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Deutschland ist nicht moralisch

Hello, Freunde des Guten und Wahren,

ist der Ausdruck: sich einen runterholen, bereits obszön? Laut Duden bedeutet das schwache Verb: masturbieren, onanieren, sich selbst befriedigen. Freud spricht vornehm von Autoerotik, was nicht bedeutet, dass die Tätigkeit im Auto stattfinden muss. Für viele Männer allerdings ist das ruckartige Bewegen des Gaspedals Masturbationsersatz. Onan ließ es auf die Erde fallen, was bestimmt kein antiökologischer Akt war (vielleicht wuchs an jener delikaten Stelle ein Weideröslein als Männerkraut) – im Gegensatz zum Aufheulenlassen naturfeindlicher Motoren.

Wir leben in düsteren Zeiten, da will die christliche Literatin Lewitscharoff das Onanieren gleich völlig verbieten. Das träfe sich mit Absichten eines dehydrierten Feminismus, der unter dem Deckmantel eines Prostitutionsverbots gleich die ganze verdorbene Männersexualität mit Stumpf und Stiel ausrotten will. Da tun sich interessante neue GroKos auf mit Papst Franziskus, Päpstin Alice und Priorin Sibylle in geschlossener Front gegen die Dekadenz des immer heidnischer werdenden Westens.

Naturbursche Putin, der nichts auf den Boden fallen lässt, und die Moskauer Metropoliten, denen man in diesem Punkt nicht trauen kann, geben das westliche Abendland noch nicht ganz verloren.

Womit wir ungezwungen beim Fall Edathy gelandet wären, der die Republik in nicht geringe Turbulenzen stürzte. Der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter wird mit dem „obszönen“ Sätzchen zitiert: „Ich habe noch keinen gesehen, der sich im Museum einen runterholt“. (Harry Nutt und Juliane Meißner in der BLZ)

Es geht um die Darstellung des Schönen und Nackten. Kann die Ästhetik des

Nackten unbedenklich sein, wenn Kunstwerke geeignet sind, die Betrachter sexuell zu erregen?

In einem SPIEGEL-Interview hatte Edathy seine Bestellung nackter Kinderfotos mit den Worten verteidigt: „In der Kunstgeschichte hat der männliche Akt, auch der Kinder- und Jugendakt, eine lange Tradition. Man muss daran keinen Gefallen finden, man darf es aber.“

Der Vergleich der dubiosen Fotos mit exquisiten Kunstdarstellungen empörte den Regierungssprecher. Ist Kunst nicht völlig außerhalb und oberhalb aller ordinärer Triebregungen? „Ich bestreite auch, dass die von einem schmierigen deutschen Typen in Rumänien geschossenen Fotos von verarmten ahnungslosen nackten Kindern irgendetwas mit Kunst zutun haben.“

Da überlagern sich verschiedene Probleme: rechtliche, sexuelle und ästhetische. Nicht alles, was sexuell ist, muss unästhetisch sein. Nicht alles, was unmoralisch ist, muss recht-los sein. Edathy bestritt in seinem SPIEGEL-Interview, dass die abgelichteten Kinder zum Posieren gezwungen worden wären oder sonstige Nachteile erlitten hätten.

Hätte er Recht, wäre Kubickis Attacke gegen ihn eine fehlgeleitete: „Wenn er immer noch nicht begriffen hat, dass auch die Nacktaufnahmen, die er gekauft hat, Kindern schaden, hat er definitiv nichts in der Politik zu suchen.“

Für Edathy spricht, dass die Kartei, aus der er bestellte, offiziell bekannt und von niemandem beanstandet worden war. Darauf habe er sich verlassen. Zudem habe er unter seinem Namen bestellt. Tut das ein Verächter des Rechts? „Das Bundeskriminalamt, die Generalstaatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft Hannover sagen: was ich erworben habe, ist nach deutschem Recht legal, strafrechtlich irrelevant.“

Bis jetzt ist Edathy rechtlich unwiderlegt, dennoch ist er von der deutschen Öffentlichkeit hingerichtet. Seine politische Karriere ist vorbei. Das Schwarmkläffen deutscher Medien war an seinem unrühmlichen Fall nicht ganz schuldlos.

Der CSU-Generalsekretär will ihn in die Klapse stecken, sein Parteifreund Karl Lauterbach empfiehlt ihm Museumsbesuche ohne Runterholen, ein anderer Parteifreund zeigt sich irritiert über das Interview, das „geprägt sei von Selbstverteidigung. Ich hätte mir einen selbstkritischeren Umgang gewünscht.“

War der Angegriffene nicht selbstkritisch, indem er alle Vorwürfe bedachte – und mit Gründen verwarf? Muss man sich anklagen, wenn man nichts Anklagenswertes bei sich findet?

Hätte Sokrates, um dem Vorwurf selbstgerechter Überheblichkeit zu entgehen, die Vorwürfe der Athener teilweise anerkennen sollen, obgleich er alle für falsch hielt?

Geht’s hier um opportunistische Demutsgesten, um die Gunst der Öffentlichkeit nicht zu verlieren? Das würde den Satz bestätigen, dass jede Attacke, und sei sie noch so perfide, nicht ohne Folgen bliebe. Hängen bleibt immer was.

Müsste solchen Schlammschlachten nicht gerade von den Medien die Wahrheit und nichts als die Wahrheit entgegengesetzt werden? Die Vierte Gewalt hat nicht nur anzugreifen, Unschuldige hätte sie auch zu verteidigen.

Das exemplarische Vorbild der Verteidigung eines Unschuldigen gegen alle Ausdünstungen einer aufgehetzten Menge ist noch immer Emile Zolas Verteidigung des jüdischen Offiziers Dreyfuss gegen den infamen Verdacht, er sei ein Spion im Dienste des Gegners. Hätte Zola mit taktischer List ein bisschen nachgeben sollen, um der Meute einen Knochen zuzuwerfen? Hätte er „aus Gerechtigkeitsgründen“ auch Dreyfuss eins verpassen müssen, um nicht in den Verdacht der Einseitigkeit zu geraten?

Gemessen am Beispiel Zolas hat fast die gesamte Vierte Gewalt in Deutschland im Fall Edathy versagt. Nicht einmal die theoretischen Kriterien einer fairen Auseinandersetzung sind hierzulande bekannt, geschweige deren praktische Umsetzung. Wehe den Verdächtigen, die hierzulande zwischen die Mühlräder geraten.

Jenes Blatt, das sich nicht entblödet, sich als APO der Gesellschaft aufzuspielen, hat aus dem Prinzip der Launenhaftigkeit ihr offizielles Geschäftsprinzip abgeleitet: „Wer mit dem Fahrstuhl mit uns hinauffährt, fährt mit uns auch wieder hinunter.“ Geht es da noch – oh steiniget mich nicht – um Objektivität und Wahrheitsliebe? Oder bestimmt die Chefredaktion nach Lust und Laune den beliebigen Kurs des übelsten Blattes seit Erfindung der Buchdruckerpresse?

Noch übler sind die Reaktionen der eigenen Parteifreunde, die nichts Besseres zu tun haben, als sich reflexmäßig vom Angegriffenen zu distanzieren. Geht es um Abscheu vor „Wichsvorlagen“ oder um Verteidigung rechtlicher und moralischer Standards? Gabriel wollte seinen bis dahin unbescholtenen Kollegen stante pede aus der Partei werfen, ohne dass irgendetwas geklärt gewesen wäre. Wer kann diese verschröderte Partei noch wählen?

Unschuldsvermutung scheint nur noch ein Wort zu sein. Worum geht es eigentlich: um eine juristische – oder um eine moralische Frage?

In Deutschland gibt es keine klare Grenzziehung zwischen rechtlichen und ethischen Maßstäben. Moral ist mehr als Recht, doch Recht ist auch Moral. Jede Humanisierung und Fortschreibung des Rechts geschieht im Namen einer umfassenden Moral. Es ist eine moralische Entscheidung, das Recht zu respektieren. Die Wahl einer humanen Staatsform ist von höchster moralischer Qualität. Wer Demokratie nur als austauschbaren, mechanisch funktionierenden Staat betrachtet, hat sie bereits verraten.

Ein übler Kapitalist, der keine Gesetze verletzt, darf von Kapitalismuskritikern nicht moralisch angegriffen werden. Grund: offiziell hat er sich nichts zuschulden kommen lassen – auch wenn seine Lebensmittelspekulationen vielen Menschen das Leben gekostet haben mag. Es ginge nicht um das moralische Verhalten eines belanglosen Einzelnen. Es ginge um das Gesamtsystem.

Doch Systeme sind keine unveränderlichen Naturgesetze, sondern von Menschen gemachte, moralische oder unmoralische Gebilde. Wer sich eines unmoralischen Gebildes in kaltblütiger Skrupellosigkeit bedient: kann der jenseits von Gut und Böse sein? Ist er kein amoralischer Wicht, der sein anrüchiges Tun mit Systemgründen kaschiert und sich durch Hinweis auf höhere Mächte aus der Verantwortung stiehlt?

Hat das „System“ der Geschichte die Deutschen zu verbrecherischem Verhalten gezwungen? Haben Sein und Zeit den Denker verführt, die SA-Horden für die Boten dessen zu halten, was uns die Zukunft zuschicken will? Dann hätte Heidegger Recht, wenn er sein Mitläufertum niemals bedauerte.

Sind Urheber der Finanzkrise schuldlos, als sie vielen Menschen ihre Häuser wegnehmen ließen, nur weil sie es taten, weil sie es tun konnten? Ich kann es, also tu ich es: das ist die Devise von Faschisten und Despoten. Recht hat, wer Macht hat.

Müssen mündige Bürger nicht alle Institutionen und Systeme auf Herz und Nieren prüfen, um zu entscheiden, ob sie deren Parolen folgen oder nicht? Wär‘s anders, wäre jedes Mitläufertum von integrer Qualität, alle Deutschen des Dritten Reichs wären ohne Schuld.

Was für das System des Nationalsozialismus galt, gilt für alle Systeme.

Marx hat die deutschen Linken jeglicher Moralität beraubt, als er das moralische Verhalten des Einzelnen – das von französischen Frühsozialisten gefordert wurde – als lächerlichen Utopismus verhöhnte. Er war von Hegel infiziert, dessen Weltgeist sich nicht um Kammerdienermoral schert, wenn er seine großen Ziele ansteuert.

Marx gehört zur Generation der Spätromantiker, deren Geniebegriff – den sie aus der Sturm- und Drangzeit übernahmen – mit engbrüstiger Moral unvereinbar war. Der authentische Mensch unterwirft sich keiner fremden Moral. Im dunklen Drange seines amoralischen Unbewussten ist er sich des rechten Weges wohl bewusst – auch wenn er über Leichen geht.

Das Ethos der schuldlosen Schlafwandler beginnt am Ende des 18. Jahrhunderts – und endet in der Gegenwart noch immer nicht. Reib dir die Augen und zeig dich somnambul – dann kannst du jedes Verbrechen als Ausdruck deines unverfälschten Wesens verkaufen. Deutsche Originalgenies konnten nicht unmoralisch sein: sie lehnten alle verpflichtende Moral ab. Kants kategorischer Imperativ war für sie ein Gespenst der Vergangenheit.

Die Deutschen sind keine moralische Nation. Fast all ihre illustren Dichter und Denker haben die Moral ihrer klerikalen Erziehung als Korsett empfunden und es mit Abscheu verbannt – ohne ihre eigene selbstbestimmte Moral dagegen zu setzen. Der grenzenlose Freiheitsbegriff des heutigen Neoliberalismus wurde in den Gehirnen deutscher Genies geboren.

Autonomie bedeutet nicht Amoralität, sondern selbstbestimmte, aus der Vernunft geborene Moral. Freilich, wenn man selbst Vernunft als Diktatorin betrachtet, deren heteronome Weisungen man zurückweisen muss, dann bleibt nur die Geburt der Barbarei aus dem Geist göttlicher Grenzenlosigkeit und Beliebigkeit.

Eben dies war der Gang der deutschen Entwicklung seit Sturm und Drang – mit einer winzigen Unterbrechung in der Iphigenie-Phase der Weimaraner – bis zum heutigen Tag. Es war nicht Nietzsche, der den amoralischen Willen zur Macht und das Jenseits von Gut und Böse erfand.

Noch heute ist Moral für die Deutschen eine private Angelegenheit. So wenig Demokratie für sie eine moralische Einrichtung ist, so wenig ist es das ordinäre Rechtssystem. Steuerhinterzieher und Staatsschmarotzer in großem Stil fühlen sich noch immer im Recht, denn ein genuines Recht des staatlichen Molochs erkennen sie nicht an.

Indem sie Demokratie zum Staat verhunzen, dürfen sie unter dem Mantel der Staatsallergie die Herrschaft des Volkes verächtlich machen. Die Verletzung staatlicher Imperative ist für sie moralisch solange unbedenklich, solange Demokratie und Recht selbst keine moralische Würde besitzen.

Was sagt das Böckenförde-Diktum, das fast die ganze Politelite zu ihrem Dogma erklärt hat?

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Mit anderen Worten: Demokratie hat in sich keine moralische Substanz. Ohne Anleihen bei der Religion kann sie nicht überleben. Dasselbe gilt für das Recht. Das Rechtssystem ist eine wahllos und willkürlich zustande gekommene Ansammlung unverbundener Paragrafen. Mit Moral haben sie nichts zu tun. Der Staat ist eine Maschine mit moralfreien Gesetzen. Man muss sie beachten, damit die Maschine nicht ins Stottern kommt, doch die Qualität der Moral erreichen sie nicht.

In der Zeit nach Hegel hat sich bei uns nichts Wesentliches getan. Der Staat ist ein kaltes Monstrum, das mit meiner Innerlichkeit keine Berührung hat. Wer seine private Moral dem Staat aufoktroyieren wollte, der wäre ein Spießer und Kammerdiener:

„Die geschichtlichen Personen, von solchen psychologischen Kammerdienern in der Geschichtsschreibung bedient, kommen schlecht weg; sie werden von diesen ihren Kammerdienern nivelliert, auf gleiche Linie oder vielmehr ein paar Stufen unter die Moralität solcher feinen Menschenkenner gestellt. Der Thersites des Homer, der die Könige tadelt, ist eine stehende Figur aller Zeiten. Schläge, d. h. Prügel mit einem soliden Stabe, bekommt er zwar nicht zu allen Zeiten, wie in den homerischen, aber sein Neid, seine Eigensinnigkeit ist der Pfahl, den er im Fleische trägt, und der unsterbliche Wurm, der ihn nagt, ist die Qual, daß seine vortrefflichen Absichten und Tadeleien in der Welt doch ganz erfolglos bleiben.“ (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)

Übersetzt: wer die Großen der Politik nach seiner spießigen Privatmoral kritisiert – wie einst Thersites die Könige –, der müsste eigentlich verprügelt werden. Diese Prügel gibt es noch heute, wenn die Matadore des Systems von „selbsternannten“ Moralisten kritisiert werden.

Geht es freilich nicht um systemrelevante Matadore, gilt das umgekehrte Prinzip. Edathy wird nicht nach dem geltenden Recht beurteilt, sondern nach dem bayrisch-klerikalen oder proletenhaften Reinheitsgebot, möglichst mit dem Siegel des jeweiligen Kindergottesdienstes.

Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Die Großen werden von „überzogener“ Hinterwäldlermoral befreit, die Kleinen kommen wegen Spuckens auf die Straße in U-Haft.

Die Linken sitzen seit Marx in ihrer eigenen Falle. „Charakterschweine“ wie Hoeneß werden verflucht – was von Marx nicht gedeckt ist, denn Kapitalisten und Ausbeuter sind bloße Maschinisten des Systems, die höchstens als Charaktermasken angegriffen werden könnten. Doch jede moralische Bewertung des kapitalistischen Schweinesystems wird mit dem Hinweis abgelehnt, dass es nicht um moralische Belanglosigkeiten ginge, sondern um geschichtliche Notwendigkeiten. Moral gehört zum Überbau der Gesellschaft, ist von dieser determiniert und wird sich erst ändern, wenn die Gesellschaft am Ende der Vorgeschichte sich geändert haben wird.

Linke sind mit ihren rechten Gegnern deckungsgleich geworden. Hayek kennt keine Moral, die gegen die Gesetze der Evolution oder des perfekten Marktes ankommen könnte. Marx kennt keine Moral, die gegen die Gesetze der marxistischen Heilsgeschichte etwas ausrichten könnte.

Diese selbstauferlegte moralische Blindheit und Inkompetenz verurteilt die Linken zum absehbaren Untergang. Hier haben wir die Ursache der maroden Gesamtunfähigkeit der SPD und aller linken Parteien in Europa.

Warum gibt es keine nennenswerte Opposition gegen die Unmoral des grenzenlosen Mammons? Weil es niemanden gibt, der sich auf seine moralische Autonomie beruft. Und wer‘s dennoch tut, der wird von „wissenschaftlichen“ Geschichtsdeutern als naiver Tropf aussortiert.

Die Großen hingegen können auf Moral verzichten. Ihre Marktgeschäfte werden von unveränderlichen Naturgesetzen bestimmt und nicht von moralischem Blabla „selbsternannter“ Sittenwächter. Die Großen erkennen sich in Hegels Satz: „Aber solch große Gestalt muss manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.“

Just dasselbe sagt Hayek über die unbarmherzigen Gesetze des Marktes, die mit Gerechtigkeit nichts zu tun haben. Es kann einer die beste ökologische Erfindung machen und auf den Markt bringen. Eine Garantie, dass der Markt diese Erfindung zum Erfolg macht, gibt’s nicht. Im Gegenteil: die besten Dinge gehen sang- und klanglos den Orkus hinab.

Gegen die Ungerechtigkeit des allwissenden Marktes ist kein Kraut gewachsen. Was bleibt dem enttäuschten Gutmenschen mit seinem gesunden Schwarzbrot, das niemand kaufen will? Er muss eine neue Erfindung auf den Markt werfen, am besten mit verführerischem kariösem Zuckergehalt, damit die dumme Menge sie ihm aus den Händen reißt.

Der Fall Edathy zeigt, dass Deutschland sein moralisches Reifezeugnis noch nicht erworben hat. Die Linken und Ohnmächtigen vertrauen der Geschichte, die erst im Reich der Freiheit moralische Konturen annimmt. Die Rechten und Mächtigen vertrauen der Amoralität ihres naturgesetzlichen, mathematisch berechenbaren Marktes.

Prophete links, Prophete rechts, die autonome Mitte ging verloren.

Was die Weltmächte im Großen praktizieren, machen die Deutschen im Kleinen. Moral? Natürlich – im Privaten und Unwesentlichen. Wenn‘s ans Eingemachte der Weltpolitik geht, gibt es keine verbindliche Moral. Wenn du unbefugt den Rasen betrittst, wirst du gnadenlos zur Schnecke gemacht. Wenn du ökologische Gesetze vorschlägst, um die Welt zu retten, bist du ein hirnverbrannter Tugendterrorist.

Deutsche handeln nicht, weil es recht ist. Sie handeln – und also ist es Recht. Noch immer ist Moral ein Fremdwort in Deutschland.