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Demut und Macht

Hello, Freunde der Gerechtigkeit,

die Griechen wollten eine gerechte Polis und erfanden die Demokratie. Paulus wollte die Gerechtigkeit Gottes und erfand das Christentum.

Platon wollte einen gerechten Staat auf Erden, die Christen suchen die gerechte Stadt Gottes im Himmel.

Ungerechte Verhältnisse sollten in Athen durch politische Beteiligung des ganzen Volkes reformiert werden. Das Mittel gegen Ungerechtigkeit war Politik.

Ungerechte Verhältnisse in Jerusalem sollten durch Vernichten des Irdischen und durch Etablieren eines ganz Neuen und Jenseitigen ausgerottet werden. Das Mittel gegen Ungerechtigkeit war politikfeindliche Religion. Nicht der Mensch sollte seine Probleme lösen, sondern Gott.

Der Grieche konnte grausam sein, doch durch Religion war er nicht gezwungen, böse zu sein. Er konnte gut werden, indem er über das Gute nachdachte, in der Volksversammlung mit allen Bürgern darüber stritt und mit Mehrheitsentscheidung in ein allgemeines Gesetz verwandelte. Das Gute konnte man lernen.

Lernen war ein philosophischer und politischer Akt. Gut konnte der Einzelne werden a) durch einen guten Staat und b) durch eigenes gutes Verhalten, der Frucht seines Nachdenkens und

Debattierens mit seinen Polisbrüdern.

(Die Schwestern waren noch ins Haus verbannt, doch ihre Emanzipation hatte in der Philosophie der Sophisten schon begonnen. Diotima war die Lehrerin des Sokrates, Sappho brauchte keine Männer, um glücklich zu sein.)

Gute Menschen waren notwendig, um einen guten Staat, ein guter Staat war notwendig, um gute Menschen zu schaffen. Privates und politisches Verhalten waren keine Gegensätze, sie bedingten einander. Gute Strukturen schufen gute Menschen und umgekehrt. Einen Gegensatz zwischen Struktur und Mensch gab es nicht.

(Erst in der christlichen Moderne wurde Struktur zum Nachfolgebegriff des angeborenen Bösen. Bei Marxisten lag das „Böse“ in der Struktur, im christlichen Westen liegt es in der angeborenen Sündhaftigkeit des Einzelnen.)

Das Christentum hasste Natur, Welt und den Staat. Die „Reform“ der dem Teufel verfallenen Schöpfung war ihre Vernichtung.

(In der großen Streitfrage der 68er über Reform oder Revolution spielte der Hass aufs teuflisch-Etablierte noch immer eine Rolle. Das dämonisierte Bestehende musste mit der unrettbaren Wurzel total rausgerissen werden, eine sukzessive „Stückwerktechnologie“ wäre das Zugeständnis gewesen, dass im Staate Dänemark nicht alles faul ist. Nicht Lernen durch Versuch und Irrtum, sondern revolutionärer Eingriff durch Erschaffen einer weißen Leinwand, einer tabula rasa, eines völlig Neuen, war die Losung der Christo-Marxisten.)

Alles Irdische war ein unheilbar Krankes, dessen schlimmste Wunden man abtupfen, partiell ein wenig lindern, aber niemals als Ganzes hätte heilen können. Das Irdische lag im Koma und konnte noch einige Atemzüge tun, dann käme der Heiland durch die Tür der Intensivstation, würde der Halbleiche endgültig die Kabel aus dem Stecker ziehen und aus dem Getöteten einen ganz neuen Menschen zaubern.

Das partielle Lindern der Wunden waren die Almosen und guten Werke der Christen, die nicht den Zweck der Heilung hatten, sondern des Sammelns von Pluspunkten, um sich im Jüngsten Gericht ein besonderes Plätzchen neben dem RICHTER aller Menschen zu sichern.

Mit allgemeinen Gesetzen den Schwachen im Staat zu helfen, ist Christen ein Gräuel. Gesetze des Staates sind kalt. Gesetzliche Hilfe ist abstrakt und meint nicht den „je Einzelnen“, sondern erniedrigt ihn zum gesichtslosen Exemplar einer Gattung.

Wer seinem Nächsten Almosen gibt, meint ihn als unverwechselbare Person. (Aus diesem Grund wollte Sloterdijk die gesetzliche Sozialhilfe und die allgemeine Steuerpflicht abschaffen, um mit Hilfe des persönlichen Gnadenprinzips der „abstrakten Kälte des Gesetzes“ zu entgehen.)

Indem man tat, als ob man anderen hülfe, half man sich selbst. Was ihr einem dieser geringsten Brüder getan habt, das habt ihr Mir getan. Hilfe für die Welt war nur Mittel zum Zweck für die Selbsthilfe, sich sein egoistisches Anrecht auf Seligkeit zu verdienen.

Christen sprechen von Altruismus, als ginge es um das Wohl des Anderen (alter). Dabei geht es nur um das Wohl des eigenen Ich. Der Kern des christlichen Altruismus ist der Egoismus des Gläubigen, sein eigenes Heil unter Furcht und Zittern zu schaffen.

Uneigennützigkeit gibt es nicht in der Religion der Nächstenliebe. Wer Letzter sein will, will Erster werden. Wer sich auf Erden demütig zeigt, dessen Name soll im Himmel angeschrieben werden. Wer sich schwach macht, will, dass Gott im Schwachen mächtig ist. Wer gibt, will, dass ihm vielfältiger Lohn im Jenseits gegeben wird. Alles ist ein Deal mit dem Himmel.

Äußerlich agieren die Christen auf der Bühne des theatrum mundi, innerlich sind ihre Transaktionen gen Himmel gerichtet. Das ergibt eine oblique Dreierbeziehung. In irdischer Währung werden auf indirektem Wege unverrottbare Schätze im Himmel ergattert.

Wer Schwachen und Kranken hilft, hilft nicht ihnen, sondern sich selbst. Wir erleben die Erniedrigung des notleidenden Menschen zum Hilfsobjekt, dessen Leid willkommen ist, um die eigene Seligkeit zu gewinnen.

Ein Hilfsobjekt ist kein mündiges Subjekt. Die Würde des Hilflosen ist angetastet, wenn seine Schwäche als Vorwand benutzt wird, um seine eigene Schwäche vor dem Himmel auszuwetzen. Das christliche Credo entmündigt alle Schwachen und degradiert sie trickreich zu Instrumenten derer, die gute Werke benötigen, um das Himmelreich zu gewinnen.

Dabei ist den Frommen das Problem einer autonomen Moral durch die hellenische Kultur bekannt. In den philosophischen Schulen sollte der Mensch Gutes tun, um des Guten willen, nicht wegen Privilegien oder um ewigen Lohn zu kassieren und ewige Strafe zu vermeiden.

„Habt acht auf eure Almosen, daß ihr die nicht gebet vor den Leuten, daß ihr von ihnen gesehen werdet; ihr habt anders keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Schulen und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich“.

Gott wird eingeführt, als sei er ein strenger Sokratiker – oder Kantianer. „Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“ (Kant)

Woran erkennt man das kategorische Gute, das Kant vom hypothetischen Guten unterscheidet? Letzeres will mit dem Guten etwas anderes als das Gute. Das Erstere will das Gute um seinetwillen. Jede tugendhafte Handlung, „die nicht um des Gesetzes willen geschieht, wird zwar „Legalität, aber nicht Moralität enthalten.“

Das heutige Motto almosengebender Reicher: Tu Gutes und sprich drüber, ist ein Affront gegen das heilige Wort. Dass die Linke nicht wissen soll, was die Rechte tut, ist eine Aufforderung, das Gute zu tun, ohne dass man es selber bemerkt. Kann man sich bewusst vornehmen, etwas Unbewusstes zu tun?

Das ist psychologisch Kokolores und moralisch nicht zu empfehlen. Wie soll man sein eigenes moralisches Tun überprüfen oder von Freunden überprüfen lassen, wenn man es in geheimnisvolles Dunkel taucht – das als Kriterium unter Freunden gar nicht zu verheimlichen ist und also geeignet, den Dunkelmann mit einer besonderen Aura zu versehen?

Streng genommen ist Gott gar kein Kantianer, er tut nur so: auch Ihm geht’s um den Lohn: „… dessen Lohn ist dahin“. Doch das muss der wahre Lohn des Himmels sein. Wer Gutes tut, damit sein Name im Himmel angeschrieben ist, auf dem ruht das Auge des Herrn mit Wohlgefallen.

Nach Kant ist dieser Lohnsüchtige kein Moralist, sondern ein Legalist. Also einer, der das autoritär Verordnete aus Anpassungsgründen tut, damit er bei irdischen oder himmlischen Obrigkeiten das Bundesverdienstkreuz am Bande bekommt. Der Gläubige soll darauf achten, beim Gutestun von niemandem gesehen zu werden – außer von der höchsten Macht selbst, die alles sieht und unendlichen Lohn oder unendliche Strafe vergeben darf.

Der Mensch soll sich vom Urteil seiner Mitmenschen abnabeln und nur noch vom Urteil Gottes abhängig sein. Womit jede intakte Gemeinschaft und jede stabile Demokratie am Boden zerstört wird.

In der Demokratie war der Einzelne der Polis rechenschaftspflichtig, im Reich der Himmel soll der Fromme sein Herz allein einem unbekannten Gott unterstellen. Das ist der Tod aller sozialen Netzwerke und aller demokratischen Rechte und Pflichten.

Wieder einmal hat der eifersüchtige Herr des Himmels zugeschlagen, der es nicht erträgt, dass seine Kreaturen sich untereinander mehr lieben als Ihn und sich wichtiger nehmen als ein Phantom über den Wolken.

Keine Demokratie lebt ohne Überprüfung der öffentlichen Moral durch die Öffentlichkeit. Wer hier die Augen zumachen oder sich selbst der Überprüfung entziehen wollte, der wäre ein Feind der freien Debatte auf der Agora. (Privates Verhalten muss dem privaten Umfeld vorbehalten bleiben.)

Menschen, macht euch unabhängig von Urteil und Anerkennung der Menschen, macht euch allein abhängig von meinem göttlichen Urteil, spricht der Herr zu seinen Erwählten.

Allmählich verstehen wir die aktuelle Brisanz des allsehenden NSA-Auges. Es ist die Fortsetzung des göttlichen Auges, unter dessen Allwissenheit der Mensch nicht nur leidet. Er benötigt auch dieses Auge, damit es eine Instanz in der Welt gibt, die seine unbekannten Ruhmestaten und heimlichen Leiden, sein Unverstandenwerden von der Welt, die vielen Ungerechtigkeiten, die er erdulden muss, sieht, versteht, ihn tröstet und ihm vergibt.

Selbstmitleid gilt als nationale Untugend der Deutschen. Warum sind gerade die Deutschen voller Selbstmitleid? Weil sie niemanden haben, der sie bemitleidet. Sie selbst schämen sich, ihr Herzeleid zu klagen. Demonstrativ zu leiden entspricht nicht den entthronten Herrenmenschen, die noch immer keine Schwäche zeigen dürfen.

Hätten die Deutschen die Fähigkeit, Mitleid zu fordern und zu zeigen, zu trösten und zu ermuntern, müssten sie sich nicht selbst bemitleiden. Zu zweit macht Sex auch mehr Spaß.

Hitler hat den Deutschen das nationale Jammern aus tiefer Not ausgetrieben. Sein Regime wird von vielen deutschen Historikern noch immer als gottloses Teufelsregiment betrachtet. Die Historiker kennen nicht den Unterschied zwischen ecclesia triumphans und ecclesia patiens, der siegreichen und der leidenden Kirche. Die Verherrlichung eines starken Staates halten sie für heidnisch, den Gekreuzigten für ein Symbol der Schwäche. Am Kreuz aber hat der Herr Tod und Hölle besiegt: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?

Das Hitlerregime war die Inkarnation der triumphierenden Kirche, die die Epoche der leidenden Kirche für immer beenden sollte.

Die Deutschen brauchen eine allsehende Instanz, die ihre verborgenen Tugenden wahrnimmt und die vielen Ungerechtigkeiten, die sie dulden müssen, ohne sich beklagen zu dürfen. An eine allwissende Instanz haben sie sich längst gewöhnt und wollen sie nicht missen. Die Vorteile des Wahrgenommen- und Bemitleidetwerdens überwiegen die Nachteile des sadistischen Kontrolliertwerdens. Die NSA, liebe Digitalisten, ist keine technische, sondern eine theologische Disziplin.

Das Neue Testament war die Frucht zweier Traditionsströme, des Judentums und des Griechentums. Beide Traditionen spielte es gegeneinander aus, um beide in den Schatten zu stellen. Die Vorteile der Griechen und Juden wollte es überbieten, ohne deren Nachteile in Kauf zu nehmen.

Am Beispiel der schein-autonomen Moral lässt sich das nachweisen. Sei moralisch, weil du moralisch sein willst, und nicht um moralfremde Vorteile zu kassieren. Im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner wird das besonders deutlich.

Der selbstgerechte Pharisäer stellt sich mitten in den Tempel, dass sein Beten von allen gesehen wird und dankt seinem Gott für seine extraordinäre Frömmigkeit: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe.“

Der Zöllner war – was heute wieder von allen Politikern gefordert wird – Inbegriff der sündenbewussten Demut: „Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!

Wer war der Frömmere? Der demütige Zöllner, der seine Tempelandacht im Verborgenen hält, sich minderwertig und hilfsbedürftig empfindet, während der narzisstische Pharisäer vor Gott mit seiner Frömmigkeit auftrumpft und seinen gerechten Lohn dafür fordert.

Gab es nicht den Deal zwischen den Kindern Israels und ihrem Gott, dass das Halten der biblischen Gebote mit guten Gaben des Himmels zu belohnen wäre? Das war ein klarer Vertrag und musste von beiden Vertragspartnern auf (fast) gleicher Augenhöhe eingehalten werden.

Dieses jüdische Selbstbewusstsein vor Jahwe war im Christentum ins Gegenteil verkehrt worden – auf den ersten Blick. Der Christ hatte nichts Gleichwertiges zu bieten, um seinen Gott zur Vertragstreue zu nötigen, ja, mit ihm zu kämpfen, wie einst Jakob oder Hiob mit ihrem Gott gerungen und gestritten hatten. Christen waren Sünder, die nur um Gnade winseln konnten – auf den ersten Blick.

Doch auf den zweiten Blick waren sie den Juden haushoch überlegen, deren buchstabengetreues Beobachten der Gesetze sie nicht mehr nötig hatten. Gerade ihre Demut und ihr Sündenbewusstsein ließ sie die Juden himmelweit übertreffen. Ihre Schwäche wurde zur Stärke, ihre eingestandene Misere verlieh ihnen die ersten Plätze im Himmelreich:

„Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Die selbst-gerechten Juden hatten sich erhöht und überschätzt, sie wurden von Gott erniedrigt. Die Christen warfen sich in den Staub und bekannten ihre Nichtswürdigkeit, dafür wurden sie von Gott belohnt. Ihre Gerechtigkeit war keine Selbst-Gerechtigkeit, sondern eine von Gott geschenkte Fremd-Gerechtigkeit.

Damit hatten sie die Griechen und Juden in den Schatten gestellt. („Jüdische“ Selbstgerechtigkeit gilt noch heute als Charakterdefekt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass heteronome „Christen“-Gerechtigkeit noch immer das Maß aller Dinge sein muss.)

Die Griechen hatten sie übertrumpft, deren autonome Moral zu weit ging und ohne Gott auskommen wollte und die Juden, deren Selbst-Gerechtigkeit von der Gottes-Gerechtigkeit der Nazarener übertroffen wurde.

Doch wie gewonnen, so zerronnen. Jede Demut, die zur Taktik wird, um himmlischen Lohn zu ergattern, verliert ihren Demutscharakter und wird zur berechnenden List. Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden, seine Demut hat er zur Scheindemut instrumentalisiert. Der Zöllner spricht wie der Pharisäer, bloß mit umgekehrter Strategie: ich danke dir Herr, dass ich nicht so eitel und selbstgerecht bin wie dieser Pharisäer – und erwarte deine Gnade als Belohnung meiner Selbstauslöschung.

Bis heute fühlen sich die Christen der zwanghaften und moralisierenden Gebotstreue der Juden überlegen. Sie haben die Freiheit der neuen Kinder Gottes errungen, die auf Werkgerechtigkeit nicht mehr angewiesen sind. Sie sind frei vom Gesetz, frei vom Buchstaben des Gesetzes. Sie stehen über allen Geboten und über aller Buchstabenfixiertheit der rabulistischen Rabbiner. Im Wettlauf zu Gott hat der Zöllner den Pharisäer überrundet.

Gerade die deutschen Christen fühlten sich als Jünger eines Jesus, der sie vom Fluch des Gesetzes befreit hatte, weshalb sie sich berechtigt fühlten, die alttestamentarischen Juden mit Hochmut und Verachtung zu traktieren. Die germanischen Schüler hatten die jüdischen Lehrer übertroffen, eine nicht geringe Quelle jenes Antisemitismus, der zum Holocaust führen sollte.

Die christliche Ethik wollte sich vom moralverfälschenden Lohngedanken befreien, ohne sich vom allsehenden Herrn über Himmel und Hölle zu befreien. Die halbherzige Befreiung wurde zur vollständigen Selbstfesselung und immerwährenden Selbstbespiegelung:

Bin ich wirklich demütig? Bin ich nur demütig, um demuts-stolz zu sein? Wurde ich Letzter, um Erster zu werden? Wurde ich Knecht, um Herr zu sein? Wurde ich schwach, um Macht über die Menschen zu gewinnen?

Seit der List und Hinterlist dieser instrumentellen Umzu-Moral, die eine kategorische Moral sein will, gibt es in der Geschichte des Abendlands keine Tugend mehr, der man nicht misstrauen, gibt es keine Moral mehr, die man auf ihre versteckten Interessen abklopfen müsste.

Jeder Abendländer, der selbstkritisch sein will, muss sein Innenleben wie ein vertracktes Spiegelkabinett betrachten, in dem nichts ist, wie es scheint und nichts scheint, wie es ist. Der Reflektierende misstraut sich so sehr, dass er weder seinen Gedanken noch seinen Taten über den Weg trauen darf. Er bleibt ein Zerrissener, dem alle naive Selbstgewissheit des Lebens abhanden gekommen ist.

Das unendlich gebrochene Reflektieren führte zur notorischen Selbstschwächung des Nachdenklichen. An dieser Stelle verfluchte Nietzsche alles bewusste Herumklügeln und Moralisieren, das er ausgerechnet an Sokrates festmachte und propagierte das über allen Zweifel erhabene und im Blut verankerte Instinktverhalten.

Weg mit dem enervierenden Grübeln, dem Erforschen der unendlich atomisierten Seele. Den neuen Herrenmenschen erkennt man an der wiedergewonnenen rassischen Selbstsicherheit aus einem Guss.

Was in Demut begann, endete unvermeidlich im Willen zur Macht.