Tagesmail vom 02.05.2025
Die ERDE und wir. LXXII,
Eine riesige Gruppe der Notleidenden dieser Erde – so berichten einige Gazetten – sollen sich Washington nähern, um bei dem amerikanischen Messias vorzusprechen.
Die verwahrloste Gruppe will den Herrn der Welt bitten, das Elend ihrer Kinder zu heilen oder heilen zu lassen. In Amerika angekommen, sprach Trump zu den unübersehbar vielen Notleidenden:
Lasst zuerst unsere amerikanischen Kinder satt und pumperlgsund werden, denn es ist nicht recht, unserem erwählten Nachwuchs das Brot wegzunehmen und euch lumpigen Hunden aus aller Welt zu geben. Kennt ihr nicht das Motto unserer unbefleckten Regierung:
America first – dann kommt lange, lange nichts, erst am Schluss tauchen die „Hunde“ auf, so nennen wir die kapitalistischen Verlierer dieser Welt.
Darauf erwiderten die Sprecherinnen der Gruppe, es waren vor allem Mütter, die ihren Kindern helfen wollten: Gewiss, Mr. Trump, auch die hungerleidenden Kinder der Welt leben nur von den weggeworfenen Lebensmitteln der satten Kinder.
Der verblüffte Herr der Welt antwortete:
Um dieses eures Wortes willen, das unsere Herrschaft über die Welt anerkennt, ohne zu jammern und zu rebellieren: geht hin in unsere vollen Supermärkte und lasst euch satt füttern. Bleibt etwas übrig, nehmt es mit in eure Länder und lasst es euch gut gehen. Wir werden dafür sorgen, dass unsere Hilfsorganisationen, die wir aus pädagogischen Zwecken eine Zeit lang stillgestellt haben, wieder aktiv werden und euch mit unseren Abfällen durchfüttern.
Da gingen die Mütter hinweg zu ihren Kindern und siehe: diese hungerten und litten nicht mehr. Und ergo hatten sie keinen Zweifel mehr: das muss der Herr der neuen Regierung der Welt gewesen sein, der die Menschheit von allen Plagen erlöst – wenn sie Ihm willig folgen.
In der Sprache der Parallelstelle: „Oh liebe Mütter, euer Glaube ist groß, euch geschehe, wie ihr gebeten habt. Und deren Kinder waren geheilt von jener Stunde an. (Matth 15, 28)
Auf dem evangelischen Kirchentag sollte die Exkanzlerin diese „eigentlich spektakuläre“ Bibelstelle den gespannt lauschenden Besuchern erklären.
Eigentlich? Das unscheinbare Wörtchen gehört zu jenen Begriffen der deutschen Moderne, die das Ursprüngliche so umnebeln, dass man nicht mehr weiß: verstärkt es den Ursinn des heiligen Textes – oder schwächt es ihn? (Sueddeutsche.de)
„Die 70-Jährige ist Pfarrerstochter, sie kennt sich mit der Bibel aus, war in den vergangenen Jahren oft auf dem Kirchentag zu Gast.“
Bevor Merkels Taten untersucht werden, wird sie bereits prophylaktisch gelobt: sie kenne die Bibel, mit einem Bibelwort könne man sie nicht irre machen.
Offenbar ist der Schreiberin unbekannt, dass es seit Beginn des Christentums eine Unmenge Auslegungsarten der Schrift gegeben hat, und es sie noch immer gibt. Mit solchen Fisimatenten geben Deutsche sich nicht ab. Sie haben ihre Fachleute – zu denen Pastorentöchter gehören – und die wissen genau, was der Allmächtige gemeint hat.
„Merkel findet, dass die Verantwortlichen des 39. Kirchentages eine Stelle ausgesucht haben, die „eigentlich spektakulär“ ist: „Jesus lernt hier was von der Frau, die ja sonst in dieser Zeit dramatisch diskriminiert“ worden sei. Und diese Frau habe sich angesichts einer Autorität nicht unterwürfig gezeigt, sondern „hat Widerwort gegeben, weil sie fand, dass sie ein Anliegen hat, das so wichtig ist, dass sie nicht aufgeben wollte“. Das Leben der Tochter werde so durch den mutigen Kampf der Mutter gerettet.“
Zum zweiten Mal „eigentlich“. Wir scheinen uns noch immer in der Epoche der philosophischen Eigentlichkeit zu befinden. Wer dieses Wörtchen in wichtigen Debatten nicht unauffällig einfügt, hat schon verloren.
Hat die Mutter dem Herrn „Widerwort gegeben“? Natürlich nicht, sie hat ihn nur pragmatisch in ihrem Sinn interpretiert: „Gewiss, Herr“, du hast ja Recht, dass die Notleidenden – die Hunde – von den Brosamen der Kinder zehren.
So oder so ähnlich formulieren heute die Hayeks und seine neoliberalen Kollegen: der Erfolg entscheidet, und dieser hängt ab von „Zeit und Zufall“. (Prediger 9, 11 ff)
Es ist gut, dass die Armen nicht genauer wissen, weshalb sie zu den Verlierern gehören, sie müssten sich sonst endlos wegen ihrer Unfähigkeit schämen.
Mütter tun alles, um ihre Kinder zu retten. Sie schmeicheln sogar den Erlösungsphantasien selbsternannter Heilande, auch wenn sie dabei ehrlos buckeln müssen.
Wenn du also ein guter Sohn Gottes sein willst, hat die Mutter unterschwellig formuliert, so kannst du es jetzt beweisen. Die Mutter hat dem Herrn weniger vertraut, als Ihn an seinen Sprüchen gemessen. Beweis es, du göttlicher Sprücheklopfer oder ich werde dich mein Leben lang schmähen.
Einen solchen Erpressungsvorgang kann man nicht Vertrauen nennen. Merkel jedoch will auf Vertrauen hinaus: in der Flüchtlingsfrage habe sie genauso gehandelt wie die Mutter im Gleichnis. Womit sie nebenbei zugleich gesagt hat, dass sie die Mutter aller Deutschen ist.
Aber stopp, es geht ja gar nicht um das Vertrauen der Deutschen zu ihrer „Mutter“, sondern das Vertrauen dieser Mutter zu ihnen. Oder etwa beides?
Auf jeden Fall kennt sie diese prekäre Situation: man „schreibt vorher schön alles in Koalitionsverhandlungen auf, wie man sich das vorstellt“. Dann komme alles völlig anders, … „da haste nichts aufgeschrieben und vorweg gedacht“. In solchen Situationen solle man sein Herz in die Hand nehmen und anderen Menschen vertrauen.“
Ist Vertrauen nur eine Notlösung in schwierigen Zeiten? In normalen Zeiten hat Merkel ihre Untertanen hingegen nur vertrauenslos regiert? Hat Merkel regiert, wie man Maschinen auf Knopfdruck zum Laufen bringt?
Jetzt kommt die Mitte ihrer Botschaft, die entlarvt, dass Muttern eine Predigt hält.
„Sie könne nur jedem raten, nicht in ein Entweder-oder zu verfallen, sondern in ein Sowohl-als-auch. „Wichtig ist nicht zu sagen: Es hat sowieso alles keinen Sinn. Sondern mit dem Gottvertrauen, das uns die Bibel geben kann, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen.“
War Deutschland unter Merkels Regie etwa eine fromme Obrigkeit, die nur mit Gottesvertrauen funktionierte? Haben das alle Deutschen gewusst? Auch die weniger Frommen, Ungläubigen und Gottlosen, für die Demokratie eine Erfindung autonomer Menschen ist?
Jetzt zeigt sich, was Merkel meinte: sie war es, die ein Wunder vollbracht hat. Sie hat ein „scheinbar Unmögliches“ möglich gemacht. Offensichtlich hat sie die Deutschen als so verstockt und inhuman eingeschätzt, dass sie ihrem JA zu den Flüchtlingen nie zugestimmt hätten.
Also entschloss sie sich zu einem übernormalen Vertrauen in ihre Untertanen und siehe da: das Wunder kam an und veränderte die Gottlosen in vertrauensvolle BürgerInnen, die ihrer geliebten Kanzlerin widerstandslos folgten.
Mit einem Wunder hat Merkel die sonst inhumanen Deutschen in hilfswillige Menschenfreunde verwandelt. Damit sie nicht sagen muss: ich habe das geschafft, sondern wir haben das geschafft. Woher hatte sie den Eindruck, dass ihre WählerInnen in normalen Zeiten so menschenfeindlich wären?
Hatte sie noch den feindlichen Blick der Ossifrau gegenüber den kaltherzigen Wessis? Oder den Blick der frommen Pastorentochter gegenüber einer Horde kapitalistischer Gottloser?
Nebenbei: mit Politik haben diese Psychospielchen nichts zu tun. Pläne und Entschlüsse in einer Demokratie müssen öffentlich durchstritten – und wenn möglich – abgestimmt werden.
Hinterher zu kommen, um zu erklären: ich habe gedacht, ich habe nicht gedacht, ist der Führungsstil einer einsamen Gottesmagd, die sich mehr auf ihren himmlischen Herrn beruft als auf das nüchterne Urteil öffentlicher Debatten.
Nicht ausgeschlossen, dass die Deutschen mehrheitlich Nein gesagt und die vielen Flüchtlinge nicht eingelassen hätten. Das aber hätte nicht an ihrer Misanthropie gelegen, sondern am Unmut einer nicht ausreichend informierten Gesellschaft.
Wer kannte die Lage der Flüchtlinge in der Welt? Wer wusste, wie viele von ihnen auf der Flucht waren? Hier hätte die Regierung schon längst sorgsam informieren müssen, um zu sagen: Okay, diesen Flüchtlingsstrom müssen wir jetzt einlassen, in Zukunft aber muss die Notlage der Armen in der Welt besser erfasst und in Kooperation mit allen aller Völkern geplant werden.
Flüchtlingsprobleme sind globale Probleme, die nur in globaler Zusammenarbeit gelöst werden können. Merkel ist keine politische Denkerin, die weit genug in die Zukunft blickt, um die Gegenwart zu verstehen. Sie sorgt höchstens dafür, dass die Lok der nationalen Politik im selben Tempo weiterfährt, wie sie bislang durch die Lande geruckelt ist.
Dass das Wirtschaftswachstum immer weiter wächst, dass Deutschland immer an der Spitze der reichen Nationen steht: das verstand sich von selbst.
Dass es auch darbende Menschen rings um die Erde gibt, die als Abfall der gigantischen Fortschrittsmaschine ausgebeutet werden, das gehört nicht zum Bewusstsein einer lutherischen Pastorentochter, die in einem kommunistischen Land aufgewachsen ist.
Wie viele Bücher über Neoliberalismus hat sie studiert? Kennt sie den Kampf zwischen Rüstow und Hayek?
„Der Neoliberalismus leugnet zwar historische Gesetze, vertraut aber zugleich auf das blinde Wirken eines sozialen Handelns.“ (in Brodbeck, Faust und ´die Sprache des Geldes)
Kennt sie die Ansicht der in Deutschland hochgerühmten „Klassiker“ Hegel und Goethe über Wirtschaft:
„Am Ende konvergieren hier Goethes und Hegels Anschauungen darin, dem Moralischen keine eigenständige Rolle in der Politik und der Geschichte zuzubilligen. Eine moralische Idee der Gerechtigkeit kann den Anblick der wirklichen Geschichte mit all ihren negativen Momenten nicht ertragen. Hegel … wendet sich dagegen, die Wirklichkeit der Welt moralisch läutern zu wollen.“
Kennt Merkel diese Äußerungen der großen Deutschen, die heute noch immer das Weltbild der Ultrareichen bestimmen?
Ist sie der Meinung von A. Smith: „Es ist gerade die Ungleichverteilung, die Trennung von Arm und Reich, die den Wohlstand aller fördere.“?
Als Christin, die in sozialistischen Verhältnissen aufgewachsen ist, hat sie sich offenbar die Meinung erarbeitet, den Kapitalismus in jeder Hinsicht überwunden zu haben: ethisch in christlicher, ökonomisch in marxistischer Sicht.
Über all diese philosophischen Probleme hat Merkel kein einziges Wörtchen verloren. Solche Debatten verachtete sie. Natürlich war sie damit nicht allein, aber sie hätte diese verhängnisvollen Zirkel durchbrechen müssen.
Merkel weiß, wie man sich die Sympathien der Deutschen erhält: Voller Gottvertrauen in die Maschinerie des Kapitalismus, mit verstecktem Stolz auf die Fähigkeiten einer erfolgreichen Nation und mit entwaffnendem Lächeln einer alles verzeihenden Mutter.
Nein, Radikalität ist nicht der Schlüssel ihres Erfolgs. Man muss sich durchwühlen. Wenn’s klappt, ist es gut, wenn nicht, war sie nicht alleine schuld.
Plötzlich heißt es: Christen halten sich aus der Politik heraus. Sie halten sich an das Wort: mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Das ist nur die Art der Lutheraner, nicht die der handfesten englischen Calvinisten. „Wittenberg wollte nicht wie Genf die Hochburg eines Gottesstaates sein. Luther war zutiefst davon durchdrungen, dass diese Welt nicht Gottes Reich sei. Sein eignes deutsches Volk war ihm Objekt christlicher Erziehung, aber nicht Subjekt einer anmaßenden religiösen Behauptung.“ (Martin Dibelius, Britisches Christentum, britische Weltmacht)
In England regierten weltbeherrschende Calvinisten, in Deutschland jene Lutheraner, die nur ihrer Obrigkeit gehorchen wollten.
Doch das Wichtigste am Schluss:
„Sie sagt: „Für mich war Radikalität nicht der Königsweg meiner Politik …“ Die sich, ihrer Art gemäß, demnächst von Wissenschaftlern erklären lassen will, was es aus deren Sicht bedeutet, dass Jesus so viel von Frauen gelernt hat. Ihr Lächeln dabei hat etwas Seliges.“ (TAGESSPIEGEL.de)
In Mutters seligem Lächeln schwimmt Deutschland seiner Zukunft entgegen.
Fortsetzung folgt.