerspricht sich das Heilige bis aufs Messer. Er muss sich selbst aussuchen, was er für wichtig hält. Im Strom der Widersprüche schwimmt alles, was sich gegenseitig behindert. Jeder muss sich selbst seine Wahrheiten aus dem Meer der unverträglichen Widersprüche herausangeln.

Oft wird gesagt, das Ziel der Heilsgeschichte sei die Wiederankunft des Paradieses. Irrtum:

„Im letzten Buch der Bibel dagegen wird uns kein Garten, sondern das Bild einer grandiosen Stadt präsentiert. Ihr Glanz ist wie „der kostbarste Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis.“

„Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Und die Völker werden wandeln in ihrem Licht; und die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in sie bringen. 25 Und ihre Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine Nacht sein. 26 Und man wird die Herrlichkeit und die Ehre der Völker in sie bringen. 27 Und nichts Unreines wird hineinkommen und keiner, der Gräuel tut und Lüge, sondern die geschrieben sind in dem Lebensbuch des Lammes.“ 

Nicht der Baum als Inbegriff der reinen Natur ist das Ziel der Heilsgeschichte, sondern eine goldene Stadt, gelenkt von einer übermenschlichen KI und ihrem unsterblichen Erfinder, dem Herrn Kurzweil.

Wir gratulieren dem neuen Jahr, das uns diese Genietaten auf dem Silbertablett bescheren wird.

Das ist die letzte Tagesmail im Jahr 2024.

Alles Gute für das neue Jahr 2025

Fortsetzung folgt.