Tagesmail vom 23.05.2025
Die ERDE und wir. LXXVIII,
wer kennt noch Uri Avnery, den Streiter für eine gerechte Behandlung der Palästinenser im neuen israelischen Staat und für ein gerechtes Miteinander von Juden und Arabern?
„Für die Palästinenser ist das Jahr 1948 das Jahr der Katastrophe, „al nakba“, kulminierend in ihrer Vertreibung. Es gab damals etwa eine Million Palästinenser in Palästina. Etwa 700 000 bis 800 000 wurden im Rahmen des ersten Palästinakriegs vertrieben. – Der Teilungsplan wurde von den Vereinten Nationen angenommen mit aktiver Unterstützung der Sowjetunion und der USA. Er sah die Errichtung zweier Staaten vor, eines jüdischen und eines arabischen mit Jerusalem als einer internationalen Enklave. … auch eine wirtschaftliche Föderation der beiden Staaten war vorgesehen. Gedacht war also ein Land mit einer gemeinsamen Wirtschaft, ein Teil jüdisch, ein Teil arabisch, und die Hauptstadt Jerusalem sollte einen internationalen Status erhalten.
Am Anfang gab es keine Bestrebungen, die Palästinenser zu vertreiben – im Gegenteil.“
Uri (Avnery, Zwei Völker, zwei Staaten, Gespräch über Israel und Palästina, Vorwort von Rudolf Augstein)
Im Vorwort des Buches schrieb R. Augstein, ein Jugendfreund Avnerys aus Vorkriegszeiten:
„Der Name, der sich mein Freund aus Kindertagen in Israel nach seiner Flucht aus Deutschland zulegte, stammt aus der Bibel: Uri bedeutet Flamme, Avner hieß der Feldherr des Königs David. Was immer er sich dabei gedacht haben mag, als er sich so beziehungsreich benannte, seine Kämpfe hat Avnery nicht nur durchgestanden, sondern, soweit dies möglich war, sogar gewonnen. „Vor allem die Israelis müssen Großmut und Vorausschau zeigen“, riet Avnery seinen Landsleuten, und was er seit den fünfziger Jahren gepredigt hatte, ist schließlich eingetreten. Die Israelis verhandeln mit den Palästinensern.“ (Hamburg, 1995)
Das war vor mehr als 20 bis 30 Jahren. Da sah es im neuen Staat Israel noch anders aus. Heute ist jene Welt zu einem schrecklichen Sündenpfuhl verkommen, gezeichnet von Krieg und Kriegsgeschrei, mit einer endlosen Reihe von Verjagten, Vertriebenen, Verhungerten und Erschossenen.
Augsteins Optimismus hatte sich nicht bewahrheitet.
Wie konnte diese Katastrophe in wenigen Jahren passieren? Diese Frage stellt sich heute niemand mehr, der angeblich weiß, dass der Antisemitismus steigt und steigt.
„Für die Palästinenser war diese ganze Geschichte ein Eindringen von außen in ihr Leben. Sie fühlen immer noch das historische Unrecht, das ihnen angetan wurde, und glaubten, unter dem leiden zu müssen, was die Europäer den Juden angetan haben – und in gewisser Weise stimmt das auch. Denn der Zionismus war wie gesagt eine Reaktion auf den Antisemitismus. Die erste Einwanderung nach Palästina kam nach den Pogromen in Russland, die zweite nach dem Pogrom in Kischinew. Ohne diese antisemitischen Ausschreitungen bis zum Holocaust wäre wahrscheinlich nur eine ganz kleine Anzahl von Juden nach Palästina gekommen.“ (ebenda)
Abgesehen von der schrecklichen Urschuld der judenfeindlichen Europäer gab es eine Schuld, die sich erst im neuen Staat entwickelte: der Sieg der Ultrafrommen über den Staat, den die meisten von ihnen ursprünglich abgelehnt hatten. Als sie jedoch sahen, dass er dennoch gedieh, änderten sie ihre Meinung und übernahmen mit religiösen Infiltrationen peu a peu die Herrschaft über das unerwartete Gebilde.
Uri beschreibt die Umwälzung:
„Es gibt in den israelischen Medien eine täglich geführte wüste Hasspropaganda – ohne jegliches Gegenmittel. … Auch Rabin ist außerstande, für seine Politik Propaganda zu machen. Es gibt keine Regierungspropaganda in Israel und auch keine Propaganda der Regierungspartei. Die Straße in Israel ist ganz den Rechtsradikalen überlassen, total, und auf eine unglaubliche Weise. Alle Transparente kommen von rechts, alle Graffiti sind rechts. Alles, was man auf der Straße sieht, beinahe alle Veranstaltungen und Demonstrationen kommen von rechts. Außer meiner kleinen Bewegung Gush Shalom gibt es keinen, der auf der Straße erscheint und für Frieden mit den Palästinensern eintritt, weil irgendwie auch die innere Überzeugung bei Rabin und seiner Partei fehlt, die es ihnen ermöglichen würde, klar und offen für den Frieden einzustehen. – Alles, was Ben-Gurion tat, war diametral dem entgegengesetzt, was mir vorschwebte. Wir wollten einen liberalen, modernen Staat, in dem Abstammung, Religion und Nation überhaupt keine Rolle spielen – nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten. Was stattdessen entstand, war ein national-religiös definierter Staat, der jüdische Staat. Das heißt, dass praktisch ein Teil der Bevölkerung ausgeklammert wurde und auch heute noch wird, nämlich die palästinensischen Staatsbürger Israels. Wir wollten jedoch eine totale Trennung von Staat und Religion, mit Zivilehe und Zivilscheidung und allem, was damit zusammenhängt. Wir wollten Gleichberechtigung von Arabern und Juden, von sephardischen aschkenasischen Juden, von Frauen und Männern.
Der Geheimdienstchef Ben-Gurions … schrieb später in einem Buch, dass ich in seiner Zeit als Geheimdienstchef als Staatsfeind Nummer eins angesehen wurde.“
Was man unbedingt wissen muss: der ursprüngliche Zionismus war alles andere als traditionell jüdisch. Im Gegenteil, die meisten Zionisten kamen aus den Oststaaten und waren – aus Opposition gegen ihre Schtetl-Herkunft – atheistisch.
Auch ihre ökonomischen Vorstellungen waren anders als die der stereotypischen Wucherjuden.
„Der Zionismus war ja eine Ablehnung dieser Vergangenheit. Die Menschen hatten ihr Elternhaus verlassen und kamen nach Palästina, um ein neues Leben aufzubauen, und die offizielle Parole war, die nationale soziale Pyramide umzudrehen. Das bedeutete, wieder ein breite Basis von produktiven Landarbeitern, Bauern zu schaffen wie andere Nationen auch.“
Das war die Zeit der Kibbuzim, in denen christliche Jugendliche aus Deutschland ihre Aktion Sühnezeichen absolvierten. (Ähnliche agrarische Ökonomie- Vorstellungen hatte seltsamerweise auch Alexander Rüstow entwickelt, als er aus seiner türkischen Diaspora nach Deutschland zurückgekehrt war.)
„Wir lehnten alles ab, was mit den Juden in der Diaspora zu tun hatte. Diese Verachtung, die wir für die Juden in der Diaspora hatten, kippte bei den meisten Leuten sofort um, als die Nachrichten über den Holocaust eintrafen.
Plötzlich entstand eine Gegenströmung, und alles, was die Juden im Ausland gemacht haben, wurde idealisiert. Wie herrlich idyllisch war das Leben im jüdischen Schtetl, wie herrlich die jüdische Gemeinschaft, die jüdische Religion. Die Religion war vorher bei uns total verachtet worden. – Dann kam der Gegenschlag und man wurde wieder jüdisch. Der Holocaust hatte eine ungeheure Auswirkung auf Israel, das hat sich aber nur langsam durchgesetzt. Am Anfang haben wir die Juden wegen des Holocaust sehr verachtet, nach dem Motto: „Sie sind wie die Schafe zum Schlachthaus gegangen. Sie haben sich nicht gewehrt.“
Innerhalb kürzester Zeit konnten israelische Politiker in ihren Reden auftrumpfen:
„Wir sind die größte Militärmacht im Nahen Osten; wir können die ganze Region in einer Woche erobern. Unsere Macht ist unbegrenzt. Professor Leibowitz, der universelle Gelehrte des Judentums, bezeichnete den neuen Holocaust-Kult als eine Ersatzreligion, weil die jüdische Religion im Grund schon tot sei.“
„Diese Entwicklung wiederum führte zur Weltanschauung, dass die ganze Welt die Juden umbringen wolle, dass alle Nichtjuden nur im Kopf haben, die Juden zu vernichten. Auf diese Weise bekommt man langsam ein Bild, das sehr gefährlich ist, weil man mit einem solchen Weltbild nicht normal mit anderen Völkern zusammenleben kann. Denn wenn alle Völker uns umbringen wollen, wie kann man da Frieden schließen?
Für die Palästinenser war diese ganze Geschichte ein Eindringen in ihr Leben. Sie fühlen immer noch das historische Unrecht, das ihnen angetan wurde und glauben, unter dem leiden zu müssen. was die Europäer den Juden angetan haben.“
Pardon für die langen Zitate, die aber sein müssen, weil in Deutschland niemand etwas über die Juden und die Entstehung ihres neuen Staates wissen will.
Der Kampf um den Antisemitismus ist ein Getümmel im Nebel.
Wenn wir die Krise zwischen Israel und Deutschland verstehen wollen, müssen wir die entscheidenden Fakten ihrer gemeinsamen Geschichte kennen. Hier versagen die deutschen Politiker. Vor allem Angela Merkel mit ihrer religiös-bedingungslosen Loyalität zwischen Täter- und Opfervolk. Gedenktage zur Erinnerung an Völkerverbrechen sind primär keine „unvergleichlich-religiösen“ Ereignisse, sondern sollen im säkularen Raum Opfer und Täter zur politischen Versöhnung rufen.
Loyalitäten sollte es zwischen allen Demokratien geben. Aber nur mit jenen, die universelle Gesetze beachten. Alles andere wären neue Völkerrechtsverbrechen.
Für solche muss sich Deutschland zurzeit rechtfertigen, weil der neue Kanzler Merz die Absicht hat, Netanjahu, verantwortlich für die schrecklichen Verbrechen seiner Armee, nach Berlin einzuladen.
Antisemitisch ist jede Tat, die Juden oder dem Staat Israel schaden will. Mit den Verbrechen seiner Armee schadet Netanjahu seinem Land. Wer also nicht versucht, ihn durch klare Kritik davon abzuhalten, schadet dem ganzen jüdischen Staat.
Nur fürsorgliche Kritik an Israel hätte die Chance, das schlechte Ansehen der Israelis in der Welt nicht noch mehr anwachsen zu lassen. Von daher müssten wir folgern: die klischeehaften Antisemitismus-Jäger in Deutschland wie BILD und der Springerverlag sind das genaue Gegenteil von dem, was sie sein wollten: sie schützen nicht die Juden, sie schaden ihnen.
Die Deutschen haben ihre Täter-Vergangenheit nicht bearbeitet. Dass Pflichtbesuche der Schulklassen in KZ-Lagern hier etwas bessern könnten, ist eine infantile Idee.
In der Brutalität des Gaza-Terrors erkennen wir die jahrzehntelange Demütigung der Palästinenser. Das muss man nicht gut heißen, aber man muss es verstehen. Auch der norwegische Massenattentäter Breivik war kein geborener Teufel, denn solche gibt es nicht.
In Deutschland kommt zurzeit die fabelhafte Idee auf, die Gefängnisse abzuschaffen. Denn in Gefangenschaft werden die Bestraften noch mehr geschädigt.
Wir können nur verstehen, wo die Kalamitäten des gestörten Dialogs liegen, wenn wir die eigenen Fehler, aber auch die Fehler der anderen Seite erkennen.
Die Fehler der Deutschen: völliges Desinteresse, nicht die geringste Ahnung über Judentum und Christentum, die mangelnde Ich-Stärke, die Fehler Israels deutlich auszusprechen.
Jetzt ist Israel wieder in Gefahr, vor den Nationen der Welt zum Bösewicht zu werden, und wir lassen alles kritiklos geschehen. Die Regierungen mäkeln zwar ein wenig, dann wechseln sie genervt das Thema.
Pankaj Mishra sieht das vorbildlich anders:
„Aber es gibt noch ein anderes Land, das seine Grenzen mit Gewalt verschiebt, seine Siedlungen im illegal besetzten Westjordanland seit Jahren ausbaut und weitere Gebiete im Gazastreifen, im Libanon und in Syrien besetzt. Deutschland unterstützt diesen Staat und ist sein zweitgrößter Waffenlieferant. Wie bringt es das mit seiner angeblichen Sorge um das Völkerrecht unter einen Hut? Mishra: Ja, denn der Krieg in Gaza hat die westliche Glaubwürdigkeit komplett untergraben. China geht als großer geopolitischer Gewinner aus diesem Fiasko hervor. Israel zeigt ihnen, wie man sich über das Recht hinwegsetzen und völlig ungestraft davon kommen kann. Das gefällt ihnen. Sie würden es gerne nachahmen.“ (TAZ.de)
Wo liegen die Fehler der Juden?
Hören wir die verzweifelte Stimme von Amos OZ:
„Unser Leid hat uns eine Art moralischen Ablass erteilt oder eine moralische carte blanche ausgestellt. Nach all dem, was uns die schmutzigen Gojim angetan haben, darf uns keiner von ihnen Moral predigen. Wir aber dürfen alles, weil wir die Opfer waren, und weil wir so viel gelitten haben. Einmal Opfer, immer Opfer – und ein Opfer hat Anspruch auf moralische Indulgenz (Nachsicht).“ (in Y. Rabkin, Im Namen der Thora. Die Jüdische Opposition gegen den Zionismus)
Die deutschen Medien, zuständig für korrekte Nachhilfe im Bereich des deutsch-jüdischen Verhältnisses, versagen vollständig.
Wie können wir uns gegenseitig verstehen, wenn wir nichts voneinander wissen? Immer nur zu intonieren: „wo ist die Polizei“ oder „das ist entsetzlich“, verschärft nur das Elend. Stattdessen sollten wir Gesprächskreise gründen, in denen Argumente ausgetauscht werden können.
Antisemitismus ist im Grunde ein Antihumanismus, denn Semiten sind Menschen und alles Judenfeindliche ist Menschenfeindlichkeit.
Deutsche und Juden sollten sich begegnen wie alle Vernunftwesen sich begegnen:
„Ein Judentum, dessen einziges Ziel darin besteht, die Juden zu beschützen, bedeutet nichts. Echtes Judentum sorgt nicht nur für Juden, sondern es kümmert sich auch um reale Probleme der Menschheit und macht unsere religiöse Sendung zu einer aktuellen und akuten.“ (Michaelson in ebenda)
Das Gleiche müssen sich auch die Deutschen hinter die Ohren schreiben: Loyalität ist nötig für die ganze Welt – unter Berücksichtigung aller universellen Werte, um die Würde jedes Individuums zu schützen.
Fortsetzung folgt.