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Das Schröder-Prinzip

Hello, Freunde des Schröder-Prinzips,

für einen sozialdemokratischen Ex-Kanzler ist Politisches Privatsache und private Dinge gehen niemanden etwas an. Weshalb er seine privaten „Geheimnisse“ dennoch der Öffentlichkeit enthüllt, bleibt sein Geheimnis.

Dem singenden Sportreporter Reinhold Beckmann hat Schröder einen mehrere Monate dauernden Einblick in sein faszinierendes Rentnerleben „gewährt“ wie ein Kaiser einem Untertan eine Audienz gewährt.

Beckmann, der vermutlich wie sein Kollege Jauch, ein Journalist sein will, hat seine Talkshow in eine Talkreise verwandelt. Hallo, Herr Beckmann, entschuldigen Sie die indiskrete Frage: ist bei so viel Nähe noch professionelle Distanz möglich? Darüber haben Sie noch nie nachgedacht? Okay, dann ziehen wir die Frage zurück, wir wollten Sie nicht in Verlegenheit bringen.

Wenn Journalisten die Wirklichkeit erkunden – sie nennen es Recherchieren , machen sie sich energisch auf den Weg. Meistens „quer“. Quer durch Deutschland etwa. Oder quer durch den indischen Subkontinent. „Quer“ ist ein Lieblingswort deutscher Journalisten, die zeigen wollen, dass sie Querdenker sind, weil sie gegen den Strom schwimmen. Das Publikum soll wissen, dass recherchierende Journalisten keine Duckmäuser und Anpässlinge sein können.

Diese Form des Recherchierens ist aufwändig und teuer, muss aber nicht in jedem Fall sinnlos sein. Hinter dem erkenntnisgeleiteten Reisen verbirgt sich

die Philosophie des Journalismus: Wahrheit ist konkret und findet sich – wenn man richtig sucht – in Raum und Zeit.

Bücher lesen? Nein, Bücher sind abstrakt. Nehmen wir Demokratie. Das ist ein abstraktes Ungetüm, worüber Gelehrte nachdenken sollen. Eine Sache für Elfenbeinturmdenker, nicht für zupackende Empiriker. Empirie ist Erfahrung, womit klar ist, dass Journalisten Empiriker sind und immer reisen und fahren müssen, um Erfahrungen zu sammeln.

Denker sitzen in ihrer Kammer und brüten etwas im Kopfe aus. Ihre Kopfgeburten nennen sie Ideen oder Gedanken. Erfahrungen halten sie für vorläufig und minderwertig. Wenn so genannte Erfahrungen mit ihren Ideen nicht übereinstimmen – umso schlimmer für die Erfahrungen. Meinte der schwäbische Kopfbrüter Hegel. Sein ostpreußischer Kollege Kant dozierte an der Universität über die ganze Welt, seine Heimatstadt Königsberg hat er sein Leben lang nicht verlassen.

Denker, das steht fest, sind keine Journalisten. Sind Journalisten auch keine Denker? Das würde einen Großteil der jetzigen Medienkrise erklären. Vielleicht müssten Denker mehr Erfahrungen sammeln, Journalisten mehr Gedanken entwickeln?

Solange Empiriker nicht theoretisch, abstrakte Denker nicht konkret sind – werden wir die Welt nicht retten? Wenn diese Frage eine These wäre, könnten alle Nannen-Institute schließen. Wenn heutige Blätter in ein Quotenloch fallen, suchen sie weder Köpfe noch Denker, sondern Organisatoren und Rechercheure.

Bei den Historikern ist es ähnlich. Massenhaft lesen sie diplomatische Noten und Protokolle. Wenn sie aber über ihre Ergebnisse abstrakt Auskunft geben sollen, widersprechen sie sich in jedem Satz zweimal. Sind wir historische Schlafwandler, Mister Clark, wissen wir nicht, was wir tun? Ach wo, das war nur eine Metapher, das war nicht so gemeint. Echt?

Wir sehen, auch die Disziplin der Geschichte wird allmählich zur Theologie: ohne höhere Deutungskünste des Gesagten und Geschriebenen kommt niemand mehr aus. Die Kultur des Buchstabens geht zu Ende.

Die Griechen waren noch fasziniert vom Buchstaben. Ihre ganze Weltweisheit bauten sie auf dem Wunder des Buchstabens und der Sprache auf. Heute hat sich die Gegenkultur durchgesetzt: der Buchstabe tötet, die willkürliche Deutung, die sich Geist nennt, macht lebendig.

Das Ergebnis dieses Buchstaben-Genozids sehen wir in Silicon Valley und bei der NSA. Zahlen erfassen die Welt mit Null und Eins. Bei der Übersetzung der Zahlen in Sprache aber hapert‘s. Was meint die Maschine, wenn sie algorithmisch vor sich hinrattert?

Man sieht es an den Netz-Maschinisten: am liebsten würden sie auf die gesprochene Sprache verzichten und ihre Null-Eins-Maschinen phonetisch imitieren. Klingt nur irgendwie blöd. Das Schwierigste am Nahtpunkt zwischen Mensch und Maschine ist das Übersetzen der Zahlen in Sprache.

Die NSA platzt bald aus allen Nähten, so viele Daten hat sie bereits gespeichert. Nur: was bedeuten diese Daten? BIGDATA ist big Stummheit, da helfen keine Pillen.

An der gebeutelten Piratenpartei kann man die pathologischen Symptome deutlich ausmachen: die leidenschaftlichen IT-Werker können kaum miteinander kommunizieren – so sehr sind sie ans einsame Rechnen gewöhnt. Vielleicht wäre ihnen geholfen, wenn sie öfter in der hiesigen Normalsprache miteinander sprächen? Vergesst den „Geist“ (der immer nur ein heiliger sein will), nur der faszinierende Buchstabe, oh SklavInnen der Maschine, macht lebendig!

Sollte Sílicon Valley sich durchsetzen, werden wir eine geniale Maschinenkultur erhalten – mit teuflisch kretinhaften Zügen. Die mathematischen Intelligenzbolzen haben nicht die geringste Ahnung, was sie erfassen und werden in keiner Talkshow erklären können, was in der Welt abläuft.

Wollen wir das, meine Geschwister? Wenn nicht, müssten wir den Autisten öfter den Saft abdrehen und sie kategorisch auffordern, ihr Zahlengebrabbel in lebendige Sprache zu übersetzen.

Journalistik ist eine Geisteswissenschaft und steht, wie alle Geisteswissenschaften, im Schatten der überaus erfolgreichen exakten Naturwissenschaften. Dieser Schmach wollten sie entgehen und überlegten sich, wie sie auch exakt werden könnten. Sie verwandelten ihre Ideen in nachweisbare, empirische Fakten. Das Qualitative machten sie quantitativ, das Abstrakte konkret.

Nach Platon besteht Wahrheit aus abstrakter Idee und sinnlicher Konkretion. Insofern ist die journalistische Wahrheitssuche als empirisches Faktenerforschen berechtigt. Doch Fakten allein genügen nicht, sie müssen durchdacht werden.

Sagte ich Wahrheit? Warum nur polemisieren die meisten Journalisten gegen Wahrheit, wenn sie die Wahrheit investigativ erforschen? Wer sich derart widerspricht, darf sich nicht wundern, wenn er unglaubwürdig wirkt.

Auch empirisches Faktenerheben ist subjektiv. Wer Einwände gegen bestimmte Zahlen und Fakten hat, kann jederzeit seine eigene empirische Subjektivität dagegen stellen.

Objektivität war noch nie etwas anderes als das Durchdenken vieler subjektiver Perspektiven. Wenn wir unsren subjektiven Verzerrungswinkel kennen, können wir uns peu à peu der objektiven Wahrheit nähern. Das würde voraussetzen, dass wir unsre persönliche Fehlerquelle kennen und sie in die Gesamtrechnung einbringen.

Daran hapert‘s in der Medienwelt, die sich eisern objektiv gibt, obgleich sie alle objektive Wahrheit leugnet. Ihre subjektive Demut ist von hochmütiger Unfehlbarkeit. Hier überlappen sich zwei Symptome, die ursprünglich unverträglich waren: das Unfehlbare einer Erlösungsreligion paart sich mit der nüchternen Bescheidenheit des Sokrates, der den Alleswissern seinen Satz entgegenstellte: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Das war keine intellektuelle Bankrotterklärung, sondern eine Aufforderung zum methodischen Wahrheitssuchen im Wissen um seine Irrtumsfähigkeit. Wir alle sind Irrende, doch wenn wir miteinander streiten – nicht im Stil herrschsüchtiger Talkshows, sondern in mäuetischer Strenge – können wir uns der Wahrheit nähern.

Hier ist die Grenze der nur empirischen Wahrheitssuche der Journalisten. Sie durchdenken nicht, was sie gefunden haben. Das Konkrete wird bedeutungslos und irreführend, wenn es durch abstrakte Verflechtungen nicht eingeordnet wird. Tagesschreiber können nicht methodisch streiten. Ja, sie ignorieren sich gegenseitig, vergleichen nicht ihre Ergebnisse und tun, als sei ihre Meinung die einzig gültige auf der Welt.

Einen methodischen Streit hat es in den deutschen Medien in den letzten Dekaden nicht mehr gegeben. Entweder verkauft man seine Empirie als unumstößliche Gewissheit (etwa in der Berichterstattung über den russisch-ukrainischen Konflikt) oder man verhöhnt die Wahrheit überhaupt.

Recherchieren ist nicht sinnlos, wenn man die begrenzte Reichweite der Methode nicht außer acht lässt. Dennoch: der Großteil des journalistischen Tuns muss klares, logisches Denken sein.

Fast täglich erscheinen widersprüchliche Berichte über die Ereignisse der Welt, ohne dass die Schreiber diese Widersprüche bemerkten und bereinigten. Eine Gazette meldet: CETA abgeschlossen, Barroso feiert mit Kanadiern den Abschluss der Verhandlungen. Die andere: Gabriel behält sich vor, gewisse Punkte nachzuverhandeln.

Niemand merkt die Kollision, niemand hält es für nötig, den Widerspruch aufzuklären. Kaum ein Artikel nimmt Bezug auf anders klingende Artikel einer anderen Zeitung, obgleich beide dasselbe Thema behandeln. Einer schreibt monomanisch über Chlorhähnchen, will partout nicht sehen, dass die Debatte schon bei umstrittenen Schiedsgerichten angekommen ist. Bereits die Faktenlage ist allzu oft unübersichtlich, von der Debattenlage nicht zu reden.

Woher kommt die Verwirrung der Bevölkerung? Durch verwirrte Medien, die ihre Verwirrung als unvermeidbare Komplexität verkaufen. Anstatt das Publikum durch nüchterne Wahrnehmung und dialogisches Debattieren mündig zu machen, soll es durch tsunami-artiges Fluten von Sensationen und monomanisches Monologisieren unmündig gehalten werden.

Ist es nicht abenteuerlich, die Bevölkerung für überfordert zu halten – ohne sich die Frage zu stellen, ob dies nicht die Früchte medialer Verwirrkünste sind? Schier unglaublich, aber es gibt keinerlei Erfolgskontrolle auf dem Gebiet der Vermittlung politischer Fakten und Gedanken. Regelmäßig wird das Publikum beschimpft und vorgeführt – ohne dass ein einziges Medium sich an die Brust klopfte: ist das nicht Fleisch von unserem Fleisch? Was machen wir falsch, wenn wir so missverstanden werden?

Im Gegenteil, die Reaktion der Gesellschaft wird regelmäßig als Shitstorm abqualifiziert. Die Leser nerven. Jetzt wollen sie auch noch ihre Meinungen sagen und den Profischreibern Konkurrenz machen! Je mehr das einst stumme Objekt der Berichterstattung sich zu Wort meldet, je hermetischer schließt sich die Wagenburg der Berufs-Vermittler. Regelmäßige Debatten zwischen Redaktion und Publikum – Fehlanzeige. Feedback – unerwünscht. Erst jetzt, wo die Quoten nachlassen, werden die Dompteure der öffentlichen Meinungsbildung nervös.

Beckmanns Porträt von Schröder ist von gedanklicher Hohlheit und nichtssagender Empirie. Was wissen wir, wenn wir den Namen der ersten Freundin erfahren? Schau an, Schröder ist fähig, sich zu verlieben? Schröder war ein normal empfindender junger Mann? Hätten wir aber nicht gedacht.

Der berühmte Mann wird vorgestellt, als wollte Beckmann das Publikum überzeugen: Schröder, Sohn eines unbekannten Gottes und einer niedrigen Magd, ist tatsächlich aus Fleisch und Blut. (Doketismus nannte man die Meinung jener, die Jesus nur einen Scheinleib zuerkannten.)

Schröder kann noch nicht „so recht an Gott glauben, er würde es aber gern.“ Warum will er denn glauben? Gehört es inzwischen zur Pflichtausstattung jedes abendländischen Politikers, sich einen Hausgötzen zu halten? Will der Möchtegern-Gläubige Rabatt für seine Sünden bekommen, den er als Gottloser nicht erhielte?

Was wissen wir mehr über Schröder, wenn wir erfahren, dass er auch den Romantiker spielen und seiner Frau Geschenke machen kann, die ihr nicht sonderlich imponieren?

„Alexanderromane“ nannte man die literarischen Versuche, den siegriechen Makedonen Alexander mit menschlichen und göttlichen Zügen auszustatten. Mit menschlichen, um ihn sympathisch zu machen; mit göttlichen, um seine politische Anbetung zu fördern.

Beckmann hat einen Schröder-Roman präsentiert, um den Altkanzler ins Numinose zu erheben. Kritische Fragen nach Putin, nach politischer Korruption, nach Aufrichtigkeit unter Freunden – Mangelware. Dass er einen Posten in der russischen Wirtschaft übernommen hat, begründet Schröder, der kein Macho, sondern ein echter Mann sein will: er wollte nicht in ein psychisches Altersloch fallen.

Korruption und mammonistische Abhängigkeit von einer ausländischen Macht sind nichts als psychotherapeutische Maßnahmen, um präsenile Symptome zu kurieren?

Was eigentlich glaubt Schröder, wie sein Freunderl-Gehabe auf jene Ukrainer wirkt, die Putin als Feinde ihrer Autonomie erleben? Kann es sein, dass sie sich vom Westen verraten fühlen, weil sie denken, alle Westler müssten wie Schröder sein, wenn sie ihn nicht radikal zur Brust nehmen?

Selbstverständlich keine Frage Beckmanns, ob Schröder seinen Freund im Kreml für einen Völkerrechtsverbrecher hält. Unverfroren behauptet Schröder:

„Über aktuelle oder deutsche Politik spreche er mit Putin ohnehin nie, behauptet Schröder. Auch nicht über „Fragen, die gerade in der politischen Entscheidung stehen“. Überhaupt habe er seinen „Freund Putin“ schon so lange nicht gesehen, dass er über die Ukraine gar nicht habe reden können – kann man glauben, muss man aber nicht.“

Was muss das für eine wertvolle und unverbrüchliche Freundschaft sein, wenn alles Brisante ausgeklammert werden muss. Wie Schröder vor Putin kuscht, so kuscht Merkel vor Obama und Netanjahu. Deutschland, deine komplementären Alpha-Feiglinge.

Ganz Europa weiß nicht, wie es mit Putin angemessen umgehen muss. Da kommt Schröder wie ein gnädiger Pascha von Oben und bietet an, vielleicht ein gutes Wort bei Putin einzulegen – wenn er untertänigst gefragt wird:

„Schröder – im April 70 Jahre alt geworden – bekennt in Beckmanns Portrait, er habe eigentlich die Nase voll von politischen Verpflichtungen. Mögliche Jobs, etwa als Vermittler in der Ukraine-Krise, will er zwar nicht ausschließen, aber drängen werde er sich nicht darum: „Wenn jemand etwas wollte, dann soll er es sagen.“ Gefragt habe ihn bisher jedenfalls keiner.“

Ukrainer, macht eine feierliche Prozession von Kiew nach Hannover und kniet drei Tage lang vor der Villa des neureichen Ölmagnaten: dann wird er euch erhören.

Ein Politiker, der etwas werden wolle, brauche BILD und die GLOTZE, hatte Schröder in früheren Zeiten erklärt. BILD ist mit dem Porträt Beckmanns voll zufrieden: Beckmanns gelungenes Portrait zeigt: Wir müssen uns Ex-Kanzler Gerhard Schröder als glücklichen Menschen vorstellen“.

Dass der Vizechef der BILD einst Schröders Pressesprecher war, muss nicht weiter betont werden. Von allen Korruptionsarten, die die öffentliche Atmosphäre verpesten, ist die medial-politische Kumpanei inzwischen die häufigste.

Auf Druck der ARD musste Beckmann seine Talkshow einstellen. Um den herben Image-Verlust zu kompensieren, darf er mit einer neuen Reportage-Reihe noch distanz- und kritikloser werden. Verstehen kann nie falsch sein. Verstehen ohne Beurteilen ist kein Verstehen – sondern Kriecherei.

Kant hatte den deutschen Journalismus mit unüberbietbarer Präzision vorausgeahnt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Fakten ohne Begriffe sind blind.“