Tagesmail vom 14.03.2025
Die ERDE und wir. LX,
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, …. Sie haben alle individuelle Ziele, aber das Ergebnis ist letztlich etwas, was keine bestimmte Person erwartet oder geplant hat.“ (Marx)
Ihre eigene Geschichte, aber nicht aus freien Stücken? Müssten sie dann ihre Geschichte nicht erdulden und erleiden?
Die Geschichte der Sklaven wäre dann „ihre eigene Geschichte – aus freien Stücken?“ Die Kinder der Sklaven könnten dann niemals das gemeinsame Ziel der Freiheit haben, sondern dürften erst nach ihrer Befreiung an individuelle Berufe denken?
Und wie passt dieses Wort zum anderen: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“? Sein sind die allgemeinen materiellen Verhältnisse – Bewusstsein ist die Abkürzung für die Freiheit des individuellen Menschen. Wie kann hier Freiheit entstehen, wenn alles kollektiv bestimmt ist?
Die knochenbrechende Logik von Marx wurde zur Grundlage der knochenbrechenden Freiheit des späteren Marxismus – somit zur Kollektiv-Verwirrung der Arbeiterbewegung oder der politischen Linken in Deutschland.
Deutsche Proleten fühlen sich am wohlsten, wenn sie an der Hand christlicher Mentoren die beschützte Nummer zwo werden können. Das sieht man heute an dem SPD-Vorsitzenden Klingbeil, der den trotzigen Grünen ins Stammbuch schreibt:
„Wenn die Geschichte anklopft, dann muss man die Tür öffnen.“
Geschichte ist hier ein Synonym für das Sein, das die Lebensgestaltung des individuellen Bewusstseins vorherprägt. Meldet sich die Geschichte selbst höchstpersönlich an, gibt es keine individuellen Richtungsentscheidungen. „Merz – komm her, wir vertragen uns wieder; du trägst den Schlüssel der Gesamtgeschichte in deinem Gebetsbuch.“
Mentor der Deutschen auf der nächsthöheren Ebene der Weltgeschichte sind die Amerikaner. Welch wohliges Gefühl für die Berliner, in Washington unterzuschlüpfen und sich sagen zu lassen, wohin die Spree fließt.
Doch jetzt ist alles aus.
Karl Löwith hat Marx auseinandergenommen. Doch wer kennt Löwith, der – auf der Flucht vor den Nazis – mit der transsibirischen Eisenbahn quer durch die Sowjetunion nach Wladiwostok fuhr und dann mit dem Schiff nach Japan übersetzte? Mit Gadamers Hilfe kehrte er nach dem Krieg zurück und lehrte in Heidelberg.
„Man fragt sich, ob Marx sich jemals die menschlichen, moralischen und religiösen Voraussetzungen seiner Forderung: durch die Umschaffung des Menschen eine neue Welt zu schaffen, klar gemacht hat. … Der Keim dieses neuen Menschen ist nach Marx das elendeste Geschöpf der Proletarier, der bis zum Äußersten sich selbst entfremdet ist, da er sich um Lohn an den kapitalistischen Besitzer der Produktionsmittel verkaufen muss. Von einem allzu menschlichen Mitleid mit dem Einzelschicksal des Proletariats weit entfernt, sieht Marx im Proletariat das weltgeschichtliche Instrument zur Erreichung des eschatologischen Zieles aller Geschichte durch eine Weltrevolution. Das Proletariat ist gerade darum das auserwählte Volk des historischen Materialismus, weil es von den Privilegien der herrschenden Gesellschaft ausgeschlossen ist, Die Philosophie des Proletariats als eines auserwählten Volkes wird im Kommunistischen Manifest entwickelt, einem Dokument, das im Ganzen seiner Konstruktion eine eschatologische Botschaft und in seiner kritischen Haltung prophetisch ist. Dieser Kampf durchzieht, bald offen, bald versteckt, die ganze überlieferte Geschichte.“
Mit schlichten Worten: die Weltgeschichte wird bestimmt von der göttlichen Heilsgeschichte. Die Säkularisierung oder die „Entzauberung der Welt“ ist enthalten in der gesamten Weltpolitik. Um wirklich zu verstehen, was auf Erden geschieht, muss man Gottes Willen kennen.
Insofern gibt es keinen Fortschritt, der aus dem Heilsgeschehen herausführte. Wohl ändern sich die Begriffe, die Maschinen übernehmen das Heil, die Superreichen werden zu messianischen Propheten – ansonsten bleibt aber alles gleich.
Hefte raus: wir schreiben spontan einen geschichts-religiösen Test.
Thema: Johannes 1, 1 ff:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.[1] 2 Dasselbe war im Anfang bei Gott. 3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.[2] 4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“
Fragen: wo halten sich Trump und Musk in diesem Text versteckt? Wo lauert die Bande von Silicon Valley?
Nachkriegsdeutsche können diesen Test nicht bestehen. Sie haben sich auf die Herstellung von Dingen geworfen, mit denen sie bislang die Welt überfluteten und viel Geld verdienten.
Doch jetzt hapert’s, nämlich immer dann, wenn Triumph-Wirtschaftler mit eisernen Gesichtern am Mikrofon stehen, um vor allem zwei Begriffe zu soufflieren: Interventionen und Subventionen. Und: sollten wir nicht in der Lage sein, einen Feiertag auf dem Altar des Wirtschaftsheils zu opfern, dann wird’s mit uns abwärts gehen – so ihre Prophetie.
Was, um Himmels willen, soll aus Deutschland werden, wenn unser bisheriger Weltmentor uns aus unseren ökonomischen Kinderwägen und rostigen Panzern wirft? Welch grauenhafte Botschaft: wir Deutsche werden selbständig!
Wäre es nicht ohnehin besser, die rasanten Wirtschaftsmaschinen langsamer laufen und weniger produzieren zu lassen, um die Natur nicht zu überfordern – oder: Degrowth bitte!, wie Experten zu sagen pflegen?
Sind wir nicht alle zu fett? Haben wir die Erde nicht schon bis in die Tiefen der Meere vermüllt? Wird die Atemluft nicht immer schlechter?
Thomas Jefferson, der kluge Uramerikaner, muss die Deutschen gekannt haben:
„Kein Volk kann gleichzeitig unwissend und frei sein.“
Und so war es: die Pfälzer, wie sie damals hießen – wussten von dem aus Schottland stammenden Kapitalismus nichts. Ihre führenden Intelligenzler dichteten und philosophierten, doch von Fabriken und Kinderarbeit hatten sie keine Ahnung.
Jetzt ratet mal, von wem die folgenden Zitate stammen:
„Es erscheint heutzutage allgemein als wünschenswert, dass die Armut abgeschafft werden möchte. Wir sollten streben, den Luxus abzuschaffen. Die ehrliche, fleißige, sich selbst verleugnende Armut abschaffen hieße aber den Boden zerstören, auf dem die Menschheit die Tugenden hervorbringt, die unserer Rasse die Erreichung einer noch höheren Stufe der Zivilisation ermöglichen als sie schon besitzt. Das Problem unserer Zeit liegt in der rechten Verwaltung des Reichtums, in der harmonischen Vereinigung der Reichen und des Armen durch die Bande der Brüderlichkeit. In der Erzeugung der Güte haben wir die ganze Entwicklung. Nicht Böses, sondern Gutes ist der Menschheit aus der Anhäufung des Reichtums durch diejenigen erwachsen, die die Fähigkeit und Tatkraft besessen haben, ihn hervorzubringen.“
Man glaubt es nicht, der Schreiber dieser Zeile ist Andrew Carnegie, in seinem Buch „Das Evangelium des Reichtums, Zeit- und Streitfragen“. Carnegie entstammte einer aus Schottland eingewanderten armen Familie, die es in ihrem Sohn zu großem Reichtum brachte.
Ja, es ist ärgerlich, wenn Reiche nicht wissen, wozu sie immer reicher werden sollen und mit ihrem Reichtum nur die die Armen ärgern können. Reiche sollten das Gegenteil tun. Mit ihrem Reichtum sollten sie die ganze Gesellschaft fördern, um eine höhere Zivilisationsstufe zu erreichen. Das ginge natürlich nicht ohne Blessuren, doch diese könnten durch die rasch wachsenden Geldmassen leicht repariert werden – als Hilfe an die Armen.
Doch Vorsicht: Armenhilfe dürfte auf keinen Fall zur Almosenpolitik verkümmern. Arme sind nur dann hilfs-würdig, wenn sie mit ganzer Kraft den Fortschritt unterstützen. Faulenzer und Arbeitsverweigerer haben keine Unterstützung verdient.
Den Begriff Muße der Griechen kennen moderne Kapitalisten nicht. Muße war die Voraussetzung der Agora, um Denkern die Zeit zu gönnen, über Gott und die Welt nachzudenken. Muße war die Mutter der brillantesten Kulturen der Welt, identisch mit der menschlichsten Regierungsform, der Demokratie.
Genau das alles bricht heute zusammen. Aus welchen Gründen? Darüber denkt heute kein Deutscher nach, keine Partei, keine Gazette.
Erste Antwort von Neil Postman: „Wir amüsieren uns zu Tode“:
„Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken lässt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Varieténummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr – das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung.“
Ist uns diese Beschreibung fremd? Erleben wir seit Jahrzehnten nicht die Vernachlässigung all unserer Fortschrittskünste? Vor einiger Zeit grassierte das Wörtchen „durchwursteln“. Unsere fähigen PolitikerInnen hatten keine Vorstellung vom Ziel einer lebensfrohen und stabilen Kultur. Sie legten Wert nur auf geistloses Weiterwursteln, nicht aber auf Stabilität des Funktionierens.
Heute sehen wir das Ergebnis: Brücken kollabieren, Züge funktionieren nicht, das Niveau unserer Wirtschaft verreckt, es gibt keine bezahlbaren Wohnungen, Kitas sind unfähig, Kinder ins Leben zu begleiten, das Denken verkümmert, niemand kennt den Unterschied zwischen machiavellistischer Brutalität und moralischer Aufrichtigkeit.
Demokratien aber leben von denkerischer Wahrheitssuche. In Deutschland wird viel polemisiert, aber nicht streng logisch gestritten. Sollte es denn in den kaputten Hütten des Kapitalismus keine Möglichkeit der Wahrheitssuche geben?
Erinnern wir uns der Postmoderne und der Dekonstruktion. Hier waltete die Vorstellung, „dass nichts absolut ist, dass ein Wert so gut ist wie der andere, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Wissen und Meinung.“
„Die Postmoderne ist eine mit dem Chic des Radikalen daherkommende Philosophie der Verzweiflung, das ideologische Gegenstück zum zivilisatorischen Zusammenbruch, der um uns herum stattfindet.“ (In Morris Berman, Kultur vor dem Kollaps, Wegbereiter Amerika)
Zusammenbruch der Moderne, das ist wortwörtlich gemeint, und betrifft vor allem Amerika. Warum gerieten die deutschen Journalisten in Amerika in ungläubiges Erstaunen, als Trumps Wahrheitszerstörung unfassliche Triumphe feierte?
Weil sie ihre deutschen Sinnes- und Erkenntnisorgane verschlossen hatten und weder etwas gesehen und gehört, geschweige verstanden hatten.
In Deutschland gab es nämlich dieselben Phänomene, doch niemand kümmerte sich um sie. Moral und Ehrlichkeit wurden hierzulande verächtlich gemacht, doch die Werteverächter wurden selbst zu den rigidesten Moralverteidigern, wenn es um ihre eigenen religiösen und faschistischen Werte ging. Nein, man sagte nicht moralisch, sondern wertebasiert: klingt fortschrittlicher und KI-verträglicher.
„Der amerikanische Wandlungsprozess ist somit Teil eines größeren, weltweiten Wandels des Weltsystems. Der amerikanische Präsident wurde eine Art Aufsichtsratsvorsitzender ohne Moral oder persönliche Verantwortlichkeiten; das einzelne Individuum hatte nicht nur keine Identität, sondern brauchte auch keine und konnte sich ständig neu erfinden. Hinzu kam der „demokratische Faschismus“, bei dem die Welt in 20 % einer Elite und 80% des Rests aufgeteilt worden ist.“
Just die AfD vertritt heute jene rückwärtsgewandten Animositäten und Hassgefühle, die instinktiv von der ganzen Gesellschaft vertreten werden. Die „gute Gesellschaft“ schlägt zurück, obgleich sie selbst diese Werte als Grundlagen einer guten Gesellschaft anpreist.
Lew Welch, ein „Beat Poet“ vergangener Jahre, hatte diese Verelendung der Moderne in ein kleines Gedicht transformiert:
„Welch merkwürdigen Spaß sie daran haben,
Ganze Welten zu zerstören.
Alles zu tun,
Um unsere Leben zu beenden, unser Wildes Nichtstun?“
Fortsetzung folgt.