Tagesmail vom 09.05.2025
Die ERDE und wir. LXXIV,
alles ist ironisch, denn alles ist dialektisch.
Kein Satz von Adorno, sondern von Hegel. Er bedeutet: das Neue beginnt. Menschen, freuet euch.
Das Neue beginnt? Ist das Neue nicht Einbruch des Unmöglichen, des Überirdischen?
Nein, das Neue ist das Unglaubliche, das Wirklichkeit geworden ist.
Was wirklich ist, ist vernünftig: was vernünftig, ist wirklich.
Schauet die unfassliche Weltsituation. Trump, der Mephisto, ist ebenso Realität geworden, wie sein dialektisches Widerspiel, der amerikanische Papa aller Menschen.
Trump freut sich über den amerikanischen Papst, hat er ihn doch selbst gefordert. Kaum im Amt, funktioniert die Welt bereits, wie dieser Berserker es will.
Jetzt eine Lektion in Dialektik. Das ist leichter, als man denkt. Dialektik ist ein Widerspruch, der mit seinem Gegenteil identisch wird. Die ganze Welt ist voller Widersprüche, die eine Zeit lang gegeneinander kämpfen, sich zur rechten Zeit aber miteinander versöhnen und sich zu einer höheren Einheit verbinden.
Der papa christianorum ist der oberste Dialektiker der Welt: denn von ihm wird gefordert: baue Brücken. (In Deutschland sind fast alle Brücken einsturzgefährdet, was sagt uns das?)
„Dialektik ist die vernünftige Bewegung, in welcher schlechthin getrennt Scheinendes durch sich selbst ineinander übergeht.“
Jetzt eine Portion Hegel: „Dialektik ist die Sprache der Zerrissenheit, die absolute Verkehrung der Wirklichkeit, was als gut bestimmt ist, ist schlecht: was als schlecht, ist gut.“
„Dialektik ist der Kampf der Gegensätze oder von Gut und Böse.“
Dieser Kampf ereignet sich nicht nur im Geist, sondern auch in der Natur:
„Die Entwicklung des Baums ist die Widerlegung des Keims.“
Dialektik ist die Erfindung der scharfsinnigen Griechen, die von den Schriftstellern der Heiligen Schrift übernommen wurden, um ihre Heilsgeschichte mit Schöpfung, Sündenfall, Geburt, Tod und Wiederauferstehung des Gottessohnes in einem Neuen Reich beenden zu können.
Der Widerspruch der Heiden ist der alltägliche Kampf jener Menschen, die sich nicht leiden können und sich gegenseitig von der Platte wischen wollen.
Der Widerspruch der Frommen ist der Kampf zwischen Gott und Teufel. Der Teufel muss jene Aufgaben im Namen seines Herrn erledigen, der sich seine Hände nicht schmutzig machen will. Der Teufel ist zuständig für das Brutale und Ekelerregende, das am Ende aller Dinge Tschüss sagen muss.
Goethe hat das Prinzip von Mandeville übernommen: Mephisto ist ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Mandeville: „Ein Blick auf die menschliche Gesellschaft und auf die Bedingungen ihres Wachstums lehrt nämlich, dass eine Reihe von Eigenschaften, welche bislang als Tugenden beehrt wurden, bei allgemeiner Verbreitung die Gesellschaft in einen Zustand der äußersten Rohheit und Armut versetzen würden: während andererseits Eigenschaften, die man gewöhnlich als lasterhaft zu brandmarken pflegt, die Entwicklung der Kultur auf das mächtigste fördern. Die Theorie, dass Selbstliebe der Quell alles menschlichen Handelns sei, ist niemals mit einer so brutalen Offenheit und mit einer so unbekümmerten Leugnung aller entgegenstehenden Tatsachen vorgetragen worden.“
Das war ein energischer Kampfaufruf gegen die Christen, hier beginnt die Aufklärung ihren entschiedenen Widerstand gegen die Frommen. Mandeville beschimpft die hochgerühmte „Sittlichkeit“ als eine Ausgeburt der Schmeichelei und des Stolzes.
Ursprünglich waren die Anfänge des Sittlichen dazu bestimmt, den Ehrgeiz einzelner zu fördern, welche daraus zunächst für sich selber Vorteil zogen, nämlich den, eine große Menge Menschen mit wachsender Leichtigkeit und Sicherheit zu beherrschen.
Das war die Urtheorie des Kapitalismus, der sich moralisch den Sitten des Pöbels für überlegen hielt, weil der Erfolg der Reichen die Armen mitversorgte. Die amerikanische Moderne brachte es auf den Punkt: „Bei steigender Flut heben sich alle Boote.“
Aber schon in der Frühzeit bemerkten die Habgierigsten, dass es ihr Vorteil sei, die Förderer des allgemeinen Wohls zu loben, weil deren Leistungen auch ihnen zugutekamen, ohne dass sie sich Zwang auferlegen mussten.“
Mit anderen Worten: die frühen Christen, die Prediger der Nächstenliebe, merkten allmählich, dass ihre mangelnde Selbstliebe zur Förderung ihres Wohlstands nichts beitrug.
„Die Theorie, dass Selbstliebe die Quelle alles menschlichen Handelns sei, ist niemals, weder vorher noch nachher, mit einer so brutalen Offenheit vorgetragen worden.“
Jetzt verstehen wir, warum die heutigen Theoretiker des Neoliberalismus stets so brutal daherkommen, obgleich sie sich moralischer darstellen als die Nächstenliebenden, die nichts zu bieten haben, um ihre Nächsten real zu unterstützen.
Also wurde das Gute zum Bösen, das Böse zum Guten. Und die frühen, ökonomisch versierten Aufklärer waren die Ersten, die den Mut aufbrachten, die religiösen, wirtschaftlich sinnlosen Formeln der Agape auf den Kopf zu stellen.
Wahre Nächstenliebe ist die Energie der Kapitalisten, so viel wie möglich zu produzieren, um den Wohlstand des Landes zu steigern.
Warum wird das heute nicht verstanden? Weil die lieben Kinder im Religionsunterricht die Formeln der Nächstenliebe sich einpauken müssen – um ja nicht fähig zu werden, die Großverdiener zu überflügeln und ins Abseits zu stellen.
„Was man sittlich nennt, ist ein bloßes Gerede, eine absichtlich hervorgerufene Täuschung, eine Missgeburt gegenseitiger Schmeichelei und eigenen Dünkels.“
Demnach hat der Kapitalismus die Geschichte des Abendlands auf den Kopf gestellt. Die Bergpredigt wurde zur Sammlung von Dummheiten, das dialektische Gegenteil der Bergpredigt zum Gipfel der Cleverness.
War das wirklich ein Verrat an der Heiligen Schrift? Wer genauer hinschaut, muss mit Nein antworten:
„Dieselbe Religion, die ihren Stifter lehren lässt: „Lieber eure Feinde, segnet die, so euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch verfolgen und beleidigen,“ hat schon in ihren Urschriften ein System ausgesuchter Martern für die Feinde der Gottheit verkündet und dieses System ganz konsequent in diesseitige Praxis übersetzt. Strafe ist das Heilmittel der Seele.“ (alle Zitate in Jodl, Geschichte der Ethik)
Wie sollen wir das Ganze verstehen?
Das Urchristentum entstand in Auseinandersetzung mit den Hellenen und ihrer philosophischen Ethik, die zur Ausbreitung des Kapitalismus nichts taugte. Die Christen glaubten, die Ethik der Heiden an Uneigennützigkeit noch übertreffen zu können. Das jedoch war mit der Konkurrenzfähigkeit des erfolgreichen Kapitalismus nicht zu vereinbaren.
Diese Beschädigung der wirtschaftlichen Tüchtigkeit wurde von den Urchristen nicht bemerkt, denn der Stand der Ökonomie war noch zu niedrig.
Erst als bei Beginn der Moderne die Naturwissenschaften sich entwickelten und die kapitalistischen Produktionsfähigkeiten in die Höhe schnellen ließen, hätten die Kapitalisten sich entscheiden müssen, böse Ausbeuter zu werden – oder eine andere Ethik einzuführen. Das war die Stunde der Aufklärer, die ohnehin die Religion kritisieren wollten und hier eine sachliche Grundlage vorfanden.
Jene Liebe ist am ethischsten, welche primäre Selbstliebe mit realer Nächstenliebe verband. Das war die Stunde von Mandeville, von Mephisto, ja sogar von Kant:
„Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zu Herrschen. Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur aber will, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden. Die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstands, woraus so viele Übel entspringen, die aber auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte … antreiben, verraten also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seiner herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischerweise verderbt habe.“ (Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Vierter Satz)
In Athen war Arbeit nichts Minderwertiges, im Gegenteil. Muße als Meditation der Denkenden aber war etwas Besseres als jene Schmäh- Arbeit als Strafe für angeborene Sünden. „Wer nicht arbeiten will, soll auch nichts essen.“ Diesen Satz kann man heute in christlichen und sozialistischen Büchern lesen.
Der englische Calvinismus übernahm die Erfolgs- und Leistungspflichten des Christentums, die zum amerikanischen Neoliberalismus wurden:
„Der Ausdruck „making money“ sei die stolzeste Errungenschaft der Amerikaner, weil sie nie wie andere Völker einem statischen Wohlstandsbegriff angehangen haben. Leider hätten Bettler, Schmarotzer und Erbschleicher die alten amerikanischen Tugenden ausgehöhlt. Das Grunddogma in der Millionärskommune lautet: kein Mitleid zeigen. Utopisten beschäftigen sich ausschließlich damit, frei zu sein und ihre Genialität triumphieren zu lassen. In Umkehr der jüdisch-christlichen Ethik wird Egoismus als Tugend, Altruismus als Schwäche eingestuft. Der Staat hat nur noch polizeiliche und militärische Aufgaben, keine sozialen.“ (Raeithel, Geschichte der nordamerikanischen Kultur)
Das deutsche Luthertum kannte keine gerechten Werke, mit denen der Gläubige die Seligkeit verdienen konnte. Er war auf Gnade und blinden Gehorsam angewiesen. Das war kein Mittel, um politisch und wirtschaftlich stark zu werden.
Die Deutschen sind eine Mischung aus realem Calvinismus und luftigem Luthertum. Entsprechend sind die „Kompromissbildungen“ der Ampelregierungen.
„Hart arbeiten“ ist das Motto der Sozis, keine Partei traut sich, die Muße der Athener zum Leitziel ihrer Sozialpolitik zu nehmen.
Die Christen schwanken zwischen – verbotener – Selbstliebe und – nutzloser – Fremdenliebe.
Schlichter könnte man sagen: Dialektische Konflikte sind nichts anderes als die allpräsenten Konflikte in einer vor Aktivität berstenden Wirtschafts- und Fortschrittsgesellschaft. Wenn diese nicht täglich aus dem Weg geräumt werden, wird die Gesellschaft untergehen und muss den Konkurrenznationen den Weg nach Oben frei machen.
Und was war mit der Ironie?
„Ironie soll darin bestehen, dass alles, was sich als schön, edel anlässt, hintennach sich zerstöre, und aufs Gegenteil ausgehe.“
Diese Gesamtzerstörung des Humanen ist der Kern der heutigen Krise. Erst müssen die Trumpisten alles zertrampeln, bis sie – nach dieser schrecklichen Katharsis – das wirklich Wahre und Gute zum Vorschein bringen.
Mit seiner Ironie zerstörte Sokrates alles dumpfe Wahre und Gute, das seine Schüler hatten lernen müssen, bis sie in der Lage waren, das wirklich Wahre und Gute aus ihrem Innersten hervorzuarbeiten.
Unsere „Kultur“ kennt Satiriker und Komödianten, aber keine mäeutischen Ironiker.
Fortsetzung folgt.