Tagesmail vom 13.09.2024
Die ERDE und wir. XII,
Ungewissheit, Gelähmtheit, Furcht, Ängste, Grauen und Entsetzen … … bis zur Gnaden- und Erbarmungslosigkeit:
das ist die gefährliche Gefühlspalette der gegenwärtigen Weltpolitik. Niemand will wissen, was den Mitmenschen bedrückt, lähmt und ängstigt. Mit roher Unempfindlichkeit gewöhnt man sich an das steigende Chaos. Gehen Versager unter, sollen sie untergehen, auf jeden Fall werden die Sieger triumphieren.
Also weitermachen, Augen schließen, Gefühle ausschalten.
Wenn die Situation der Menschheit immer bedrohlicher wird, was wäre da zu tun? Nicht immer enger zusammenrücken und die Völker zusammenrücken lassen, um die planetarischen Notstände in gemeinsamer Arbeit zu beheben?
Auf keinen Fall. Die Deutschen wissen, dass sie die besten jugendlichen Handwerker haben – und also müssen sie der Welt zeigen, dass sie hier noch immer zur Spitze gehören.
„Von 10. bis 15. September finden im französischen Lyon die WorldSkills 2024 statt. Wir stellen euch die besten deutschen Nachwuchs Handwerker und Handwerkerinnen vor, berichten in Form eines Live-Tickers von den wichtigsten Ereignissen und zeigen die strahlenden Siegerinnen und Sieger der Weltmeisterschaft für Berufe.“ (Handwerk-Magazin.de)
Nicht Kooperation, sondern Agon, nicht zusammen, sondern gegeneinander, nicht gattungsgemäß-human, sondern national-egoistisch.
Der Neoliberalismus kennt keine Menschheit, sondern nur wenige Supergewinner und ungeheure Massen an Versagern.
„Wer nicht mitkommt, ist schlecht angepasst. Die natürliche Selektion beseitigt diejenigen, die schlecht angepasst sind. Zu den Werten der Nächstenliebe und Solidarität bemerkt er in kalter Abstraktheit, dass eine Rückkehr zu natürlichen Instinkten innerhalb weniger Generationen zum Tode von 99,5 % der Bevölkerung führen musste. Derartige Stellungnahmen tragen Hayek leicht den Vorwurf des Zynismus und der Gefühllosigkeit ein …“ (Hayek, von Hennecke)
Ist Hayek ein kirchenfeindlicher Gegner der Agape? Überhaupt nicht.
„Er fühlt sich in der römisch-katholischen Tradition verwurzelt, von der er sich nie formell trennt. Ihm ist bewusst, dass viele Menschen einer Religion zur Sinnstiftung bedürfen, und er bekennt sich ausdrücklich zu den zentralen moralischen Positionen des Christentums, in denen er jene Merkmale wiederfindet, die auch für eine freie, spontane Gesellschaft grundlegend sind.“ (ebenda)
Das geht noch genauer: „Die altruistische Maxime „Liebe deinen Nächsten“ spiegelt für ihn lediglich eine tribalistische wider und kann sich sinnvollerweise nur auf Menschen beziehen, zu denen eine nachbarschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehung besteht. Doch als moralische Grundregel für die Großgesellschaft und abstrakte Ordnung ist dieses zentrale Gebot schlichtweg ungeeignet.“ (ebenda)
Der römische Katholik Hayek lehnt die neutestamentliche Nächstenliebe ab. Jeder hat für sich selbst zu sorgen, wer dazu nicht fähig ist, soll untergehen.
Hayek denkt und handelt wie der Priester oder der Levit im Neuen Testament, aber nicht wie der stammesfremde Samaritaner, der den Verletzten auf sein Tier hob und einem Wirt zur Nachsorge übergab.
Merkwürdigerweise gibt es fundamentale Parallelen zwischen Marx und Hayek. Bei Hayek liegen die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Ökonomie fest, bei Marx aber auch. Denn Marx betont: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort)
Bernstein schließt daraus, „dass die Folgerung naheliegt, die Menschen würden lediglich als lebendige Agenten geschichtlicher Mächte betrachtet, deren Werk sie geradezu wider Wissen und Willen ausführen. Es ist also die Bewegung der Materie, welche die Gestaltung der Ideen und Willensrichtungen bestimmt, und so sind auch diese und damit alles Geschehen in der Menschenwelt materiell notwendig. So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott.“ (Historische Notwendigkeit)
Calvin hätte es sich nicht träumen lassen, dass seine Prädestinationslehre ein Vorläufer der naturwissenschaftlichen Determination werden wird.
Aber nicht nur Marx ist Determinist, sondern auch der viel modernere Hayek. Die beiden Richtungen, die sich am meisten hassen und ablehnen, sind sich – oh Graus! – im Grunde ziemlich gleich.
Zwar sind die Grundsätze nicht identisch: bei dem einen siegen die wenigen, Glück habenden Profitmacher, bei dem anderen die neue Menschheit: die humanen Proleten. Nein, nicht die Lumpenproleten. Die Obdachlosen von heute hätten bei dem Trierer keine Chancen.
Bernstein widerspricht dem berühmten Weltökonomen, aber er akzeptiert auch einige Veränderungen von Marx:
„Der philosophische oder naturwissenschaftliche Materialismus ist streng deterministisch, die marxistische Geschichtsauffassung aber misst der ökonomischen Grundlage des Völkerlebens keinen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf dessen Gestaltungen zu.“ (ebenda)
Der Osten wurde kommunistisch, ob Stalin aber dem Marx durchweg gefallen hätte, kann man bezweifeln.
Der Westen wurde freiheitlich, aber die Freiheit diente nur dazu, die Masse der Versager in den Boden zu stampfen, der Hauptprofit des Systems wanderte in die Hände weniger, die sich mit List und Tücke durchsetzen konnten.
Von Gerechtigkeit keine Spur, nicht im marxistisch-deterministischen Osten, nicht im „liberal-deterministischen“ Neoliberalismus.
Welchem System folgten die „Linken“? In der Weimarer Zeit einer Bernstein-Variante, nach dem Krieg dem Godesberger Programm. Das war eine Wiederaufnahme des Heidelberger Programms, welches wiederum eine Neuauflage des Erfurter Programms war. (Kommt noch jemand mit??)
Dann kam mit Gerhard Schröder, dem Krakeeler aus dem unteren Milieu, der Durchbruch zum hayekianischen Profitsystem. Keine Sympathien mehr mit dem sozialen Pöbel, aber alles für die Habenden, die alles haben wollten.
Kein Willy Brandt hätte sich Blair und Hayek angenähert.
Die SPD zerbrach in zwei Teile, in Schröders Profitsystem und Lafontaines Proletensystem – das sich dem zerbrochenen Ossisystem Gregor Gysis näherte. Dann ging es drüber und drunter.
Die dogmatischen Kommunisten widerstanden den Annäherungen des Westens. Schröders Wachstumsfetischisten versagten sich allen Ruhrkumpels.
Bei diesen gewaltigen Unterschieden der verschiedenen Gruppen, die alle original links sein wollten: welche war wirklich links: die treuen Marxisten, die revisionistischen Bernsteinianer, die Kompromissler mit dem Neoliberalismus …? Niemand mehr blickte durch – bis heute.
Und all diese verschiedenen Fragmente sollten „links“ gewesen sein?
An den zerhackten Überbleibseln einer einst angesehenen Arbeiterpartei sah man deutlich, dass ein Begriff nichts taugte, um eine der heutigen Gegenwart angemessene arbeiterfreundliche und kapitalismuskritische Bewegung zu kennzeichnen – das Wörtchen links.
Was ist links, halblinks, ultralinks? Ähnliches, vielleicht nicht ganz so verwirrt, gilt auch für die konservative CDU. Was ist rechts, halbrechts, Mitte-rechts?
Bei den Rechten war die Konfusion nicht ganz so schlimm, weil die grundlegenden Elemente im 19. Jahrhundert von katholischen Theologen bestimmt wurden: was, zum Teufel, ist das Subsidiaritätsprinzip?
Mit solchen Neubegriffen konnte niemand was anfangen. Ein Leckerbissen für die Eliten der Konservativen: je weniger das dumme Volk verstand, je besser für die agilen Wirtschaftsherrscher.
Doch hier kommt ein anderer Begriff in den Vordergrund, der nach Belieben in die Richtung Gleichwertigkeit oder aber in die Verteidigung der Kluft zwischen Oben und Unten verwendet werden konnte: Populismus.
Alles, was den Mächtigen und den Medien nicht passte, musste populistisch sein. Was aber ist Populismus?
„Dem Begriff Populismus (von lateinisch populus ‚Volk‘) werden mehrere Attribute zugeordnet. Charakteristisch ist die betonte Unterscheidung von einerseits dem „Volk“ und andererseits einer als korrupt und selbstgefällig bezeichneten politischen oder wirtschaftlichen „Elite“. (Google)
Was ist in einer vitalen Demokratie kein Volk? Wenn es grundlegende Klassenkämpfe zwischen Armen und Reichen gibt: welche Klasse ist dann Populus? Man sieht, auch hier die reinste Willkür, welche Klasse sich Populus nennen darf.
Ist der Begriff als Kampfbegriff in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung überhaupt noch anwendbar?
Natürlich nicht. Einmal wird der Begriff verwendet als Verteidigungslinie der Reichen, ein andermal als Bastion der Obdachlosen.
Er kann nach Belieben verwendet werden – und das ist die Todsünde für politische Begriffe. Wer populistisch agiert, will die Rechte der Armen unterstützen, aber die Privilegien der Reichen einschränken.
Gut so, die Reichen sind kein Volk. Wer aber die Rechte der Reichen unterstützen will, wie könnte der sein Tun noch populistisch nennen?
Wer den Begriff zur Stärkung der Reichen verwenden will, ist keiner, der das abgehängte Volk unterstützt. Möglicherweise will er dem Nutzen des ganzen Volkes (populus) dienen, in Wirklichkeit aber hat er die Reichen im Blick, dessen Vorteile er bedingungslos unterstützt. Vermutlich denkt er, das Wohl der Reichen garantiere auch das Wohl der Armen.
Also müssen die Reichen zuerst unterstützt werden, damit die Armen wieder ihre Arbeitsplätze erhalten, die sie so oft verloren hatten.
Kaum aber haben die Reichen ihr neues Werk errichtet, schaufeln sie wieder den Hauptprofit ein und lassen die Schwachen und Armen verkommen.
Die Kapitalisten wollen bekanntlich alles Gesellschaftliche bestimmen, doch was, wenn kein Grundwasser mehr vorhanden, die Natur endgültig vernichtet ist, etc.?
Braucht die Wirtschaft noch Religion? Eine Antwort:
„Kopp gibt zu bedenken, dass die Demokratie möglicherweise keine Religion brauche, aber einen Gemeinsinn und eine gemeinsame Wertebasis. Und die werde besonders von religiösen Menschen vertreten. „Wenn Religion und Demokratie einander respektieren, dann wird’s gut“, sagt Kopp.“ (Sueddeutsche.de)
Eine Wirtschaft muss sich ständig dem Überleben und der Konkurrenz widmen. Was aber sagt das Neue Testament dazu?
„Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? 27 Wer ist aber unter euch, der seiner Länge[4] eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? 28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.“
Eine Gesellschaft ohne Arbeit, die nur noch von himmlischer Muße leben will – gleichzeitig aber sich einem Wort unterwirft, das man in allen marxistischen Büchern finden kann – wie kann man diese Gesellschaft vorbildlich finden? Dieses Wort lautet:
Wer nicht arbeiten will, soll auch nichts essen.
Eine Religion, die glaubt, solche Widersprüche zu vereinigen, hat keine Chancen mehr, glaubwürdig zu sein.
Ein superintelligenter Fortschritt ist unvereinbar mit jeder Demutsreligion. Er selbst will Religion der Zukunft werden.
Fortsetzung folgt.