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Das deutsche Selbst

Hello, Freunde der Häutung,

Deutschland häutet sich. Die in die Jahre gekommene, aus Amerika übernommene, nur vorbildlich und nie autonom sein wollende Über-Ich-Haut löst sich und schwimmt in Fetzen davon.

Nun müsste sich zeigen, ob darunter eine verlässlich nachgewachsene demokratische Ich-Haut liegt oder ob wir auf rohe Es-Bestände stoßen, die uns gefährlich unbearbeitete völkische Elemente enthüllen.

Bislang waren wir vorbildliche Schüler, die immer nur zeigten, dass sie ihre Lektion auswendig gelernt – doch nie aus den Wurzeln selbst erarbeitet haben, indem wir die psychopathische Biografie der Nation erinnert hätten, um sie als begriffene Vergangenheit ad acta zu legen. Vergangenheit will nur vergehen, wenn sie durchschaut und erkannt worden ist.

Allmählich rebellieren die musterhaften Schüler gegen die Lektionen der westlichen Retter, was haben sie stattdessen zu bieten? Ist bereits ein deutsches Selbst nachgewachsen?

Schon sitzen wir in der Falle. Ist das deutsche Selbst nicht die Wiederholung jenes völkischen Selbst, das ab Herder und Hamann über die Romantiker, die Bismarck‘sche Nationenwerdung mit Blut und Eisen, die Ablehnung des Westens durch „1914 gegen 1789“, den Boykott der Weimarer Demokratie durch Sonderweg-Eliten schließlich in die Katastrophe führte?

Nein, nicht zwangsläufig führte, sondern durch ein menschenfeindliches Syndrom, das fortlaufend immer Böseres musst gebären, geführt wurde? Niemand zwang Deutschland zum Weg eines solistischen Unheils. Kaum

zu glauben, selbst die Deutschen hatten einen freien Willen, der es ihnen gestattet hätte, den Versuchungen ihrer neugermanischen Seele zum himmlisch-höllischen Ritt zu widerstehen.

Neurotische Gesetze sind keine ehernen Naturgesetze, die den Menschen vollständig determinierten. Durch Erkenntnis lassen sie sich schrittweise verändern. Historiker lesen nur diplomatische Akten und Schlachtenprotokolle. Doch der Mensch ist ein psycho-physisches Gesamtkunstwerk. Seine Taten wollen im Licht seiner seelischen Entwicklung entschlüsselt werden.

Man sieht es an der gegenwärtigen Neubewertung des Ersten Weltkrieges: Historiker haben kein methodisches Bewusstsein. (Kann man aus der Geschichte lernen, fragte Richard David Precht im ZDF den australischen Historiker Clark? Eher nein. Was taten die beiden im Rest des Gesprächs? Sich darüber unterhalten, was man aus der Geschichte des Ersten Weltkrieges lernen könne. Aha.)

Sie vernachlässigen das Innenleben der Völker, das sich in Literatur, Kunst und Philosophie entäußert. Auch in der Kultur des Alltags. Deutlicher als im Bildungstheater sieht man bei Markus Lanz den Paradigmenwechsel von der Ästhetik der Aufklärung – Unterhalten als Belehren – zur deutschen Genie-Ästhetik: wichtig sind keine rational-moralischen Schlussfolgerungen aus der Kunst, sondern irrationale Selbstdarstellungen des unvergleichlichen Künstler-Ichs. Ich bin, wer Ich bin, wer immer Ich bin. Das war der Umschwung von Lessing und Kant zu Fichte und den Schlegelbrüdern.

Geschichte darf man keinen Historikern überlassen, die nie Hamann, Goethe und Schleiermacher gelesen haben. Den historischen Kultur-Ignoranten entsprechen die Schönschreiber der deutschen Geistesriesen, unter denen Rüdiger Safranskis Goldschnittbiografien der Olympier unrühmlich herausragen. Hat man Safranskis Goethe-Biografie gelesen, weiß man nach wenigen Minuten edler Erbaulichkeit nicht mehr, was er in aalglattem Teflondeutsch heruntergeschnurrt hat.

Still und heimlich wird die deutsche Tradition von allem Unheimlichen gereinigt. Wenn alles Weimaranische im grünen Bereich war, wundert man sich nicht mehr, dass das deutsche Elend stechuhrgenau im Jahre 33 begonnen haben muss. Die Geschichte hat sich in vorauseilendem Gehorsam exakt an das Drehbuch der kommenden deutschen Nachkriegshistoriker gehalten. So etwas können nur die Deutschen, die drauf dressiert sind, zu warten, bis die Geschichte ihnen entgegenkommt.

Jetzt haben sie die sadomasochistischen Rollen getauscht und bläuen der Geschichte ein, wie sie die kathartischen Bedürfnisse der Jetztzeit nachträglich zu bedienen hat. Ich glaube nur der Geschichte, die ich selbst entschärft und verfälscht habe – das scheint das neue Motto der „revisionistischen“ Geschichtsglätter zu sein.

Unter ihnen SPIEGEL-Schreiber Dirk Kurbjuweit, der es für richtig hält, die Nolte-Entschärfung des Nationalsozialismus aus dem Keller des Historikerstreits zu holen und noch weiter zu entschärfen.

(Wo eigentlich sind die bekannten Antisemitismus-Wächter abgeblieben, dass sie bei den größten Selbstreinigungen und Geschichtsverkrümmungen keinen Pieps von sich geben?)

Hitler? War nur die Antwort Deutschlands auf den bösen Stalin. Ohne Vorbild des asiatischen Bolschewismus kein deutscher Völkermord an den Juden.

Gibt es wirklich nichts Schlimmeres als den Tod in Gaskammern? Haben stalinistische Untermenschen nicht jene Ratten im Rohr erfunden, die man mit Schubkraft des Feuers ins Fleisch der Opfer jagt? Das narzisstische Ranking des Bösen kennt keine Grenzen. Alles, was knapp unterhalb des unvergleichlichen und einmaligen Dämonischen liegt, ist nicht erwähnenswert.

So werden die Opfer ein weiteres Mal zu Opfern – der Eitelkeit des Bösen. Die Geschichte wird allein unter der Perspektive instrumenteller Tätergrausamkeit bewertet.

Woher die Täter kamen, aus welchem Schoß sie krochen, welche Lieder sie beim Wandervogel sangen, warum sie im Tornister Nietzsche, Lagarde und Chamberlain mit sich trugen, an welch deutsches Christentum sie glaubten – all dies wird mit keiner Silbe erwähnt.

Wie Aliens in Hollywoodfilmen müssen die Deutschen per Meteorit vom Himmel gefallen sein. Spurlos ist die deutsche Geschichte in den endlosen Weiten der russischen Tundra verschollen. Die Deutschen sind die wahren Opfer der Geschichte, da sie gezwungen waren, im Einflussbereich der unergründlichen Russen zu leben.

Wie passgenau, dass die „Alleinschuld“ der Deutschen am Ersten Weltkrieg gerade von objektiver angelsächsischer Stelle vom Tisch gefegt wird. Dann wird’s wohl stimmen, wenn die Sieger von damals den Verlierern einen Persilschein ausgeben.

Was war die Ursache des europaweiten Gemetzels? Die Fieberträume der Beteiligten, die sich torkelnd vom Lager erhoben und schlafwandelnd in U-Boote stiegen, die zufällig in der Kieler Bucht lagen?

Laut Wiki ist Somnambulie oder Mondsucht ein krankhaftes Wandeln ohne Bewusstsein und dauert meist nur wenige Minuten. Vielleicht hat der Erste Weltkrieg nur vier Minuten gedauert und nicht vier Jahre, wie einige Hysteriker behaupten?

Wenn alle ein bisschen schuldig sind, ist niemand mehr schuldig. Sie teilen sich ritterlich die Schuld, die ehemaligen Kombattanten, damit niemand unter seiner Schuld zusammenbricht.

Hört, Leute, das ist das neue Europa. Milde und versöhnungsbereit. Fehlt nur noch, dass Putin der EU eingemeindet wird, dass er die Deutschen auch am Zweiten Weltkrieg für unschuldig erklärt.

(Eine schöne Aufgabe für elder statesman Schröder, wenn er sich schon weigert, nach Kiew zu gehen, um zwischen Klitschko und den Putin-Marionetten zu vermitteln. Wer war noch mal Klitschko?

Ebenfalls im SPIEGEL zu lesen: die smarte Piratin Weisband weiß genau, dass Klitschko zu wenig ukrainisch kann, um von den Revolutionären ernst genommen zu werden. Danke, SPIEGEL, dass du den tapferen Boxweltmeister als politische Niete dekonstruierst.)

Vielleicht ist die europäische Geschichte nichts als der Fiebertraum der schönen Europa auf dem wilden Stier?

Kurbjuweit: „Der aktuelle Stand ist, dass sich alle Großmächte in den Ersten Weltkrieg hineinschlafwandelten, dass Bolschewismus und Stalinismus grausamer waren, als man lange wusste oder eingestehen wollte. Gibt es deshalb eine nationale Aufwallung? Gibt es nicht. Gibt es Jubel, weil die deutsche Schuld geringer sei? Gibt es nicht.“ (Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL 7/2014 – leider nicht online)

Doch, gibt es schon lang. Zwar nicht als lärmenden Jubel – das wäre zu auffällig –, sondern als stillschweigende Nobilitierung der deutschen Geschichte in eine normale. Vom Sonderweg wollen die Historiker auch nichts mehr wissen. Die Deutschen waren so was von verwechselbar, sagen wir mit den Südseeinsulanern, dass nur noch die roten Horden dran schuld sein konnten, um einen Weltkrieg zu somnambulieren.

Ist denn die Schuld aller Nationen ein Nullsummenspiel? Wenn andere schuldiger sind, bin ich dann unschuldiger? Das ist keine Revision, sondern eine Reduktion der Geschichte auf homöostatische Physik.

Ein echter deutscher Mann mag keinen Russen leiden, doch seinen Kaviar isst er gern. Die Geschichte wird sich doch nicht wiederholen? Woher der Hass gegen die Russen? Wie immer hängt Hass mit Liebe zusammen. Christen hassen alle Menschen, die sie lieben müssen. Sie töten, was sie lieben.

Das Land der Mitte wähnte sich immer als Puffer zwischen Ost und West. Dabei galt lange ein Entweder-Oder. Entweder liebte man den Westen und hasste den Osten oder vice versa. Heinrich Mann liebte den Westen, sein Bruder Thomas den Osten und hasste den Westen – jedenfalls bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

Tolstoi, Dostojewski: die Deutschen liebten die unergründliche Seele der gottsuchenden und gotttrunkenen Russen. Russland grenzt an Gott, schrieb Rilke in seiner Kurzgeschichte „Wie der Verrat nach Russland kam“. „Ist denn Gott ein Land?“ fragte der Freund. „Es ist da wohl ein Reich“, sagte der Erzähler, „das heißt Gott. Einfache Völker können ihr Land und ihren Kaiser oft nicht unterscheiden, beide sind groß und gütig, furchtbar und groß.“

Der gütige Gott ist ohne das Gegenteil nicht zu kriegen. Solange man die göttliche Seele der Russen liebt, sind sie gütig und groß; lehnt man sie ab, werden sie zu asiatischen Killermaschinen. Im Grunde sind Russen – wie alle einfachen Völker – wie Kinder: grausam und naiv, unberechenbar und barbarisch. Solchen Kindsvölkern ist alles zuzutrauen. Jetzt lieben und herzen sie dich, im nächsten Moment reißen sie dich in Stücke.

Wenn man Max Weber nach dem Sinn deutscher Weltmacht fragte, antwortete er, sie „bedeute die Entscheidung über die Eigenart der Kultur der Zukunft. Diese sollte nicht kampflos zwischen jenen angelsächsischen Konventionen und russischer bürokratischer Reglementierung aufgeteilt werden. Künftige Geschlechter würden nicht die Dänen, Schweizer, Holländer, Norweger verantwortlich machen, sondern uns. Unsere Schuldigkeit vor der Nachwelt sei, uns der Überschwemmung der ganzen Welt durch jene beiden Mächte entgegenzuwerfen.“ (Karl Jaspers: „Max Weber, Politiker, Forscher, Philosoph“)

Das klingt nicht nach Schlafwandeln, sondern nach weltpolitischer Pflicht der Deutschen, sich gegen westliche Pest und östliche Cholera zu wehren. Von Deutschland würde es abhängen, ob die beiden Verhängnisse in Ost und West die Welt beherrschen werden – oder ob das Land der Mitte die Balance zwischen Gut und Böse hielte.

Angelsächsische Konventionen: das war westlicher Kapitalismus. Bürokratische Reglementierung der Russen: das war totalitärer Bolschewismus. Prophete links, Prophete rechts, das deutsche Weltkind in der Mitten.

Auf der Suche nach ihrem deutschen Selbst verloren sich die Deutschen in den germanischen Wäldern oder sie orientierten sich mechanisch nach links und rechts. Deutsch sein heißt, gleichweit entfernt sein vom demokratischen Übel des Westens wie vom bolschewistischen Übel des Ostens.

Kann man sich selbst finden, wenn man sich immer nur an anderen orientiert? Wenn beide Extreme falsch liegen, kann die Mitte zwischen beiden richtig sein?

In welchem Maß Geschichte sich wiederholt, zeigt Sotschi. Auch die Deutschen hatten einmal Olympische Spiele im III. Reich, die sie benutzten, um der Welt Sand in die Augen zu streuen. Wenn ein schwarzer Amerikaner im arischen Deutschland zum überragenden Athleten der Spiele aufsteigen konnte, konnte Germanien kein faschistisches Land sein.

Obgleich Putin in der Ukraine Scharfschützen auf Demonstranten ansetzen ließ und es schon viele Tote gibt, kommt kein westlicher Sportler auf die Idee, sein Bündel zu packen und unter Protest das Land zu verlassen. Alles geht seinen gewohnten Gang. Ungerührt fahren die Öffentlich-Rechtlichen mit tagelanger Übertragung fort. Die Sportler fühlen sich „von der Politik betrogen“, wenn sie ihre Medaillen nicht im Sportstudio zeigen können.

S’ist Krieg in Putins Reich und niemand will dem neuen Zaren die rote Karte zeigen. Nur der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy fordert Publikum und Sportler auf, das Land zu verlassen. Nicht mal schwarze Trauerbinden dürfen die Aktiven tragen, wenn sie unbehelligt bleiben wollen. (Evi Simeoni in der FAZ)

Die Deutschen häuten sich, aber sie haben noch kein eigenes Selbst. Wo sollen sie suchen? Das nationale oder völkische Selbst scheidet aus.

Deutsch sein, heißt, eine Sache um ihrer selber willen tun? Auch die Deutschen tun alles um des Profits willen. Bislang war Kosmopolitismus bei Deutschen eine wurzellose Nichtigkeit, ein Verrat an völkischen Interessen. Wer Menschheit sagt, will betrügen; formulierte Carl Schmitt, einer der Beliebtesten unter nachkriegsdeutschen Dozenten.

Humanität, Liberalität und Popularität: diese drei Begriffe übersetzte Fichte in „Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde.“

Für Schlegel bestand der Charakter der Deutschen in biederer Redlichkeit und strengerer Sittlichkeit. Mehr als andere Nationen würden die Deutschen sich an die ehemalige Einheit Europas erinnern, sie seien die eigentlichen Schöpfer und Stifter Europas. Diese europäischen Phantasien sollten den Deutschen ihre mittelalterliche Vorherrschaft über alle europäischen Staaten zurückbringen.

Die modernen Zeiten, so Novalis, seien erfüllt von plumper Barbarei und kaltem irdischen Sinn. Nur die Deutschen hätten den Vorzug der Wiederbelebung der Religion, nur hier habe sie eine Freistatt gefunden, wo es an weiser Mäßigung und stiller Betrachtung nicht fehle.

Das deutsche Selbst muss die Geschichte seiner militanten Überheblichkeit begriffen haben. Nur als Selbst unter gleichen Selbsten der Nationen wird es seine Vergangenheit überwinden.

Das deutsche Selbst liegt in der Mitte der Völker.