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Der sichtbare Krieg

Hello, Gegner des sichtbaren Kriegs,

nein, der Krieg ist nicht ausgebrochen. Er wurde nie beendet. Zumeist wütet er unsichtbar im Untergrund. In unregelmäßigen Abständen aber durchbricht er die Decke, drängt nach oben und schlägt auf Straßen und Gassen, in Cafes und Konzertsälen, die Menschen tot. Auch der unsichtbare Krieg kennt kein Pardon und bringt Tod und Elend über Kinder, hilflose Mütter, zerstörte Schwache und Überflüssige.

An den unsichtbaren Krieg haben wir uns gewöhnt. Beim sichtbaren fallen wir übereinander her und halten stets die anderen für schuldig.

Wenn wir die Wunden der Menschheit nicht mehr mit weißer Salbe und öligen Reden überpinseln können, erbricht sich der angestaute Pfuhl ins Licht des Tages und wir können den Morast nicht mehr leugnen.

Ab gestern wird „erbarmungslos zurückgeschlagen“ gegen die „feigen und hinterhältigen“ Attentäter, die uns „unseren Lebensstil nicht gönnen“ –, der sonst als „satt und selbstzufrieden“ gescholten wird, aber gegenüber den „Feinden unseres Systems“ als verdiente luxuriöse Freiheit und Selbstbestimmung verteidigt wird.

Der Hass auf diejenigen, die uns hassen, erscheint uns als bestes Bollwerk gegen

die Verstoßenen der Weltgeschichte, die uns ähneln wie ein erwähltes Gottes-Ei dem andern.

„Die Reichen saßen in ihrem schönen Haus

Und sagten laut: Der Krieg ist aus.

Das war natürlich gar nicht wahr:

Der Krieg auf dem Papier war gar,

Aber genau wie in den Kriegen

Starben die Leute wie die Fliegen.

Dem Gott sagten die Reichen von Mitleid:

Du kannst das Elend nicht aufheben,

Da müssten wir ja unser Geld hergeben.

Du, das ist nicht´s für unser Ohr,

Da schlagen wir etwas anderes vor.

Das Elend bleibt. So wie es war.

Du kannst es nicht ausrotten ganz und gar,

Aber du machst es unsichtbar.

Das Elend sollte zwar weiter bestehen,

Aber man sollte das Elend nicht mehr sehen.

Da sagte der liebe Gott nicht nein,

Sondern sah wieder alles ein:

Ich kann es nicht ausrotten ganz und gar,

Gut, da mach ich es unsichtbar.

Und von der Stund an, das ist wahr,

War das Elend unsichtbar.“ (Bertolt Brecht, Die Drei Soldaten. Ein Kinderbuch)

Krieg ist ein Gottesurteil. Besonders bei einem Gott, der die Konflikte seiner Erwählten nur durch einen ewigen Feldzug gegen die Verworfenen lösen kann. Der christliche Westen sakralisiert sich zum Opfer, nachdem er Jahrhunderte lang andere Völker im Namen seines Gottes vor sich hertrieb, zwanghaft missionierte und bedenkenlos ausbluten ließ.

Schnee von gestern? Der Mensch der Moderne soll die Instinkte seiner tierischen Vorfahren in sich haben, von denen er sich vor Millionen Jahren trennte. Verglichen damit ereigneten sich die Grausamkeiten der abendländischen Geschichte vor Millisekunden – und dennoch sollen sie uns nichts mehr angehen?

Das Gedächtnis der Opfer vergisst nicht. Es vergäße nur, wenn der Westen seine früheren Schandtaten bekennen würde und eine grundlegend andere, humane Politik betriebe. Tut er nicht. Noch immer stehen seine Soldaten mit Waffen, Pipelines, billigen Produkten und Bestechungsgeldern in den Ländern der Unterlegenen, um ihre Rohstoffe abzusaugen und ihre Besitzer zu willfährigen Marionetten seiner Weltbeherrschung zu degradieren.

Deutschland beteiligte sich lange an keinem Waffengang. Doch seine Zivilwaffen aus technologischer und ökonomischer Überlegenheit überfluten Freund und Feind und zertrampeln sie zu minderwertigen Konkurrenten.

Seit ihrer nationalen Sammlung ist Krieg das beste Mittel der Verspäteten, um den Wettlauf der Nationen mit Bravour und einer fetten Null zu gewinnen. Inzwischen beteiligen sie sich immer mehr an den Waffengängen der reichen Staaten gegen die armen. Und glauben, ihre Soldaten seien Samariter in Uniform. Von Afghanen könne man verlangen, dass sie zu Hause blieben und nicht nach Deutschland flüchteten, dekretiert ein deutscher Innenminister. Schließlich hätten die Deutschen vorbildliche Aufbauarbeit im Land geleistet. Halten zu Gnaden!

„Der Krieg gehört zum Wesen des Staates, er ist die größte Schule des Charakters und der Eigenart des Staates. Politische Interessenkämpfe der Staaten untereinander müssen nach anderen Maßstäben beurteilt werden als das moralisierende Publikum bisher anzulegen gewohnt war. Kriegsgründe entsprangen niemals dem Eigendünkel der Regierenden, wie ein verweichlichter, verderbter Pöbel sich die Sache denken mochte; es waren immer tieferliegende, in der notwendigen Konstruktion der gesamten Staatenverhältnisse liegende Gründe.“ (Adam Müller, Staatstheoretiker der Romantik)

Das Verhältnis moderner Staaten zueinander ist – selbst, wenn sie sich als Freunde ausgeben – der ewige Krieg um technische Vorherrschaft und wirtschaftliche Überlegenheit. Deutschlands Wirtschaftsgiganten lassen ihren schwächeren Konkurrenten keine Chancen:

„Deutschland unterhält mit dem Rest der Welt einen Leistungsbilanzüberschuss von 8,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist ungefähr der Betrag, den wir mehr exportieren als importieren. Diese Zahl ist ungeheuerlich, keineswegs ein Zeichen deutscher Stärke, sondern eines in sich kranken Systems.“ Schreibt Wolfgang Münchau in SPIEGEL.de.

Die Superreichen, die vor Geld nicht mehr aus den Augen schauen können, kaufen und besetzen alles in der Welt, was nicht niet- und nagelfest ist und ihren grenzenlosen Besitzerwahn anstachelt. New York, London und die wichtigsten Metropolen werden von ihnen aufgekauft.

„New York, immer schon eine beliebte Spielwiese von Spekulanten, Projektentwicklern, Immobilien-Mogulen und Maklern, ist bei der internationalen Geld-Elite begehrt wie selten zuvor. Superreiche aus der ganzen Welt – egal ob Chinas neue Milliardäre oder Russlands alte Oligarchen – reißen sich um ihr Stück vom Big Apple. Luxus-Immobilien wie One Riverside Park, One57 oder Hudson Yards sollen die Stadt noch schicker und prachtvoller machen.“ (BILD.de)

Riesige Ländereien in Afrika, Rumänien, in der Ukraine, in Ostdeutschland werden von dem EINPROZENT unter den Nagel gerissen. Immer mehr wird der Wettbewerb angeheizt, das Klima hochgetrieben. Bald werden die Malediven überschwemmt, afrikanische Länder vor Hitzewellen unbewohnbar sein. Millionen Menschen werden heimatlos und machen sich auf den Weg in die Länder jener, die den planetarischen Reibach machen.

Die an Selbstgerechtigkeit nicht mehr zu überbietende Frage: was macht normale junge Menschen zu Terroristen, beantwortet sich aus dem Gesamtzustand der Erde, deren besten Teile sich die Superreichen aus aller Welt unter den Nagel reißen. Terrorist wird man aus moralischer Empörung und gefühlter Benachteiligung, die in die religiöse Epoche der Kindheit zurückfallen. Christen sollten dies wissen, deren Märtyrerväter sich aus Gerechtigkeitsgründen dem römischen Staat auslieferten, damit sie das irdische Reich der Sünde verlassen und ins himmlische Reich gerechter Freuden aufsteigen könnten.

Oh doch, die Menschheit macht Fortschritte im Lernen des Humanen. Welch überwältigender Beweis der Verbundenheit für die heimgesuchten Pariser aus der ganzen Welt. Selbst aus muslimischen Staaten, die noch vor 10 Jahren nicht daran gedacht hätten, ihre brüderlichen „Dschihadisten“ durch Solidarität mit den Ungläubigen zu verraten.

Die Gläubigen der Erlösungsreligionen sind dabei, die Barbarei ihrer heiligen Schriften weit hinter sich zu lassen. Die göttliche Brutalität der Buchstaben ihrer Offenbarungsschriften ist für sie nicht mehr verbindlich.

Doch leider fehlt ihnen der Mut, die buchstäbliche Grausamkeit ihrer göttlichen Gebote mit dem unmissverständlichen Buchstaben der Vernunft zu bekämpfen und aus dem Weg zu räumen. Allegorische und metaphorische Windbeuteleien und Deutungskünste sind keine Kritik. Den brutalen Originaltext überlassen sie jenen Verzweifelten, die ihn nutzen, um ihre Wut gegen die ungerechte Welt in knechtischem Gehorsam zu vollstrecken.

Die Welt fühlt nur mit, wenn Menschen liquidiert werden. Wenn sie hingegen „nur“ verhungern, an Mangelkrankheiten und Armut verrecken – muss das der eiserne Wille der Evolution sein, gegen den niemand etwas ausrichten kann. In allen Dingen dürfen sich Menschen verbunden fühlen, nur nicht in jenen, die das Wirtschaftssystem des Westens tangieren oder beschädigen.

Das Elend, welches Menschen aus ihrem alltäglichen Egoismus reißt, muss eine Not des Todes sein. Darunter machen‘s die Gerechtigkeitsgefühle der Menschen nicht, die seit 3 Jahrhunderten einer mitleidslosen Wirtschaftsmoral ausgeliefert sind. Der Satz vom verweichlichten, verderbten Pöbel gilt auch im Bereich ökonomischer Konkurrenz. Wer nicht bedenkenlos ranklotzen kann – auch gegen die Interessen anderer –, ist nicht geschickt fürs Himmelreich des Mammons.

Woher kommt der Terror? Aus Verletzung der menschlichen Würde. Woraus besteht die Würde? Aus dem Recht, ein volles und erfülltes Leben auf Erden zu leben. Zu einfach, zu leicht, wetzen hier geübte Komplex-Denker das Messer. Für sie gibt es keine obersten Ursachen, die alle sekundären und tertiären Ursachen in sich schlössen.

„Nach dieser werden persönlich erlebte Fehlschläge, aber auch tatsächlich erfahrene und vorhandene Diskriminierungen auf einen einzigen angeblichen Zusammenhang gebracht. Und so soll der imperiale „weiße“ Rassismus mit seinen westlichen Demokratien in seiner Gesamtheit an so ziemlich allem in der Welt schuld sein.“ (TAZ.de)

Es gibt oberste Ursachen. Es sind jene, aus denen alle konkreten sekundären Folge-Ursachen konsequent abgeleitet werden. Kriege und politische Verwerfungen sind Folgen verletzter Moralgefühle. In einer sorgenfreien und zufriedenen Welt gäbe es keine Kriege und Attentate. Wäre es nicht unglaublich langweilig im Paradies? Also sorget für unterhaltsame Scharmützel, 9/11-Events und spannende Blutbäder, damit die Lust- und Paradiesangst der gefallenen Sünder auf ihre Kosten kommt.  

Terroristen sind Krieger ohne nationale Definition. Oft sind sie mutiger als ihre Gegner, die in überlegener Waffengewalt daherkommen. Ihr Mut entspringt dem fanatischen Glauben an einen unfehlbaren allmächtigen Gott.

Die Idee eines europäischen Staatenbundes existiert schon seit Jahrhunderten. Kants Utopie eines Völkerbunds auf dem Weg zum ewigen Frieden umfasste noch die ganze Welt. Ab der Romantik verengte sich der Radius des friedlichen Zusammenschließens auf die Wiederherstellung des Heiligen römischen Reiches katholischer Observanz. Novalis verfasste die Schrift „Christenheit oder Europa“.

„Und also wird das neue Europa, die neue Christenheit, die neue sichtbare Kirche sein, die alle nach dem Überirdischen dürstenden Seelen in ihren Schoß aufnehmen wird. Denn der Geist der Christenheit ist ein alles umarmender, ein freier Geist. Das Fragment wurde das Programm für jene politische Anschauung, welche den Gipfel des Staatslebens in dem theokratischen Regiment und dem von diesem garantierten Gottesfrieden erblickte, welcher in der Aufklärung, der wissenschaftlichen und politischen Bildung der modernen Zeit nur einen Abfall und einen zu sühnenden Frevel betrachtete.“ (Rudolf Haym, Die Romantische Schule)

Der vatikanische Überbau sollte Europas zerstrittene Nachbarn wieder unter Gottes Geboten zusammenführen. „»Ihr wollet einen Staatenstaat?« rief Haller, Staatsphilosoph Friedrich Wilhelms IV. »Wer realisiert ihn besser als die christliche Kirche?« Die Kirche bot gegen das kosmopolitische Gift der Grundsätze von 1789 nicht nur kosmopolitisches Gegengift, ihre universale, übernationale und überstaatliche Autorität und Macht war auch eine wirksame Schranke gegen den gefährlichsten Feind seines Patrimonialstaates: die moderne Demokratie und die moderne Nation.“ (Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat)

1789 gegen 1914: die Kontroverse zwischen dem Westen und dem Wilhelminischen Reich vor dem Ersten Weltkrieg wurde in der Romantik ausgebrütet.

Zwar gab es viel Gerangel um die Vorherrschaft des Protestantismus und des Papismus. Doch als Bismarcks Kulturkampf gegen Rom kläglich scheiterte, begannen politische Annäherungen der beiden Kirchen.

Was heute niemand wissen will: der Nationalsozialismus war eine bewusst ökumenische Vereinigung beider Kirchen auf dem Boden einer 1000-jährigen ecclesia militans. Hitler verachtete die dogmatischen Querelen der beiden Konfessionen und erhob den Anspruch, die Kopfnickerkirchen zu ersetzen durch ein Endreich mit messianischer Führerfigur.

Von Katastrophe zu Katastrophe taumelt Europa wieder einer übernationalen Theokratie entgegen. Manche Oststaaten lehnen muslimische Flüchtlinge mit dem Hinweis ab, sie seien christliche Nationen und wollten ihre Identität nicht aufweichen. Gestern fand in Notre Dame ein feierlicher Gottesdienst für die Opfer der Pariser Anschläge statt. Frankreich scheint seine laizistischen Grundlagen mehr und mehr zu vernachlässigen. Die adligen Oberschichten waren ohnehin schon immer elitär-katholisch.

Deutschland verklärt das Attentat zu einem sakralen Ereignis, das rationale Ursachenforschung aus Gründen der Pietät erst mal verbiete.

Gott steh uns bei – rief die Chefin der BAMS, um zum erbarmungslosen Waffengang gegen den IS aufzurufen:

„Wir müssen den ISIS-Terror dort bekämpfen, wo er herkommt: in Syrien und im Irak. Und zwar härter als bisher. Erbarmungsloser. Nicht nur mit Geld und Waffen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal schreiben würde, aber jetzt tue ich es. Wem es hilft, der solle beten, hat de Maizière gesagt. Er tue es. Das ist gut. Denn Gott steh uns bei bei dem, was jetzt vor uns liegt.“ (BILD.de)

Joachim Frank, Kirchenredakteur der BLZ, ruft entsetzt:

„Die Terroristen in Paris haben für ihre Anschläge den „allmächtigen Gott“ vorgeschoben. Mit der Orgie von Gewalt und Tod in Paris hat Gott nichts, aber auch gar nichts zu tun.Der „allmächtige Gott“ lässt sich verdammt leicht vor den Karren der Terroristen spannen. Doch nach allem, was die heiligen Schriften der Religionen und zum Glück auch die Praxis gläubiger Menschen in ihrer überwältigenden Mehrheit über Gott sagen, ist er keiner, der diesen Todeskarren zieht. Das besorgen die Terroristen schon ganz von allein. Wenn sie dem Wort Gottes, dem sie angeblich folgen, auch nur in Spurenelementen glauben, dann sollen sie wissen: Für das, was sie in Paris getan haben und in Syrien oder im Irak täglich anrichten, werden sie in der Hölle schmoren.“ (Berliner Zeitung.de)

Die Bösen sollen in der Hölle schmoren? Die Strafe in der Hölle ist der schlimmste Krieg, den ein Allmächtiger gegen seine Geschöpfe führen kann. Franks Kommentar ist die reinste Verblendung. Von Kreuzzügen, Hexenprozessen und Inquisition scheint er noch nie gehört zu haben.

Morden Terroristen im Auftrag eines Gottes? Natürlich nicht. Götter gibt es nicht. Sie töten im Auftrag ihres eigenen Ichs. Diesem Ich geben sie den Namen Gott, um in der Welt Furcht und Schrecken zu verbreiten. Der erfundene Gott befiehlt in heiligen Schriften schreckliche Dinge, um seinem Namen Respekt in der Welt zu verschaffen.

Das betrifft alle heiligen Schriften der Christen, Muslime und Juden. Insofern ist es sehr wohl nötig, dass humane Gläubige aller drei Monotheismen sich von den Terrorakten distanzieren, die im Namen ihres jeweiligen Gottes verübt worden sind. Nicht willkürliche Deutungen zählen, es zählt der eindeutige Buchstabe.

Zu Recht verurteilt Jakob Augstein die angekündigten Rachekampagnen gegen die Muslime. Dies aber im Namen „unserer Werte“, die „abendländische“ sein sollen. Da darf die Bergpredigt nicht fehlen:

„Die abendländischen Werte, wenn man sie denn ernst nähme, sehen anders aus. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“, heißt es im Matthäus-Evangelium. Davon weiß ein Kulturkämpfer wie Döpfner nichts und ein Wort sucht man bei ihm darum auch vergebens: Liebe. Der Theologe Karl Barth hat einmal gesagt: „Wirklich vergeben können nur die, die eigentlich nichts zu vergeben haben, weil sie selbst genug auf dem Kerbholz haben.“ Aber leicht ist das nicht. Die abendländischen Werte sind anstrengend und anspruchsvoll. Das macht sie so kostbar.“ (SPIEGEL.de)

Übergehen wir, dass Augstein den Hoftheologen seines Vaters Martin Walser – der keine Mühe hat, Pastorensohn Nietzsche mit Pastorensohn Barth zu synthetisieren – rehabilitieren will. Diejenigen, die etwas auf dem Kerbholz haben, können sehr wohl vergeben. Auch an ihnen wurde Schuld verübt, sonst wären sie keine Bösen geworden. Wenn nur perfekte Heilige vergeben können, darf kein Mensch vergeben. Der Bergprediger wird seiner Doktrin selbst nicht gerecht. Denn allen Sündern, die er ins ewige Feuer schickt, gewährt er mitnichten Barmherzigkeit. Für Nächstenliebe gilt das gleiche.

Für Augstein sind christliche und abendländische Werte identisch. Von griechischen Werten hat er noch nie gehört. Dass das sokratische Motto: besser Unrecht erleiden als Unrecht tun, die Vorlage für den Nazarener war, muss keinen deutschen Abendländer interessieren. Noch weniger, dass Jesus die Ethik der Hasslosigkeit durch Einfügen in ein Himmel- und Höllenspektakel ins wüste Gegenteil verkehrte.

Moralische Werte können anstrengend sein; sind sie aber selbstbestimmt, kommen sie von Herzen. Wenn sie aber so anstrengend sind, dass niemand sie erfüllen kann, sind sie keine erlernbaren Regeln der Humanität mehr, sondern Verdammungsgesetze eines Erlösers, der allen Menschen zeigen muss, dass sie ohne Erlösung verloren sind. (Luther nennt die Verdammungsfunktion der Bergpredigt: duplex usus legis, vom zweifachen Gebrauch des Gesetzes.)  

Augstein spricht von „unseren kostbaren Werten“, um sie von minderwertigen Werten anderer Kulturen abzuheben. Womit er erreicht, was er strikt vermeiden wollte: die Diskriminierung aller Nicht-Abendländer. Die menschenverbindende Moral der Vernunft – etwa die der Menschenrechte – bleibt beim Sonderweg-Abendländer Augstein auf der Strecke.

Wie kann man Kindern die Vorfälle in Paris erklären? Auf keinen Fall durch Hinweis auf den Fanatismus der Religionen. Auf keinen Fall durch die Wahrheit. So die Hinweise eines Traumatologen in der ZEIT:

„Wenn Kinder jetzt fragen, kann das auch bei mir in der Kita passieren, wäre die richtige Antwort: Nein, das ist in Paris passiert, in deiner Kita passiert das nicht.

Frage: Es ist eine Lüge, oder?

Lüdke: Nein. Es ist eine Zwischenform der Wahrheit. Sonst entsteht Panik im Kind.“ (ZEIT.de)

Nicht politisch-religiöse Hintergründe der Taten sollen erörtert, sondern sachliche Informationen gegeben werden, damit die Kinder nicht beunruhigt werden. Verknüpft mit dem fremdenfeindlichen Hinweis, dass niemand von uns die Täter sein könnten.

„Grundsätzlich geht es darum, möglichst schnell Abstand zu bekommen, Ruhe zu finden und vor allem gesicherte Informationen zu erhalten. Informationen geben Sicherheit. Außerdem können die Pariser, diese Schicksalsgemeinschaft, nun sagen: Es war niemand von uns, das waren andere, die gehören nicht zu uns.“

Das ist die wahre Katastrophe, die in Europa eingetreten ist. Kinder muss man belügen, wenn man ihnen die Schandtaten der Politik erklären will. Doch Lüge soll es keine sein. Es handele sich nur um eine Zwischenform der Wahrheit.

Die schlimmste Form der Lüge ist die halbe Wahrheit. Sollten abendländische Werte darin bestehen, Kinder mit halber Wahrheit hinters Licht zu führen, muss die Zukunft der Kinder eine ganze Lüge sein.

Der unsichtbare Krieg der Europäer gegen die Welt: in Paris ist er sichtbar geworden.