Tagesmail vom 16.06.2025
Die ERDE und wir. LXXXIV,
weit und unermesslich ist die Palette der Freiheit des Westens.
„Karriere oder Weltreise? Party oder Wellnessabend? In den Zwanzigern ist alles möglich – und genau das überfordert meine Generation. Trotzdem ist es möglich, diese Zeit zu genießen … Die Zwanziger sind voll von verpassten Gelegenheiten: Wenn ich auf eine Party gehe, nehme ich einen unproduktiven Tag danach und die verpasste Chance, Bewerbungen zu schreiben, in Kauf. Wenn ich zu Hause bleibe, um Sport zu machen, Japanisch zu lernen oder Zeit mit meinem Freund zu verbringen, muss ich auf einen Weinabend mit Freund:innen verzichten. Für meine mehrmonatige Reise durch Asien musste ich meinen Traumjob aufgeben, meine Master-Bewerbung ein Jahr nach hinten verschieben und mein Erspartes köpfen. Jede Entscheidung für etwas ist auch eine Entscheidung gegen etwas.“ (SPIEGEL.de)
Wenn zu viele Freiheiten eine Überforderung sind, muss man sie dann einschränken?
„Nach einer verbreiteten These des Soziologen Robert K. Merton resultiert das Verbrechen aus der Diskrepanz zwischen großartigen gesellschaftlichen Zielvorgaben und der Unmöglichkeit, diese Ziele zu erreichen.“ (Raeithel)
„Solange die Amerikaner mobiler und flexibler blieben als Europäer und Japaner, solange sie siebenmal im Leben den Arbeitsplatz wechselten, brauchten sie die Konkurrenz nicht zu fürchten. Der amerikanische Unternehmer Ross Perot meinte während seiner Präsidentschaftskampagne, Amerika müsse sich wieder in Bewegung setzen, das Ziel sagte er nicht. Präsident Bill Clintons Programm klang nicht konkreter: „Wir müssen die Leute dazu inspirieren, über ihre unmittelbaren Ängste hinweg einen weiteren Horizont anzuvisieren.“ Sobald er aber konkrete Maßnahmen vorschlug, verweigerte ihm die Volksvertretung die Gefolgschaft.“ (ebenda)
„In Herman Melvilles Moby Dick ist das Leben an Land ein trügerisches Unterfangen. Sichere Häfen gibt es nicht, man muss in Bewegung bleiben, nur die See ist heilig, denn sie ist in ihrer Unermesslichkeit unendlich wie Gott.“
„Ralph Waldo Emerson misstraute der konkreten Wirklichkeit – und fühlte sich wohler im unbegrenzten Raum des Potentiellen. Nach seiner Auffassung befand sich alles Leben im Stadium des Übergangs. Stabile Beziehungen konnte es unter dieser Voraussetzung nicht geben. Der Stabilität fehlt das Element des Risikos, also vermag sie den Menschen nicht in einen erhöhten Zustand zu versetzen.“
Die deutsche Abenteuerin reist rund um die Welt, um ihre freie Zeit – zu genießen. Das klingt wie das Gespött des amerikanischen Humoristen Josh Billings:
„Der Amerikaner arbeitet, ißt und lacht im leichten Galopp. Die Bewegung in Richtung Horizont, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, ist Teil des Amerikanischen Traums.“
Noch ist der amerikanische Traum bei jungen Deutschen virulent. Aber er ist dabei, am Horizont zu verschwinden. Auch die Amerikaner wissen nicht mehr, wohin sie wollen.
„Besserverdienende Erwerbstätige mittleren Alters wechseln alle zweieinhalb Jahre die Firma, und oft ist ein Ortswechsel damit verbunden. Engere Beziehungen einzugehen rentiert sich unter diesen Umständen kaum. Nicht wenige ältere Amerikaner leben in Wohnwagen. Sie ziehen weiter in den nächsten Staat, „wenn der Geist sie bewegt“.“
Wissen die Superreichen, was sie wollen?
„Die Traumberufe eines Großunternehmers, der bereits Besitzer mehrerer Sportvereine, Hochseesegler und Gewinner des America`s Cup ist, sind infantil und haben mit der Lust an der Bewegung und am Abenteuer zu tun: Bomberpilot, Bergsteiger, Marathonläufer, Kapitän, Seeräuber, Entdecker, Kreuzzügler, Kavalleriegeneral. Ein Sohn aus reichem Hause bekannte, dass der Amerikanische Traum an Kraft verliert, wenn er bereits in Erfüllung gegangen ist. Der Erfolg muss wie eine Fata Morgana ständig vor einem bleiben. Die letzte Befriedigung des amerikanischen Geschäftsmanns liegt nicht in der Gewinnmaximierung oder im materiellen Komfort, sondern jenseits davon.“
Wer muss hier nicht an Elon Musk denken? Von der Erde hat er die Nase voll, jetzt bleibt ihm nur noch der Mars.
Wer glaubt, man wird reich, um ein ganzer Mensch zu werden, täuscht sich.
„Howard Hughes war dermaßen reich, dass er sich leisten konnte, auf »eine großartige, brillante und unerreichbare Weise unsozial zu sein«.“
„Im Brettspiel Squander geht es darum, sich von materiellen Werten und vertrauten Dingen lösen zu können, das gehört zu den Grunderfordernissen des amerikanischen Lebensstils. Die Vernichtung von Objekten und die Verschwendung von Ressourcen hat in den USA Tradition. Das Kapitel Umweltzerstörung ist dort eines »der fürchterlichsten und destruktivsten, das in der langen Geschichte der Kultur jemals geschrieben wurde. Allein zwischen 1909 und 1944 haben sich die Naturholzbestände der USA um mindestens 44 % verringert.«“ (geschrieben 1955!)
„Personen, die materiellen Dingen keine große Bedeutung beimessen, wollen auch keine engen oder dauerhaften menschlichen Beziehungen eingehen. Diese Haltung wird in den USA als Voraussetzung zum sozialen Aufstieg kulturell toleriert. Als der damalige Außenmister Kissinger gefragt wurde: »Erinnern Sie sich ihrer alten Freunde?«, antwortete er ungeniert: »Das Geheimnis meines Erfolgs ist, meine alten Freunde zu vergessen.«“
Der Literat Ken Kesey schrieb in einem Roman: „Unsere Bestimmung liegt nicht auf diesem Planeten. Wir kennen die Bedeutung von Raum, jeder Amerikaner weiß, was er tun muss, wenn er mal vor allem die Flucht ergreifen will: er braucht sich nur anderthalb Stunden ins Auto zu setzen und schon ist er in einer leeren Gegend, wo niemand sonst ist. Das ist das Frontierbewusstsein, das Teil unserer Kultur ist.“
Der lange Treck in den Westen: er lebt immer noch.
„Die Unverbindlichkeit in den sozialen Beziehungen verschärfte die Armutsproblematik. Ein Bürgermeister in New Jersey vertrat die Ansicht, eine Rentenversicherung würde dem letzten Lebensabschnitt die Romantik rauben. Der Begriff Arbeitslosigkeit sei im Grunde Schönfärberei, urteilte der Schriftsteller Naipaul, denn man braucht diese Leute nicht, sondern sei im Stillen davon überzeugt, dass sie menschlicher Abfall sind, den die Geschichte zurückgelassen hat. Überfüllte Strafanstalten zeugen von Menschenverachtung, bemerkte ein Oberster Bundesrichter, weil dort die Häftlingen gestapelt und verwahrt werden wie in Lagerhäusern. In heruntergekommenen Zentren großer Städte werden täglich die leeren Flaschen eingesammelt. Die Betrunkenen lässt man liegen.“
Kurze Zwischenbilanz: Naomi Klein forschte akribisch nach den Ursachen der Klimakatastrophe. Sie übersah nur einen kleinen Faktor: Amerika braucht die gigantische Abfallwirtschaft, um seine Identität zu spüren.
Das ganze amerikanische Volk – und all seine Nachahmer in der Welt – müsste sich bis auf die Knochen ändern, um sich eine neue Beziehung zur Natur zu erarbeiten. Dazu müsste es seine naturtötende Religion – zum Abfall werfen.
Ein linker Kapitalismuskritiker müsste den ganzen Neoliberalismus mit seinen religiösen Wurzeln aus dem Boden reißen, sonst gibt es keine Chance, den Money-Wahn zu zerstören.
Sich lösen, sich lösen, sich lösen: das ist die psychische Generalformel des gesellschaftlichen Zusammenlebens – ohne zusammen zu leben.
„Die Lösung von der Mutter war in der amerikanischen Kindererziehung ein beharrlich vorgetragenes Thema. Margaret Mahler empfahl allen Müttern, ihre Kleinkinder möglichst bald freizugeben, sie zur Unabhängigkeit zu ermutigen und sie, wie Mutter Vogel, notfalls sanft über den Nestrand zu stoßen.“
Regelmäßig kommen pädagogische Bücher aus der Neuen Welt nach Deutschland, um den zurückgebliebenen germanischen Müttern die festen Bindungen zu ihren Kindern auszureden. Maschinengesellschaften brauchen keine sozialen Klebstoffe, die ihr Funktionieren behindern. Alles muss reibungslos vonstattengehen, um die Produktionsmenge nicht zu gefährden.
Die kalte Entfernung zum Nächsten geht bis zum Tod.
„Tragisches zu verdrängen oder mit Optimismus zu bekämpfen, ist eine herausragende Eigenheit der amerikanischen Kultur.“ Der Tod lässt keine Zeit zum Trauern.
Emerson reagierte auf den Tod seines fünfjährigen Sohns Waldo: „Ich scheine einen schönen Besitz verloren zu haben, nicht mehr … so ist es mit dem Elend, es berührt mich nicht: etwas, von dem ich glaubte, es sei Teil von mir, … fällt von mir ab und hinterlässt keine Narbe. – Von Verstorbenen kann durchs Autofenster Abschied genommen werden. Selbst tiefstem Elend ist heiter und positiv zu begegnen. Eine Gruppe christlicher Ärzte erblickte den Sinn der Trauerarbeit darin, die Gefühlsbedingungen an Vergangenes zu schwächen und zu brechen und jede mit dem Toten verknüpfte Zukunftsvorstellung auszulöschen. Seit der Puritaner zum Yankee wurde, stößt man auf die Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich) eher in den USA als in Deutschland.“
Diese Unfähigkeit, die Vergangenheit lebendig zu erinnern, um die Gegenwart zu verstehen, ist übern Teich geschwappt. Historiker erarbeiten gründlich das Vergangene, aber Verbindungen zur Gegenwart weisen sie empört zurück, geschweige empathische Beziehungen, die uns verständlich machen könnten, was wir mit Abscheu abschütteln müssten.
In Deutschland ist Trauer über die Opfer Nazideutschlands kein wirklich empfundenes, bewegendes Gefühl, das mich überwältigen kann, sondern eine Sache stahlharter Staatsmänner und bewaffneter Polizisten.
Da Vergangenheit in Amerika zum Müll gekehrt wird, ist die Wirkung der Psychoanalyse, die anfänglich durchaus vorhanden war, schnell verpufft. Man wandte sich zur erinnerungslosen Verhaltensanalyse, die dem Muster einer Maschine folgt.
Erich Fromm: „Durch den Versuch, Psychologie in eine Naturwissenschaft umzuwandeln, beging die Psychoanalyse den Fehler, die Psychologie von den Problemen der Philosophie und Ethik zu loszulösen.“ Psychoanalyse und Ethik)
Auch diese Vergangenheitstötung schwappte zu uns herüber als zunehmende Verwandlung des Menschen in eine Maschine. Krankheiten werden nur noch physiologisch erklärt, die Lehre der umfassenden Psychosomatik ist verschwunden.
Amerikanische Freiheit hingegen ist unbegrenzt.
„Die Vorliebe für große Entfernungen gehört zur Selbstdefinition des amerikanischen Menschen, Angstlust zu genießen, ist Teil des Lebensgefühls. Umzukehren widerspreche seit je dem amerikanischen Ethos, erkannte Hans Morgenthau. „Ich habe den Traum, dass sich eines Tages kleine Gruppen und Privatmenschen über das gesamte Sonnensystem ausbreiten dürfen und darüber hinaus.“ Aus der Weite ihres Landes haben Amerikaner immer wieder Hoffnung geschöpft, als würde der grenzenlose Raum mit grenzenloser Zeit in Verbindung gebracht. Sich zu bewegen und Raum zu gewinnen und eins zu werden mit dem Universum, ist seit Emerson ein amerikanisches Verlangen geblieben. Die Sehnsucht nach dem Transzendenten führt zur Sehnsucht, sich vom Erdboden zu lösen. Castaneda dichtete:
Erstens fliegt er so hoch, wie er kann,
zweitens, kann er keine Gesellschaft ertragen,
nicht mal seiner eigenen Art.
„John Berger unterschied zwischen Überlebenskulturen und Fortschrittskulturen. In einer Überlebenskultur hat sich jede Handlung der Tradition anzupassen, während Fortschrittskulturen auf Expansion, Zukunftsperspektiven und die Leugnung des Todes abzielen.“
Ist es nicht das amerikanische IT-Genie Ray Kurzweil, welches die Absicht hat, den Tod zu überwinden und den Menschen unsterblich zu machen?
Die Umweltbewegung hatte einen starken Beginn in Amerika. Die neue Utopie, die sie entwarfen, war nicht mehr „aktiv, linear, progressiv und expansiv, sondern passiv, zirkulär defensiv und kontrahierend“.
Letzteres aber ist nicht mehr die Zeit der christlichen Heilsgeschichte, sondern die zirkuläre Zeit der Heiden. Wen wundert es, dass die Klimabewegung abrupt abgesunken ist, als das Christentum mächtig zurückdrängte?
„Der Lieblingsprophet des Columbus war Jesaja: „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“ Nachdem Columbus Christus in die Neue Welt getragen hatte, wollte er das Heilige Land befreien, Jerusalem und ein neues Zion wiedererrichten. Sein millenialistischer Glaube gab der Menschheit noch 150 Jahre bis zum Weltuntergang. Bis dahin musste das Evangelium verwirklicht sein.“
Längst ist diese Zeit der Prophetie vergangen, weshalb die USA und Israel gemeinsam, verbissen und mit heiligen Brettern vorm Gehirn, mit brachialer Militär-Gewalt daran arbeiten, Armageddon am Ende der Geschichte zu realisieren.
Eigentlich dürfte es uns gar nicht mehr geben.
Fortsetzung folgt.