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Tagesmail

Der starke Mann

Hello, Freunde der Atheisten,

für eine solche Anrede muss man sich heute entschuldigen. Entschuldigen Sie bitte, meine Damen und Herren, dass ich unterstelle, Sie könnten Freunde von Gottlosen sein – die es nach deutscher Auffassung gar nicht geben kann. Jeder glaubt doch an irgendetwas, an etwas Höheres, oddr?

Hier stock ich schon. An etwas Höheres glauben, ist das nicht die hiesige Selbstbeschreibung von – Christen? Wären Christen und Atheisten in Deutschland etwa aus dem gleichen Holz? Dann gäbe es nicht nur eine säkulare GroKo in Deutschland, sondern eine große völkische Ökumene (VögrÖk) aus Gottlosen und Gläubigen, oddr?

Da mühte sich Ronald Dworkin, Gläubige und Ungläubige mit einer Religion ohne Gott zu versöhnen, während in Deutschland die Versöhnung längst stattgefunden hat, womit bewiesen, dass Deutschland anderen Ländern nicht mehr hinterherhinkt, sondern an der Spitze des Weltgeistes marschiert.

Tja, ihr Angelsachsen, nicht gleich heulen, ihr habt den Krieg gewonnen, dafür haben wir euch mit Geist besiegt. Ganz wie die Griechen, die militärisch gegen die Römer verloren, ihre Besieger aber philosophisch besiegten. Man kann nicht alles haben im Leben. Entweder hat man‘s in den Muckis oder im Vorderhirnlappen.

(Zu eurem Trost werden Jogis Löwen heute abend blamabel verlieren, dass ihr unsere Helden wie gewohnt als seelenlose Maschinisten niedermachen könnt. BILD, die APO des Volkes, hat sich offenbar entschlossen, so tief zu sinken, wie

das stinkende Brackwasser in ihrer Redaktion erlaubt. Sie bettelt den Nationaltrainer an, heute abend unbedingt zu siegen: wegen unserer Kinder, die dringend Vorbilder bräuchten.

Sind Kicker nur Vorbilder, wenn sie siegen? Wie steht‘s denn mit der Vorbildfunktion von BILD-Redakteuren? Oder den beiden Tugendgiganten Peter Hahne und Margot Käßmann?)

In Deutschland muss man Gläubige und Gottlose nicht mehr versöhnen. Mit der schrumpfesoterischen Formel: es muss doch mehr als alles geben, haben sie sich längst versöhnt. Es muss doch etwas Höheres im Leben geben, das ist das Neonicänische Glaubensbekenntnis, die neoliberale formula concordia der Gottlosen und -besitzer.

Wer eigentlich – außer Kai Dieckmann – hält sich für so groß, dass er sich nichts mehr Größeres als seine Person vorstellen kann? Dieckmanns philosophisches Vorbild hatte der Welt mitgeteilt: „Mir geht nichts über Mich. Ich bin das schöpferische Nichts, aus welchem ich selbst als Schöpfer alles schaffe.“

Oh pardon, habe BILD mit Max Stirner verwechselt. Verzeihung Max, dass ich ein schöpferisches Nichts mit einem Nichts vergleiche. Der heilige Max muss mehr unter den Deutschen gewütet haben als sein fast gleichnamiger Kritiker Marx. Wie anders kann man erklären, dass Deutsche sich erst einen Ruck geben müssen, um etwas Höheres als ihre gottebenbildliche Person anzuerkennen?

Mit einer höheren Natur darfst du keinem Deutschen mehr kommen, seit ihre Vorfahren sonntags in den dunklen Tann fuhren, um anzubeten. Auch die freiheitsliebenden Wandervögel waren brünstige Naturanbeter, doch leider wurden sie zu NS-Schergen.

Also musste – nach deutscher Logik – die Natur für die Schuld der Menschen herhalten und zur Täterin der Völkerverbrechen werden. Seitdem ist Natur korrumpiert. Die Grünen, je christlicher sie werden, wagen es immer weniger, das heidnische Monstrum auch nur zu erwähnen.

Nach dieser Idiotenlogik müsste die gesamte Wanderbewegung verboten werden, denn Hitler war ein großer Alpenwanderer. Auch Vegetarier, Hundefreunde und Nichtraucher sollten längst gewarnt sein und sich schleunigst in Fleischfresser, Hundefeinde und Dauerraucher verwandelt haben, um sich nicht in falschen Verdacht zu bringen.

Unfasslich, welch magische Dummheiten zum eisernen Bestand der deutschen Vergangenheitsbewältigung gehören. Nun wissen wir auch, warum Helmut Schmidt in lebenslanger Mutprobe seinen Führer in der Pfeife rauchen und von Adolf Nazi sprechen muss, um ja nicht durch Wortzauber die Gespenster der Vergangenheit herauf zu beschwören.

Die armen Germanen sind ebenfalls schwer bestraft, weil ein gewisser Himmler – jaja, der vom Himmel kam – sich mit ihren Kultstätten auf den Externsteinen beschäftigte. Seitdem kannst du diese germanischen Frühnazis abhaken. Warum heutige Germanisten sich noch erkühnen, sich Germanisten zu nennen, wäre einen neuen Historikerstreit wert.

Und überhaupt: haben Nazis nicht deutsch gesprochen? Wäre es nicht an der Zeit, aus Gründen glaubwürdiger Reeducation kollektiv zum Angelsächsischen überzugehen?

Mit solchem Analogie-Firlefanz werden im Land der Täter antisemitische Neigungen aufgespürt und dingfest gemacht. Da darf man sich nicht wundern, wenn die wahren Antisemitismus-Motive – christlicher Judenhass, postmoderne und neoliberale Vergangenheitsnegierung, Verhöhnung der allgemeinen Menschenrechte und der Demokratie im Namen eines nationalen Sonderwegs und völkischer Erwähltheit, Ekel gegen jegliche Moral – fröhlich ihre Urständ feiern und niemand die rote Karte hebt.

Ist schon jemandem aufgefallen, dass Deutsche das Analysieren antisemitischer Strömungen penetrant den Juden überlassen, als hätten sie nichts damit zu tun? Vor allem unsere vorbildlichen Philosemiten schweben derart über den Wolken, dass sie sich mit rechtem Geschmeiss und Gewürm nicht abgeben. Sollen doch die Juden sich mit den Neonazis auseinandersetzen, was tangiert das die wahren und guten Deutschen aus der Mitte der Gesellschaft?

Nur wenn Israel kritisiert wird, stürmen die eisernen Verteidiger Netanjahus aus ihrem Versteck, um hinter der Maske der „kritischen Freundschaft zu Israel“ die satanischen Motive zu enttarnen.

Was ist noch schlimmer als das Wahrheitsministerium in Orwells 1984, das die Vergangenheit ständig umschreiben und fälschen ließ? Die christlichen Kirchen. Im Dritten Reich gehörten führende evangelische und katholische Theologen zur eisernen Kavallerie der NS-Glaubenslehre. Heute sind sie alle porentief reingewaschen.

Umgekehrt beschuldigen sie, ohne zu erröten, den Atheismus der Urheberschaft der NS-Ideologie. Der säkulare Abfall von Gott sei der vergiftete Humus, auf dem das Verhängnis wachsen konnte. Im christlichen Mittelalter seien solche Gräuel nicht möglich gewesen. Nein, nur Kreuzzüge, Inquisition, Verfolgen und Verbrennen von Hexen und Ketzern und Versklaven und Eliminieren unendlich vieler heidnischer Völker in den neuen Kontinenten.

Wenn das Abendland untergeht, können es nur Gottesmörder gewesen sein. Wenn es keinen Gott gibt, ist alles möglich, schrieb der russisch orthodoxe Fundamentalist Dostojewski.

Was verstehen Kirchen unter Religionsfreiheit, die sie ständig bedroht fühlen, selbst wenn ihre Macht exponentiell zunimmt?

Religionsfreiheit ist für sie, wenn sie Andersgläubige und Nichtgläubige hemmungslos als Ursachen aller modernen Übel angreifen können – um von ihrer eigenen dogmatischen Brandstifterei abzulenken. Wie schnell sie beleidigt sind und nach dem Staatsanwalt rufen, wenn man ihnen den Spiegel vorhält!

Ja, es muss leidenschaftlich gestritten werden. Nichts weniger als die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel. Aber bitte auf gleicher Gefechtshöhe.

Es ist keine Religionsfreiheit, sich mit Hilfe des Staates jede unliebsame Kritik vom Leibe zu halten. Schon harmlose Karikaturen bringen ihre reinen Seelen in den Zustand der Vernichtungswut. Wenn sie aber alle Ungläubigen auf ewig im höllischen Feuer versenken, dann ist es ein Werk ihrer unendlichen Nächstenliebe.

Die WELT kann es nicht lassen und setzt ihr Demokratiebashing munter fort. Heute im Artikel eines belgischen Althistorikers, der die Demokratie für verloren gibt und nach einem starken Mann ruft, den er als Kaiser Augustus drapiert. Den Verfall der europäischen Demokratien vergleicht er mit dem Zerfall der römischen Republik, die sich aber durch das eingeführte Kaisertum (Prinzipat) noch einige Jahrhunderte durch die Zeiten retten konnte. Der Autor gibt zu:

„Mit Demokratie hat eine solche Perspektive freilich nur wenig zu tun – aber wenn wir ehrlich sind, so besteht diese doch auch heute nur noch auf dem Papier. Wo die Wahlbeteiligung zum EU-Parlament bei 43 Prozent liegt; wo ganze Staaten bereits von Brüsseler Statthaltern regiert werden; wo Finanzinstitute wie JP Morgan den Abbau demokratischer Grundrechte fordern; wo Referenden bis zum Abwinken wiederholt oder ignoriert werden; wo unklar ist, nach welchen Grundsätzen das politische Oberhaupt des Kontinents bestimmt werden soll.“ (David Engels in der WELT)

Welche Faktoren werden zum Untergang Europas führen? Auch der Atheismus. Zwar nennt der Verfasser auch den Fundamentalismus. Bekanntlich aber steht der wahre christliche Glaube europäischer Abkunft so haushoch über amerikanischer Buchstabengläubigkeit, dass kein Bischof Huber sich hier getroffen fühlen müsste. Das Evangelium auf höchster europäischer Ebene besteht aus reiner Liebe, unbeflecktem Glauben und aufgeklärter Hoffnung.

„Masseneinwanderung und Bevölkerungsrückgang; Atheismus und Fundamentalismus; Brot und Spiele; Globalisierung und Multikulturalismus; Kriminalität und Umweltverschmutzung; Demokratiedefizit und Elitenherrschaft; Pazifismus und Terrorismus; Kapitalismus und Staatsbankrott – all dies ist keineswegs das zweifelhafte Privileg des modernen Europas, sondern bestimmte auch den Untergang der spätrepublikanischen Gesellschaft.“

Interessant, dass nicht nur Atheismus und Fundamentalismus auf die gleiche Stufe gestellt werden – doch welche Atheisten haben bis jetzt Andersgläubige eliminiert? Nein, Stalin und Hitler waren Anhänger einer Heilsgeschichte –, sondern auch Pazifismus und Terrorismus.

Man könnte dem Pazifismus im Dritten Reich vorwerfen, er habe sehenden Auges passiv viele Menschen in den Tod gehen lassen. Doch die Pazifisten unternahmen nichts. Ihre moralische Reinheit war ihnen wichtiger als das Verhindern unerhörter Schreckenstaten.

In diesem eingeschränkten Sinn kann man Geißlers Vorwürfe an den Pazifismus für richtig halten. Dennoch hat er die Kleinigkeit vergessen, dass die Welt anders aussehen würde, wenn der Pazifismus generelle Moral wäre.

Sich mit Gewalt wehren ist die ultima ratio eines verzweifelten Friedensfreundes. Wenn bereits eine ultima ratio vorliegt, ist bereits unendlich viel schief gelaufen, das nicht hätte schief laufen können, wenn alle Seiten symmetrische Pazifisten gewesen wären.

Um eine ultima ratio prophylaktisch zu verhindern, brauchen wir einen energischen Friedenswillen, der im Bereich normaler Politik alles zu verhindern hätte, was zur irreversiblen Katastrophe führen könnte. Pazifismus, so weit wie möglich, doch wenn nötig dem Führer eine Kugel in den Kopf jagen. Das hat Geißler im Furor einer ecclesia militans nicht mehr unterscheiden können.

Heute hört man von denselben Kirchen, die einst mit Niemöller skandierten: nie wieder Krieg, dass das Böse nur mit Hilfe von Waffen ausgerottet werden kann. Wir sind wieder zurückgekehrt zur klerikalen Bedenkenlosigkeit einer Thron & Altar-Theologie.

Luther, der große Reformator wird zum Jubeljahr von allen Seiten gebläsegereinigt, damit der Befürworter des Bauernschlachtens und des gehässigsten Antisemitismus der Neuzeit zum unbefleckten Begründer der Neuzeit glorifiziert werden kann.

Dass der belgische Althistoriker David Engels (!) in der WELT tatsächlich die Christentumsgegner als Hauptursachen des europäischen Verfalls betrachtet, zeigt das folgende Zitat:

„Wo nur noch ein Viertel der Europäer ihren Regierungen und Parlamenten vertraut; wo das Christentum nach Belieben beschimpft werden darf, während die Islamkritik zur Straftat wird; und wo jüngsten Umfragen zufolge bereits fast die Hälfte der Franzosen und Engländer und zwei Drittel der Portugiesen, Polen und Ungarn nach einem „starken Mann“ rufen, der sich nicht um demokratische Institutionen scheren soll – da steht das Imperium nicht etwa nur vor der Tür.“

Wir konstatieren: die Kategorie Kritik wird zunehmend abgeschafft. Wer das Christentum kritisiert, beschimpft es, wer Amerika kritisiert, ist Antiamerikaner, wer Israel kritisiert, ist Antisemit.

Einst wusste man, dass es keine Demokratie ohne Kritik geben kann. Der Ort der öffentlichen Kritik in Athen war die Agora. In der Volksversammlung, in den Gerichtsverhandlungen, überall waren Kritik und Spott bis zur beißenden satirischen Verhöhnung allpräsente Elemente einer rauflustigen Volksherrschaft.

Heute macht sich verdächtig, wer mächtige Elemente in der Öffentlichkeit angreift. Auch hier paradigmatisch die NSA, die ihre Kritiker schon dann beschnüffelt, wenn sie es wagen, sich gegen ihre Schnüffelmethoden zur Wehr zu setzen. Es ist Blasphemie, gottgleiche Schnüffelbehörden kritisch zu sehen.

Was ist das Fazit des David Engels? Unsere Demokratie ist bereits so hinfällig, dass wir schon „mit mehr als einem Fuß mitten im autoritären Staat stehen“. Also machen wir Nägel mit Köpfen und retten wir die Demokratie – indem wir sie endgültig verderben lassen. Eine offizielle Bankrotterklärung wäre der redlichste Versuch, sie vor dem Exitus zu retten. Lieber einen ehrlichen Übergang zu einem mächtigen Mann nach dem Muster römischer Kaiser als mit infantilen demokratischen Methoden weiterwursteln:

„Nein, da befinden wir uns bereits mit mehr als einem Fuß mitten im autoritären Staat, sodass die Bestimmung eines plebiszitär legitimierten Staatschefs nach römischem Muster paradoxerweise mehr Ehrlichkeit, Stabilität und sogar öffentliche Zustimmung sichern würde als die gegenwärtige Infantilisierung des Bürgers durch ein als Apotheose der Rechtsstaatlichkeit beweihräuchertes bürokratisches Staatsmonster. Begrüßenswert ist eine solche Perspektive freilich nicht. Aber allem Anschein nach unausweichlich, wenn wir den völligen Zerfall verhindern wollen. Oder?

Wir wollen unseren alten Kaiser Willem, äh, den Kaiser Augustus, wieder ham.

Wie ging es in Rom weiter? Vom Prinzipat des gemäßigten Augustus zum Dominat späterer Kaiserwüstlinge.

Er ist wieder da: der Ruf nach dem starken Mann. Das verlogene demokratische Europa kann sich nur retten, wenn es sich ehrlich einem Führer in die Arme wirft. Aus Angst vor dem Tod sollen wir uns ins Messer stürzen.

Sollte der Belgier die Stimmung der europäischen Eliten wiedergeben, wären wir verloren – oder wir müssen die Eliten zum Teufel jagen.