Tagesmail vom 05.05.2025
Die ERDE und wir. LXXIII,
welche Völker sind die klügsten, demokratischsten und humansten?
Scheint niemanden zu interessieren. Wettbewerbe gibt es in allen Dingen, nur nicht in den elementaren: den Disziplinen des Logos.
Der Logos besteht aus einem Satz und ist am 10. Dezember 1948 im Palais de Chaillot in Paris der ganzen Welt verkündet worden.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Geboren, aber nicht gestorben. Gibt es eine einzige Demokratie, in der die Würde des Menschen ohne Beschädigung von Geburt bis zum Tod erhalten bleibt?
Der Logos ist ein Ziel, das man anstreben soll, auch wenn es unerreichbar scheint.
Gute Demokratien sind jene, die dem Ideal nachstreben – auch wenn sie wissen, dass sie es nie ganz erreichen werden.
Und hier beginnt der Knick. Nach mehr als einem halben Jahrhundert der Logos-Annäherung sind selbst die besten Demokratien des Zieles überdrüssig geworden.
Dem Ziel haben sie den Rücken gekehrt und propagieren immer mehr – laut oder zwischen den Zeilen – das Gegenteil des Logos.
Logos ist eine Erfindung der Polis, der athenischen Volksherrschaft.
„Der Logos sucht die Wirklichkeit in vernünftiger Rede, in begrifflichem Ausdruck zutreffend wiederzugeben; der Mythos aber macht aus dem Begriff ein Bild, aus einem tatsächlichen Sachverhalt eine erdichtete Geschichte.“
Mythos ist eine Sache der Dichter oder Religionserfinder, die Erzählungen creieren, an welche die Menschen glauben sollen, obgleich sie nie real waren.
Der Logos hingegen will durch den täuschenden Schein des Mythos hindurchdringen zur Wahrheit und Wirklichkeit und eben in dieser Wahrheits- und Wirklichkeitssuche haben die Griechen ihre spezielle Begabung gesehen.
Diese Wahrheitssuche nannte Platon Lernbegier. Mit Lernbegier suchten die Griechen die vom Mythos verhüllte Wahrheit zu entdecken. Denn diese, die Aletheia, war ihnen das Unverborgene, das Aufgehellte oder Aufgeklärte.
Selbst die Natur beliebt sich zu verbergen, meinte Heraklit, also muss sie aufgedeckt werden, damit der Wissbegierige erkennt, wie sie ist.
Der Unterschied zwischen Mythos und Logos ist in den biblischen Religionen weitaus größer als bei den Heiden. Durch den Sündenfall ist der Mensch in den Zustand der Gottferne, der Gottesentfremdung, ja der Gottwidrigkeit geraten, sodass Gott als das „ganz Andere“ erscheint und sich deshalb nur im Naturwidrigen, im Wunder vollständig darstellt.
Anders bei dem Griechen: für ihn ist die Natur, das Weltall, der Kosmos etwas Göttliches und die staunende Bewunderung, mit der er die Welt betrachtete, war für ihn die einzige Hauptquelle seiner Religion. Er brauchte für seine Frömmigkeit keine Wunder. Die Naturordnung war selbst etwas Göttliches. Die Götter standen nicht jenseits der Welt, sondern waren innerweltliche Ereignisse.
Der Grieche empfindet die Natur und das Göttliche als etwas Verwandtes und fühlt sich als Teil davon. Deshalb gibt es für ihn keine unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch. Götter steigen zu den Menschen nieder und vermählen sich mit ihnen. Naturereignisse haben etwas Erotisches, was zusammengehört, muss wieder zusammenkommen.
Der Mythos ist etwas Elastisches, im Gegensatz zur unveränderbaren Offenbarung der Schrift. Niemals ist dem Griechen das Denken und die Erkenntnis als etwas Widergöttliches erschienen. Das Wort Luthers von der „blinden Hure Vernunft“ wäre im hellenischen Kulturkreis unmöglich gewesen.
In unserem christlichen Staat hingegen gibt es für eine lutherische Kanzlerin nicht die geringste Kluft zwischen Naturerkenntnis und Frömmigkeit.
Der Grieche hingegen sieht die Offenbarung gerade in der Natur und im Menschengeist, dem prometheischen Funken, durch den er Anteil hat am Göttlichen. Der Zweifel ist für ihn keine Schwäche, sondern gilt ihm als Merkmal geistiger Kraft:
„Nüchtern sei und lerne zweifeln, denn das ist des Geistes Mark!“ (Platon)
Der Logos ist die Vernunft des Denkens, der Rede und des Handelns. Das Handeln wird durch das Denken bestimmt. Je inniger die Verknüpfung von Denken und Handeln, umso größer die Weisheit (sofia) des Menschen. Philo-sofie ist die Liebe zur Weisheit. (alle Zitate bei Nestle: Vom Mythos zum Logos)
Was hat das Ganze mit uns zu tun? Alles, was bei uns unklar ist, die vielen lärmenden Begriffe, die stets neuen, nebligen Worterfindungen, sind Ergebnisse endloser Vermischungen aus griechischen und christlichen Elementen.
Nehmen wir die deutsche Demokratie. Sie will Werte haben, weiß aber nicht, welche. Denn die präsentischen Werte sind miserable, in sich widersprüchliche Mixturen aus Hellas und Jerusalem. Ein durchschnittlich Gebildeter weiß zwar, dass die Wurzeln der Demokratie in Athen wuchsen, sie aber heidnisch-hellenisch zu benennen, ist für das christliche Abendland ausgeschlossen. Also mussten im Verlauf der abendländischen Geschichte ständig schmutzige Kompromisse geschlossen werden zwischen Heiden und Frommen.
Das ist auch der Grund, warum Kompromisse in der deutschen Regierung oft derart jämmerlich sind, dass jeder sie anders versteht.
In seinem exquisiten Buch „Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum“ hat der Franzose Henri-Irénée Marrou die Entwicklung der modernen Begriffsverwirrungen plastisch beschrieben.
„Jede Erneuerung der klassischen Überlieferung in der Geschichte fällt zusammen mit einem Vordringen des Neuheidentums. In der Antike forderte die Bekehrung zum Christentum von einem gebildeten Menschen ein Bemühen um Überwindung. Er musste die vollkommene Eitelkeit, die Grenzen jener Bildung bekennen, von der er bislang gelebt hatte. Die Christen der ersten Jahrhunderte waren sich dieses Gegensatzes voll bewusst. »Was hat Athen mit Jerusalem, die Akademie mit der Kirche gemein? Was hat ein Christ mit heidnischen Irrtümern zu tun? Was hat er sonst noch nötig, wo er das Wort Gottes besitzt? All jene fremden und teuflischen Schriften muss man energisch von sich weisen.«“
Wer die Beschädigungen des klaren Denkens durch die schief gewickelten Kompromisse aufdecken wollte, müsste – pedantisch gesprochen – die beiden Kulturquellen des Abendlands, die griechisch-heidnische und die biblisch-fromme, genau studieren. Seine endlose Arbeit bestünde darin, die gegenseitigen „Verschmutzungen“ säuberlich zu trennen und die reinen Urelemente zu präsentieren.
Dann könnte er mühelos den griechischen Anteil des Demokratischen (oder Wissenschaftlichen) vom Anteil des christlich-jüdischen Offenbarungsdenkens trennen.
Die Urfragen wären dann ziemlich leicht zu beantworten: Denken wir heidnisch, wenn wir wissenschaftlich arbeiten – oder wollen wir die unerforschliche Majestät des christlichen Gottes heimlich entlarven?
Ist der magische Fortschrittsglaube der Moderne eine säkulare Angelegenheit oder eine hintergründige Aufdeckung der göttlichen Allwissenheit?
Ist die Absicht, den Mond und den Mars zu besiedeln, eine fromme Tat himmlischer Bewunderung oder eine anti-säkulare Entzauberung der biblischen Offenbarung?
Das bisher Gesagte ist der Moderne weithin unbekannt. Die Begriffe der Tradition sind weitgehend unbekannt. In der Politik gibt es die größten Streitigkeiten bei diesen umstrittenen Wörtchen wie rechts und links, ultrarechts oder extrem links.
Jetzt gibt es heftigen Streit um die juristisch geprüfte Wahrheit, die AfD sei eine stramm rechte Partei. Das versteht niemand. Die Begriffe rechts und links sucht man im Grundgesetz vergebens.
Was ist demnach die Würde des Menschen? Eine rechte, eine linke oder eine extremrechte oder extremlinke Weisheit?
Betrachtet man die beiden Urelemente des Abendlands, ergibt sich der Sinn von links und rechts ziemlich einfach. Rechts ist, idealtypisch gesprochen, die Sehnsucht nach den religiösen Fundamenten des Abendlands oder der Offenbarung, links die Suche nach den autonomen Begriffen der Heiden. Die einen benötigen das Fundament göttlicher Allwissenheit, die anderen die Verbindung zur Natur. Heute nennt man die Offenbarung Gegenaufklärung, die autonome Substanz die Aufklärung.
Wer bestimmt in einer Demokratie, was demokratisch ist? Die Gesellschaft, das Volk oder die nicht gewählte Justiz? Sind Gesetze die Erfindungen des Volkes oder eines bestimmten Expertenstandes?
Begleitet das Volk die intellektuelle Arbeit der Juristen, um den demokratischen Geist der Justiz zu bewahren?
Eine souveräne Demokratie hat die Aufgabe, das Ziel der Würde jedes einzelnen Menschen anzusteuern. Das ist ein ideales Ziel, doch alles Ideale wird heute abgelehnt, weil es unerreichbar sei. Hieße das nicht, die Bewahrung der Würde jedes Einzelnen könnte gar nicht mehr das Ziel unserer gemeinsamen oder zerstrittenen Politik sein?
Vor dem ersten Weltkrieg gab es einen heftigen Streit zwischen England und Deutschland. Kaum ein deutscher Gelehrter, der keine Streitschrift gegen Albion herausbrachte.
Den Kern dieser Schriften hatte Fontane auf den Punkt gebracht:
„Sie sind drüben schrecklich runtergekommen, weil der Kult vor dem goldenen Kalbe beständig wächst: lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und dabei so heuchlerisch: sie sagen „Christus“ und meinen Kattun.“ (Der Stechlin)
Das sagte ein märkischer Pastor, der in seiner Jugend die „halbe Vergötterung“ Englands mitgemacht hatte und durch den zunehmenden Krämergeist abgestoßen war.
In anderen Worten: England denke christlich und handele unchristlich, also egoistisch. War das nicht unverfrorene Heuchelei – oder cant?
War calvinistische Frömmigkeit nicht zur absoluten Heuchelei verkommen, doch die Engländer taten, als seien sie noch immer die Frömmsten der Frommen?
Die Engländer spürten den „heuchlerischen“ Abstand zwischen idealem Ziel und realer Politik, doch zu ihrer Verteidigung zitierten sie ein biblisches Wort:
„Ich mache dich zum Licht der Nationen; / damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.“
Wer von Gott persönlich berufen ist, der kann jeden Abstand zwischen Ideal und Realität überwinden. Luther hätte gesagt: dein Glaube hat dich gerettet.
Die Engländer aber waren keine Lutheraner, sie waren Calvinisten. Calvin behauptete, jeder Gläubige sei von Gott berufen. Schon vor der Geburt des Menschen hätte Gott entschieden, ob er selig werde oder in der Hölle lande. Seligkeit ist ein Geschenk Gottes an den Menschen – ohne Werke des Gesetzes, wie Luther behauptete.
Bei Luther konnte der Einzelne auch nichts tun, um selig zu werden, aber dieses Nichtstun konnte er ausgleichen durch Glauben. Glauben war das demütige Hinknien vor Gott, um Gnade zu erflehen. Der Sterbliche konnte keine angemessenen Werke vollbringen, um vor Gott aufzutrumpfen. Außer Niederfallen vor dem Schöpfer und Bitten um unverdiente Gnade blieb dem Einzelnen nichts.
Der Unterschied zwischen selbstbewussten Calvinisten (wenn ich berufen bin, wird man das an meinen irdischen Erfolgen sehen) und zerknirschten Lutheranern führte zu zwei völlig verschiedenen Polit-Arten der westlichen Völker.
Die prädestinierten Insulaner eroberten die Welt mit ihrer energischen Demokratie, die Demutsdeutschen hatten keine Ahnung von selbstbewusster Politik und gehorchten ihrer von Gott präsentierten Obrigkeit.
Auch das ist ein Streitpunkt zwischen deutschen Christen. Die Einen behaupten, Christen hätten in der schmutzigen Politik nichts zu suchen und sollten sich dem Himmelreich widmen, die Anderen sind längst von England angesteckt und halten sich bestens geeignet für erfolgreiche Politik.
Woran kann der Calvinist seine Erwählung feststellen? An seinen irdischen Erfolgen. Ohne calvinistische Wurzel gäbe es keinen Neoliberalismus, der an seinem Money erkennen kann, ob er Gottes Erwählter ist oder nicht.
„Der Calvinismus betont den Standpunkt, dass der Erfolg einer Arbeit ihre Bestätigung durch Gott darstelle, denn Gott würde keiner Sache helfen, die er missbilligen müsste. Allein der Erfolg rechtfertigt das Unternehmen. Wem Gott erlaubt, Besitz zu ergreifen, der ist im Recht. Die starke Sache ist die gerechte Sache.“ (Thomas Carlyle)
Hier sind die fundamentalen Unterschiede zwischen englischer und deutscher Ökonomie klar zu erkennen – auch wenn sich beide Länder mittlerweilen angenähert haben.
Die deutsche CDU wusste noch nie, welche Sozialpolitik sie für christlich halten soll. Die katholische Freiburger Schule war ein Gemauschel aus Bergpredigt und wenigen sozialen Fragmenten.
Trump wäre am liebsten eine Personalunion aus katholischer und calvinistischer Theokratie. Ästhetisch hat er es bereits geschafft. Wir wünschen gottgefälliges Schaffen, Donald, hoffen aber, dass deine Untertanen dich zum Teufel jagen werden.
Fortsetzung folgt.