Tagesmail vom 11.07.2025
Die ERDE und wir. XCI,
Die UNO wird 80 – und wer wird die Festrede halten?
Kein Politiker aus Nord-Amerika, kein Politiker aus Europa – schon gar keiner aus dem Heiligen Land:
„Die Uno wird 80 – doch statt Erfolge zu feiern, steht die Welt vor dem Abgrund. Nur eine gemeinsame Strategie kann den Kollaps der internationalen Ordnung noch verhindern. Das Jahr 2025 sollte eigentlich im Zeichen des 80-jährigen Bestehens der Uno stehen. Stattdessen droht es, als das Jahr in die Geschichte einzugehen, in dem die seit 1945 geschaffene internationale Ordnung zusammenbrach. Seit den Invasionen des Irak und Afghanistans, seit der Intervention in Libyen und dem Krieg in der Ukraine haben einige ständige Mitglieder des Sicherheitsrats den illegalen Einsatz von Gewalt banalisiert. Das Wegsehen vom Völkermord in Gaza ist eine Leugnung elementarer Menschlichkeit. Die Unfähigkeit, Differenzen zu überwinden, schürt eine neue Eskalation der Gewalt im Nahen Osten, deren jüngstes Kapitel den Angriff auf Iran einschließt.“
Es ist Lula da Silva, der Präsident von Brasilien.
Die Weltgemeinschaft kollabiert in jeder Hinsicht. Es sind keine Schönheitsfehler, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, sondern existenzgefährdende, die ganze Menschheit und Natur betreffende Selbstauslöschungen.
Wer hier von planetarischem Suizid spräche, hätte nicht Unrecht. Es scheint, als wäre die Menschheit vom Wahn besessen, sich – koste es was es wolle – zu einem göttlichen Wesen zu erheben oder im Nichts zu verglühen.
Für die Deutschen war es ein doppeltes Ziel: wer zu einem Höheren auferstehen will, muss den vorlaufenden Tod auf sich nehmen, um dem Sein zu befehlen: stirb und werde.
„Alles muss in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein verharren will.“
Dieses Stirb und Werde war eine Nachahmung des Gottes, der seine wildgewordene Schöpfung nicht anders kontrollieren konnte als durch seinen Sohn, den er als Mensch auf die Erde schickte, um sie durch Tod und Auferstehung zu retten.
Eine solide, ungefährdete, kontinuierliche Entwicklung in der Natur, mit der man zunehmend immer besser vertraut wird, ist ein irreführender Traum. Der Schöpfer selbst war unfähig, sein Werk in fehlerloser Weise der Menschheit zu präsentieren.
Dazu benötigte er einen Gehilfen, der für das Böse zuständig war: einen Teufel, der den Unrat beiseite räumte, um später das Lob zu kassieren: nur das Böse schafft das Gute. Das Gute ist dazu zu schwach, weil sein göttlicher Erfinder zu schwach war, um es auf Erden zur Geltung zu bringen.
So entstand die Geschichte als Versuch der Menschheit, die Schwächen Gottes durch eigenes Ingenium aus dem Weg zu räumen. Hier entstand das oberste Lob der Deutschen: in die Geschichte geht nur ein, wer sich verdient macht, das Lob des Schöpfers zu vollenden.
Die Schöpfung wurde kein geruhsames Arbeits- und Tätigkeitsfeld, sondern ein Schauplatz des wüsten Wettbewerbs und grausamer Kriege.
Der gute Mensch will seinem Herrn durch Gehorsam Ehre verschaffen, der böse durch das Gegenteil:
„Er ist unersättlich und er will gar nicht satt werden, er verabscheut den Zustand des Saturierten, des Philisters, der dem Teufel gehört.“
„So tauml ich von Begierde zu Genuss
Und im Genuss verschmacht ich nach Begierde.“
„Nichts genügt ihm, nichts befriedigt ihn. Dieses ewige Unbefriedigtsein quält ihn, und doch will er nicht darüber hinaus. Dieser Drang ins Grenzenlose ist charakteristisch für Goethe. In ihm ist ein unersättliches Verlangen, ein Durst nach Willen, eine Gier nach Genuss, ein Jagen nach Erleben und Erleiden.“ (in Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus)
Theologisch korrekt sind Goethes Verse nicht, der Erfinder des Faust wollte kein unerklärliches Böses. Seine Schöpfung sollte durch eigene Wahrnehmung verstanden werden.
Ohne es zu wissen, hat Goethe das Urmotto des Neuen Kontinents geschaffen:
„Willst du ins Unendliche schreiten,
Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.“
Das ist amerikanische Hetze nach der endlosen Gier, die Hast nach dem Ungreifbaren, die Sucht nach der KI, die alles übertreffen muss, um den Menschen durch Faszination zu bändigen.
Wer denkt hier nicht an Trump, seinen Mephisto Musk, der sich gerade wutentbrannt von ihm getrennt hat – und an Trumps Genie-Gemeinde in Silicon Valley? (Zitate aus Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus)
Das ist keine fromme Heilsgeschichte, sondern die Zeit entflohener Menschen, die ihre Geschichte selbst bestimmen wollen.
Die Frommen suchen ihr Heil im Gehorsam, die Rebellen im Ungehorsam, aber beide brauchen sich. Doch jetzt kommt der unerbittliche Gegner der beiden: die radikale Aufklärung:
„Der gemeinsame Gegner aller dieser Kreise war die Moral der Aufklärung, die Moral, die die Tugend als Mittel zur Glückseligkeit, Nützlichkeit, Anstand und Gesundheit empfahl, die niemals hinauskam über ein Abwägen zwischen Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Lohn.“
Die Aufklärung hat sich völlig unabhängig gemacht von jenseitigem Lohn und Strafe: alles, was sie für richtig hält, entscheidet sie selbst. Das führte zum Tod Gottes und Mephistos.
Wie viele Aufklärer gibt es bereits auf der Welt – ohne den himmlischen Papa? In Deutschland fast niemand, in Amerika vielleicht eine Handvoll.
Das UNO-System ist ein System der Aufklärung. Und das ist auch der Grund, warum Gottes- und Mephisto-Anhänger sich gegenseitig an den Haaren ziehen, bis sie von der Erdoberfläche verschwinden. Hier zählt die Vernunft nicht mehr.
Eine kurze Zeit hatte in der Nachkriegszeit die Vernunft die Oberhand gewonnen, weil die besiegten Grausamkeiten der Deutschen die Völker in Bewegungsstarre versetzt hatten. Doch in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts kam der alte Schlendrian wieder hoch und verscheuchte erneut die strenge Luft der reinen Vernunft.
Amerika hatte viele vernünftige Politprinzipien eingeführt, um dem Feind durch eine rationale Demokratie zu widerstehen. Doch als die aktuellen Gefahren vorüber waren, kehrten die Gegenaufklärer zurück und hüllten sich wieder in den frommen Mantel der Schöpfung.
Aufklärung bedeutet den Sieg des Universellen: jeder Mensch ist gleich dem andern. Jeder hat dieselben Rechte. Unterschiede zwischen Herkunft, Rassen und Wohlstandsformen gibt es nicht, darf es nicht geben. Niemand genießt Vorrechte vor seinen Mitmenschen.
Das strikte Gegenteil der Gleichen sind die Auserwählten, die den Nichtauserwählten himmelweit überlegen sind.
Übertragen auf die Politik heißt das: zwischen auserwählten und nichtauserwählten Völkern gibt es Unterschiede wie zwischen Himmel und Hölle.
Auserwählte Völker waren die Erlösernationen, dazu gehörten vor allem die Bible-Belt-Christen in Amerika und die Juden in Israel. Auch die muslimischen Staaten zählen sich zu den Erwählten ihres Gottes, weshalb es bis heute ständig Scharmützel zwischen Israel und arabischen Staaten gibt.
Auserwählte Nationen lehnen universalistische Gesetze ab. Durch die Wahl ihres Gottes sind sie allen anderen himmelweit überlegen. Sie dürfen alles, sind an nichts schuld, schauen auf alle anderen herab und kommandieren die Welt.
Jetzt aber kommt der Knall, formuliert von Madeleine Albright:
„Wenn wir Gewalt einsetzen müssen, dann deshalb, weil wir Amerika sind. Wir sind die unverzichtbare Nation.“ (Oliver Stone, Amerika ungeschriebene Geschichte)
Wenn einer eine Sonderrolle spielt und sich für etwas Besonderes hält, ist es mit dem Universalismus vorbei. Jetzt glaubt jeder, sich für etwas Besonderes halten zu dürfen. Gleiche Menschen gibt es für sie nicht. Was für die einen gilt, gilt für die anderen noch lange nicht.
In Bayern sind jüngst die Kreuze der Christen in Schulen verboten worden. Doch der erwählte Staat kümmert sich nicht darum. Was er für richtig hält, muss richtig sein. Eine bayrische Ministerin hält den christlichen Glauben für die Wiege des Humanismus oder des Universalismus.
Das ist unter anderem die absurde Tradition der deutschen Graecomanie. In früheren Zeiten war das klassische Athen die Urwiege der Aufklärung. Doch weniger in ethischer, als in ästhetischer Hinsicht. Die deutschen Klassiker kümmerten sich vor allem um die Mythologie des Homer, Sokrates blieb ihnen ein Rätsel.
Da sie die französische Demokratie ablehnten, war die athenische Polis für die Deutschen uninteressant. Schopenhauer schrieb:
„In der Tat ist Intoleranz nur dem Monotheismus wesentlich: ein alleiniger Gott ist seiner Natur nach ein eifersüchtiger Gott, der keinem andern das Leben gönnt. Hingegen sind polytheistische Götter, ihrer Natur nach, tolerant: sie leben und lassen leben.“ (In Gerd Lüdemann, Die Intoleranz des Evangeliums)
Bitte nicht verwechseln: es gibt verschiedene Monotheismen: es gibt rein logische oder philosophische, aber auch allmächtige Schöpfer gegenüber satanischen Götzen.
„Die Religionsfreiheit hat sich historisch im wesentlichen ohne, ja gegen die christlichen Kirchen durchgesetzt.“
Kein gefährlicherer Satz als dieser: Gott ist Einer und Keiner ist Ihm gleich. Wird dieser Satz politisch benutzt, entstehen 450 Baalspfaffen, die sich gegenseitig an den Kragen gehen.
Lula hat die religiösen Ursachen der auserwählten Nationen nicht unter die Lupe genommen. Sein Verdienst ist es, dass er die suizidale Krankheit der Menschheit scharf herausarbeitet.
Der Kapitalismus ist zur Herrschaft der Superreichen geworden, die Armen zur Abfallware.
Auch in Deutschland herrscht die Krankheit des Neoliberalismus. Selbst in den linken Parteien gibt es keine entschiedenen Widerstandskräfte.
„In den vergangenen zehn Jahren haben die vermögendsten Menschen der Welt, ein Prozent der Weltbevölkerung, 33,9 Billionen US-Dollar angehäuft – 22-mal mehr als die für die Beseitigung der weltweiten Armut notwendigen Mittel.“
Lula endet mit „frommen“ Wünschen:
„Es ist dringend notwendig, auf Diplomatie zu setzen und die Grundlagen eines echten Multilateralismus neu zu gestalten – eines Multilateralismus, der in der Lage ist, auf die Rufe einer Menschheit zu reagieren, die um ihre Zukunft fürchtet. Nur so werden wir nicht mehr untätig zuschauen, wie Ungleichheit wächst, unsinnige Kriege toben und unser Planet zerstört wird.“
Nein, Diplomatie genügt heute nicht mehr. Wir brauchen einen weltweiten Protest gegen die Gnadenlosigkeit der Auserwählten des Money.
Fortsetzung folgt.