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Die ERDE und wir. LXXXIX

Tagesmail vom 04.07.2025

Die ERDE und wir. LXXXIX,

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

In Kulturen mit einer streng linearen Geschichte kann es keine selbstbestimmten Individuen geben. Die Menschen sind historischen Gesetzen untertan, die in fernen Zeiten entstanden, und sie müssen eine Zukunft anpeilen, die der Gegenwart unbekannt ist.

Tempo, Tempo, man hat sich zu gewöhnen. Die Erwachsenen müssen die Entscheidungen der Vergangenheit so schnell wie möglich verinnerlichen – wenn sie es nicht vorziehen, auf die Barrikaden zu steigen.

Ihre Kinder müssen die Welt ihrer Erzieher so problemlos übernehmen, als gebe es keine andere.

Die Pädagogen müssen den Eindruck erwecken, als seien ihre Lehrbücher die streng logischen Folgen der Vergangenheit.

Seid ihr keine Deutschen – warum bewundert ihr Amerika?

Seid ihr keine Russen – warum habt ihr den Westen kopiert?

Seid ihr keine Chinesen – warum schaut ihr begehrlich nach Europa?

Inzwischen sind die Nationen zusammengewachsen, die Welt ist zur Einheit geworden, die globale Wirtschaft funktioniert überall nach denselben Gesetzen.

Die Unterschiede zwischen den Kulturen waren früher die Ursachen für Kriege, Unterdrückung und Ausbeutung. Doch jetzt haben sich die Nationen auf universelle Weltgesetze geeinigt.

Könnte die Welt sich für diese juristische und politische Leistung nicht beglückwünschen? Sie besitzt ein oberstes UNO-Parlament, eine einheitliche Rechtsprechung, die Medien berichten aus allen Winkeln der Erde, die Völker veranstalten Wettbewerbe in Sport, Musik und Unterhaltung. Wer sich in Hollywood einen Namen macht, kann in Berlin nicht unbekannt sein.

Und jetzt? Jetzt liegt die Welt in Trümmern. Wo keine Kriege herrschen, rüsten die Völker, um sich für Kriege vorzubereiten.

Wer Russland zu verstehen versucht, ist bereits ein Kriegstreiber. Verstehen war einst eine humanistische Leistung, die man mühsam erlernen musste. Heute ist sie zur Verschwörung geworden, für die man geächtet wird.

Früher gab es die Ost-West-Spaltung. Wer nicht strikt für den Westen war, musste ein feindlicher Ostler sein. Doch dann wurde diese Trennung abgebaut und die Völker konnten ihre einstigen Feinde als Menschen kennenlernen.

Was ist das heute für ein globaler Absturz des Weltenklimas! Die universellen Errungenschaften des UNO-Parlaments und der Weltgerichte werden in den Staub getreten, die Abgründe zwischen Ost und West tun sich wieder auf.

Wer in Deutschland rät, mit Putin zu sprechen, ist ein Verräter des Westens. Der Militarismus greift um sich. Deutschland hat zu wenig Geld, um seine Notleidenden zu unterstützen, denn es muss neue Waffen entwickeln, um Moskau zu bedrohen.

Wer pazifistisch sein will, muss sich verstecken, um seine Vaterlandsliebe nicht in Verruf zu bringen. Echte Friedensfreunde wissen, dass sie durchweg friedliche Politik betreiben müssen, um militaristische Gefahren gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Was heute zumeist übersehen wird, sind die kriegerischen Gefahren des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Besonders in Amerika wurde die ökonomische Überlegenheit angeheizt, um ihre Dominanz über die Welt zu untermauern.

Die Errungenschaften der Nachkriegszeit wurden zerrüttet, weil man sie zu psychologischen Erholungsphänomenen nach dem schrecklichen Weltkrieg erniedrigte. Heute müsste man wieder zur konkurrierenden Normalität der Völker zurückkehren.

Der Welt gegenüber hatte Amerika einst eine wohlwollende Rolle gespielt. Besonders das böse Deutschland wurde pädagogisch behandelt, damit das Land der Täter seine schrecklichen Fehler bereuen konnte. Und in der Tat, die Deutschen waren durch ihre protestantische Vergangenheit zur tätigen Reue geneigt. Sie stürzten sich in die Arbeit, erzielten wirtschaftliche Rekorde und begannen, New York und Hollywood zu bewundern.

Diese Zeit der kindlichen Bewunderung ist vorüber. Der Westen wird von den unbearbeiteten Sünden seiner Geschichte eingeholt, die Euphorie des Neubeginns ist vorüber.

Amerikas gute Seiten wurden in den Kreisen seines Militärs abgeschmolzen zugunsten seines früheren Dominanzstrebens über die ganze Welt. Ab Nixon und Reagan fanden die Neue-Welt-Bewohner wieder zurück zu den Rollen christlicher Weltherrscher.

Besonders in der Wirtschaft bemerkte Deutschland seine Unfähigkeit, in der Welt eine dominante Rolle zu spielen. Die CDU war unfähig, aus zerrütteten christlichen Traditionen eine Wettbewerbsökonomie zu erarbeiten, wie die SPD unfähig war, aus Marxismus und Kathedersozialismus ihre linke Kapitalismuskritik zu erarbeiten.

Da kam der Schock. Der Schock eines Kapitalismus, der in Österreich ausgedacht und in England die erste Konkurrenz gegen Keynes gewonnen hatte.

Thatcher und Reagan wurden begeisterte Anhänger dieser wissenschaftlich anmutenden Methode und unterstützten die Chicago-Boys unter Milton Friedman, um diese Methode in allen Völkern dieser Welt zu verbreiten.

Heute wirkt diese Schock-Ökonomie in der ganzen Welt. Es gibt keine linke Wirtschaft mehr, die auf Gerechtigkeit Wert legt, und schon gar keine christliche, da niemand mehr weiß, wie eine solche überhaupt aussehen müsste.

Rüstow kritisierte die Namensnennung Neo-Liberalismus, für ihn war sie eine Wiederaufnahme uralter Herrschaftsmethoden mit Hilfe einer überlegenen Wirtschaft, weshalb er sie Paläo-Liberalismus nennen wollte. Vergebens.

Naomi Klein hat den Neoliberalismus trefflich beschrieben:

Er beruhte auf dem „Traum, den Zustand „natürlicher Gesundheit wiederzuerlangen, in dem alles im Gleichgewicht war, ehe menschliche Eingriffe Störungen verursachten.“ Diese Eingriffe – wir würden von gerechter Politik sprechen – sollten von allen „staatlichen Regulierungen, Handelsbarrieren und festgeschriebenen Interessen gesäubert werden.““

Wie ein Doktor seinen Patienten von allen blutenden Wunden befreien will, so soll der neoliberale Wirtschaftsminister die Nation von allen moralischen Eingriffen befreien.

In Amerika hieß der zuständige Säuberer Milton Friedman, der sich rühmte, „die Ökonomie als harte und rigorose Wissenschaft wie Physik oder Chemie anzugehen.“

Der Neoliberalismus ist eine religiös anmutende Säuberungsmethode, eine Katharsis. Die Gesellschaft soll gereinigt werden von allen christlichen Methoden, die Wirtschaft mit altruistischer Methode zu verunreinigen. Verunreinigen heißt, die natürlichen Wettbewerbsmethoden mit einer falschen Moral zu bekämpfen. Gewinnen sollen den Kampf die Fähigen und Starken. Das wäre die Methode eines unverfälschten Wettbewerbs. Die Unfähigen und Schwachen hingegen sollen gnadenlos verrecken.

Es ist wie im Darwinismus: die stärkeren Tiere sollen die schwächeren aus dem Rennen werfen. Ein ungetrübter Wettbewerb in der reinen Natur: das war Hayeks Vision, die inzwischen weltweit zur Wirklichkeit geworden ist.

Das „freie Individuum“ soll, unbehelligt von staatlichen Eingriffen, völlig allein bestimmen, wie es seine wirtschaftliche Macht einsetzt. Der Feind ist immer der Staat, der seine moralischen Vorstellungen mit Hilfe politischer Eingriffe durchsetzen will. Dadurch gerät er in die Nähe des platonischen Faschismus, der seine philosophische Gerechtigkeit mit Hilfe gewalttätiger Methoden den Bürgern einbläuen will.

War’s ein Zufall, dass Popper, Kritiker des platonischen Faschismus, ein Wiener Freund Hayeks war? Die Wiener Intelligenz setzte alles daran – vermutlich um die Schande des österreichischen NS-Führers zu kompensieren, um einen demokratischen Pöbelstaat effektiv zu reinigen.

„Der freie Markt sollte ein perfektes wissenschaftliches System sein, in dem Individuen den größtmöglichen Gewinn für alle schaffen, indem sie nach ihren von Eigeninteressen bestimmten Bedürfnissen handeln.“

Kein Staat ist befugt, die wirtschaftliche Freiheit des Individuums einzuschränken. Es gilt die absolute Freiheit des autonomen Ichs. Neoliberale hassen die athenische Demokratie, die Macht einer gewählten Mehrheit über die Zügellosigkeit asozialer Solisten.

„Die Mission der Chicagoer Schule war daher die Säuberung, den Markt von allen Einschränkungen zu befreien, damit die Gesetze des Laissez-faire greifen konnten.“

Hayek und sein Lehrer Ludwig von Mises waren getrieben, den „Weg zur Knechtschaft“ eines Staates strikt zu unterbinden. Ein Beobachter schrieb: „Es schien, als ob ihnen jede staatliche Einmischung nicht nur als falsch galt, sondern als „böse“ … Es ist, als gäbe es da draußen ein wunderschönes, aber höchst komplexes Bild, das perfekte Harmonie darstellt und dann ist da ein Fleck, der dort nicht sein sollte und das ist abscheulich. Es ist ein Makel, der diese Schönheit zunichtemacht.“

Reinigung! Reinigung der perfekten Natur von groben moralischen Eingriffen, die nichts anderes können, als die Natur mit gespreizter Moral zu beschmutzen.

Es ähnelt dem Versuch Jesu, den biblischen Sündenfall durch seinen Tod zu reinigen.

Bei Hayek soll die Überheblichkeit des Sünders sterben, durch seine angebliche Perfektion die Natur zu formen, wie er will.

Deshalb der wichtigste Grundsatz: „Regierungen müssen alle Regeln und Regulierungen streichen, die der Anhäufung von Profiten im Wege stehen. Sie sollten die Sozialausgaben drastisch zurückfahren. Steuern sollten, wenn überhaupt nötig, niedrig sein, Arme und Reiche denselben Steuerfixbetrag zahlen.“

Wer fühlt sich nicht an den ersten Ampelstreit der neuen Regierung erinnert? Der SPD-Finanzminister sprach wie ein perfekter Hayekianer, der die Rolle der Reichen darin sieht, immer reicher zu werden, um die Stabilität der Arbeitsplätze zu erhalten. Die Armen hingegen sind lästig, sie sollen zum Teufel gehen. Wirtschaft ist nur für die Reichen da.

Dieser Neoliberalismus eroberte peu a peu die ganze Welt. Als er nach Russland kam, das gerade unter dem bewundernswerten Reformer Gorbatschow seine demokratische Souveränität entdeckte, schloss sich der ganze Westen zusammen, um den Widerstand Gorbis aus dem Weg zu räumen.

„Nahezu einhellig signalisierten die Kollegen dem Staatsminister Gorbatschow die Botschaft, wenn er nicht sofort eine wirtschaftliche Schocktherapie verfolgen würde, würden sie das Seil durchschneiden und ihn fallen lassen. Nach dem Gipfel bekam Gorbi vom IWF den einhelligen Marschbefehl: die Schulden müssen unbedingt bedient werden. Seit jener Zeit wandelte sich das politische Klima – und wurde bösartig.“

Der neoliberale Schock hatte die Völkerwelt von Grund auf verändert. Jetzt galt nicht mehr der Geist der vertrauensvollen Zusammenarbeit, sondern der unerbittliche Geist des neoliberalen Egoismus.

„Gezwungenermaßen trat Gorbatschow zurück“.

Im Westen wird er kaum noch erwähnt. Beim anti-östlichen Schuldzuschreiben benötigt man im Westen bösartige Russen, die noch nichts von wirtschaftlicher Katharsis gehört haben.

Der Westen will nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch völkerfreundlicher sein. Dazu gibt es kein besseres Beispiel als den hinterhältigen Sturz Gorbatschows.

Doch das wird sich rächen, wenn noch immer der Satz gilt: die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Die Welt steht kurz vor dem Kollaps.

Fortsetzung folgt.