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Die ERDE und wir. LXVII

Tagesmail vom 07.04.2025

Die ERDE und wir. LXVII,

Zeitenwende.

„Die Deutschen in der Zeitenwende. Ich hatte mir nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht vorstellen können, dass wir wieder Kriegsangst haben müssen“, so Anne Will.

Wer auf sich hält, entdeckt plötzlich eine rätselhafte Zeitenwende am Horizont. Schwatzrunden sind nichts dagegen. Geriet Anne unter die Rückwärts-Prophetinnen?

Die Zeit wendet sich. Da sie angeblich einlinig verläuft, müsste Wende bedeuten: anhalten, umdrehen und retour in die Vergangenheit marschieren. Ende des Fortschritts.

Hätte Anne Recht, wäre dies der Tod von Silicon Valley; die gesamte Zukunftstechnologie wäre hinüber.

Aber die Vergangenheit kennen wir doch – oder könnten sie jedenfalls kennen! Hieße das nicht, wir gerieten wieder in bekannte Gewässer?

Was ist besser: das Bekannte oder das Unbekannte?

Die Bewunderer des Fortschritts wundern sich über die Frage. Für sie ist das Unbekannte immer besser.

Die Experten des Vergangenen sind ratlos. Da sie das Neue und Zukunftsträchtige nicht kennen: wie sollen sie beurteilen, ob das Vergangene oder das Kommende besser sein soll?

Wir wissen nichts. Just dieses Nichtwissen macht das Wort „Zeitenwende“ zu einem mysteriösen Schicksalsbegriff – bei den Deutschen.

Wenn wir das Vergangene bereits kennen, müssten wir dann nicht in der Lage sein, es besser zu bewältigen, weil wir begangene Fehler korrigieren könnten?

Wäre das kein echter Fortschritt, weil wir das Leben auf Erden besser und humaner gestalten könnten?

Für KI-Fans wäre das ein unerträglicher Rückschritt, denn wir müssten auf alle Fortschrittsmerkmale früherer Zeiten verzichten. Ohne Autos über die Alpen? Ohne Fahrräder durch den Grunewald? Igitt!

Was tut Trump? Vollführt er eine Zeitenwende, weil er den Fortschritt seines Freundes Musk im globalen Zoll versenkt?

Hatte man uns nicht gepredigt, globale Weltwirtschaft würde stets zum Fortschritt führen? War das kein Täuschungsmanöver der Ökonomen, jener trickreichsten Täuscher unter den Wissenschaftlern, die so exakt sein wollen wie Physiker, aber so unexakt sind wie schwatzhafte Geisteswissenschaftler?

Von Täuschung reden wir, weil steigendes Wirtschaftswachstum und stets wachsende Konkurrenz auf Dauer nicht zusammenpassen? Irgendwann müssen die beiden Luftblasen sich gegenseitig zerfetzen?

Konkurrenz kann nie ewig fortschreiten, weil Natur endlich ist, seltene Erden ausgehen, Tiere und Pflanzen ausgerottet werden.

Einspruch, rufen die Futuristen. Wunden der Gegenwart werden durch Wunder der Zukunft ausgeglichen.

Aha, könnt ihr das im Hier und Jetzt schon beweisen – oder muss man an eure futuristischen Wunder glauben?

Ja? Dann gilt auch für euch das Motto des Mittelalters: wWir wissen nichts, also glauben wir? Ist Elon Musk euer Thomas von Aquin?

Behauptet ihr, Trump sei durch seine Zollorgien vorangeschritten oder wird er mit ihnen auf das Niveau des Zweiten Weltkriegs zurückfallen?

Hören wir, was die jungen Genies wollen:

„Das alte Betriebssystem des Staates, die Bürokratie, wird gegen ein neues ausgetauscht, die digitale Verwaltung. Die ist billiger, effizienter und vor allem ergebnisorientiert. Eine Bürokratie verwaltet Regeln und Erlaubnisse. Eine digitale Verwaltung ermöglicht Prozesse und Kontrolle.“ (Sueddeutsche.de)

Das alte Betriebssystem, genannt Bürokratie, soll abgeschafft werden zugunsten einer neuen, sogenannten digitalen Verwaltung. Die soll billiger, effizienter und erfolgreicher sein. Das alte System verwalte nur Regeln und Erlaubnisse, das neue aber – die digitale Verwaltung – indem es Prozesse und Kontrolle ermögliche.

Was ist besser? Alte, gleich bleibende Regeln oder neue Prozesse, die kontrolliert werden müssen?

Merkwürdig, dass auch das Neue und Digitale als Verwaltung bezeichnet wird. Klingt Verwaltung nicht verstaubt und langweilig? Das Neue hingegen soll ein futurischer Prozess sein?

Doch weiter:

„Das wurzelt nicht nur im Denken, sondern vor allem in den Erfahrungen der neuen Machthaber. Nicht nur Donald Trump und Elon Musk, sondern auch Leute wie Handelsminister Howard Lutnick, Energieminister Christopher Wright oder Bildungsministerin Linda McMahon sind oder waren Geschäftsleute. Der Staat mit seiner Bürokratie, das war für sie immer vor allem ein Bremsmechanismus, der die freie Marktwirtschaft mit Kompromissen im Sinne des Gemeinwohls daran hinderte, sich nach dem Leistungsprinzip voll zu entfalten.“

Ist Denken erfahrungslos – wie bei Platon im Reich seiner abstrakten Ideen?

Reale Erfahrungen hingegen müssten auf Denken verzichten – wie bei den Pragmatikern?

Neuerer wollen vom Staat nicht gebremst werden, der – da er die Marktwirtschaft gerecht gestalten muss – das Leistungsprinzip sich nicht entfalten lassen darf.

Auf der einen Seite steht der Staat mit seiner ärgerlichen Brems-Bürokratie, auf der anderen die freie Wirtschaft mit ihren ungebremsten Leistungsmechanismen.

Moment! Wo bleibt denn das Wort Demokratie? Geht es nicht um die Frage: Mit welcher Ökonomie schafft es die Demokratie, ihre Bevölkerung am erfolgreichsten und gerechtesten zu versorgen?

Demokratie ist doch immer noch die Erfindung der Griechen, oder?

Nun gibt es bei den Historikern – den Experten der Vergangenheit – den alten Streit, ob Kapitalismus, der Widerspruch von mammonistischer Gier und gerechter Versorgung, bei den Griechen überhaupt möglich war. Selbst Marx antwortete: Nein. Kapitalismus ist die Erfindung neuzeitlicher Wissenschaften, die von Galilei und Newton gelernt haben. Die Griechen kannten dieses Gesetz nicht.

Eine naturwissenschaftliche Ökonomie entfaltet sich nach Regeln der moralfreien Naturwissenschaft. Subjektive Moral hingegen ist Sache altmodischer Moralschwätzer, die auf dem Gebiet wissenschaftlicher Akkuratesse und Objektivität nichts zu suchen haben.

Doch jetzt wird’s kompliziert. Wir haben es mit zwei Systemen zu tun, die ganz konträr funktionieren. Was heutzutage als Staat bezeichnet wird, ist das vom Menschen ersonnene Gerüst gemeinsamer Kooperation mit den Regeln der Wahl und Abwahl, der Gleichheit jeder Meinungsäußerung usw.

Ist diese Kooperation verlässlich konstruiert, sodass die Menge zufrieden ist, gibt es keinen Anlass, diese Demokratie zu reformieren. Sie bleibt bis heute, wie sie in Athen gewesen ist.

In diesem statischen System aber wuchert nun ein ganz anderes dynamisches Element, das die Stabilität der Demokratie ständig angreifen muss: die endlos wachsende Wirtschaft, welche die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer machen muss.

Das Motto der Erfolgreichen nennt man heute Erfolg oder Leistungsprinzip, das Motto der Gerechten moralische Willkür.

Nun sollte klar sein, warum von Demokratie nie die Rede ist: man will die Griechenfans nicht düpieren. Deshalb spricht man vom „Staat“ , der die Erfolgreichen bremst und nicht von einem moralischen Wirtschaftssystem.

Eine stabile Demokratie ist theoretisch eine ewig sich gleich bleibende statische Angelegenheit, platonisch gesprochen: eine Idee.

Eine dynamische Wirtschaft hingegen will sich ständig verändern, vorwärts schreiten und die Welt erobern.

Die Befürworter des ewig steigenden Erfolgs haben es sich nun leicht gemacht und nennen die Statik der Demokratie – Staat. Staat ist immer etwas Schlechtes, er bremst ständig, was Fortschritt sein müsste.

Staat ist zum Schimpfnamen der Demokratie geworden. Mit diesem Tarnbegriff gelang es naturwissenschaftlichen Ökonomen, die archaische Demokratie allmählich zu vergiften und das moderne Zusammenleben unter die Knute der Maschinen zu zwingen.

Gerechtigkeit ist für die „Erfolgreichen“ – Ungerechtigkeit geworden:

„Dogmatische Gleichheit, Verteilung des Wohlstandes, eine Sicherheit vor den Unwägbarkeiten des Lebens. Das alles sind in dieser Sicht nicht nur lästige Relikte, sondern Formen der Ungerechtigkeit, die dem Leistungsprinzip entgegenstehen … Geschäfte beruhen nicht auf Idealen, sondern auf Resultaten.“

Hier stehen wir vor dem uralten Streit zwischen „Idealisten“ und „Realisten“.

Idealisten wollen ihr irdisches Leben so rein und perfekt gestalten wie das platonische Reich der Ideen.

Realisten kümmern sich nicht um Ideale, sondern wollen maximalen, aber handfesten Erfolg.

Beide Systeme kämpfen während der gesamten abendländischen Entwicklung um Vorherrschaft. Die Kirchen setzten sich für Theorien ein, die möglichst perfekt angestrebt werden sollten; (diese Theorien allerdings entnahmen sie ihren heiligen Büchern).

Als kurz nach der Renaissance die exakten Naturwissenschaften erfunden wurden, prägte ihr ungeheuerer Erfolg das gesamte Denken des Abendlands, sei es der jetzt führenden Naturwissenschaftler, sei es der altmodischen Geisteswissenschaftler, die sich grämten, von der Exaktheit der neuen Naturwissenschaften in den Schatten gestellt zu werden.

Das ist das methodische Problem bis heute. Naturwissenschaften benötigten keine Moral, um ihre Erkenntnisse zu erzielen, Geisteswissenschaften aber waren auf autonomes Denken und subjektives Entscheiden angewiesen.

Selbst das ZDF hat in der „Zeitenwende“ den Aufklärer Kant entdeckt, dessen Motto bekanntermaßen lautete: Sapere aude. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Ist bei Kant im Verstand des Menschen etwa Gott eingebaut? Das ZDF wollte den kantischen Imperativ als Grundlage der amerikanischen Demokratie vorstellen. Gleichwohl war ständig von einem Gott die Rede, als ob ohne IHN kein bisschen demokratisches Leben möglich wäre.

Gewiss, in der Philosophie gab es verschiedene Götter, auch solche, die identisch sein sollten mit der Vernunft des Menschen. Man sprach von Deismus, der im konträren Gegensatz stand zum religiösen Theismus, der den Menschen alles despotisch vorschrieb.

Was wurde nun zur Grundlage der amerikanischen Demokratie: der Deismus, der die Autonomie des Menschen bewahrte – oder der Theismus, der identisch war mit dem eifersüchtigen Gott der Heiligen Schrift und dem Menschen alles befahl?

Die naturwissenschaftlich und amoralisch sein wollende Ökonomie – oder der Hayek’sche Neoliberalismus – fühlte sich nicht nur identisch mit den Gesetzen der Natur, sondern auch mit den Befehlen der Gottheit.

Jedes Ergebnis dieser Ökonomie war nicht nur exakt, sondern auch – in göttlichem Sinne – moralisch und unangreifbar. Jedes soziale oder sozialdemokratische Attackieren der wirtschaftlichen Erfolge der Neoliberalen war sinnlos, unwissenschaftlich und dumm.

Anne Wills Zeitenwende ist das Produkt menschenübergreifender Schicksalsmächte: unangreifbar, methodisch und religiös abgesichert.

Eine echte autonome Zeitenwende hingegen werden wir nur erreichen, wenn wir unsere Handlungen moralisch durchdenken und im Sinne der ganzen Menschheit in globaler Gerechtigkeit gestalten.

Neue Worte und Begriffe hingegen brauchen wir nicht: diese wollen das Vergangene nur verdrängen, nicht aber aufarbeiten, um den Menschen ein vitales Leben auf Erden zu ermöglichen.

Fortsetzung folgt.