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Brücken

Hello, Freunde der Brücken,

„Über Sieben Brücken mußt Du geh’n,
Sieben dunkle Jahre überstehn,
Sieben Mal mußt Du die Asche sein,
Aber einmal auch der helle Schein.“

Als Europa sich entschloss, die Brücken zu den Hilfesuchenden mit militärischen Mitteln zu sprengen, Boote vorbeugend zu zerstören und Flüchtlinge in Asche zu verwandeln, sang Peter Maffay seinen Song zu Ehren von Karlspreisträger Martin Schulz und andern illustren Europäern. Alle waren bewegt, als der aus Siebenbürgen stammende Sänger mit sonorer Stimme den politischen Eliten und Machtträgern Trost und Hoffnung zusang.

Die Müden, Verzweifelten und wider alle Hoffnung Hoffenden auf den Schlauch- und Schlepperbooten im Mittelmeer hörten die Botschaft nicht. Zeitgleich mussten sie um Leib und Leben kämpfen.

Alle führenden Popen der Republik waren nach Aachen geeilt, um das Projekt Europa ecclesiogen zu vereinnahmen. Zu den Karlspreisträgern gehört auch eine deutsche Kanzlerin namens Angela Merkel, die sich seit Jahren erfolgreich bemüht, Europa mit ökonomischen Spaltmethoden zu zerlegen. Schulz, der Streitlustige, der Probleme bei Namen nenne, wie der Bundespräsident ihn rühmte, nannte keine Namen, als er die nationalen Regierungen beschuldigte, Erfolgreiches der EU-Politik für sich zu vereinnahmen und Missratenes der Brüsseler EU-Kommission in die Schuhe

zu schieben. Die Flüchtlingsproblematik sprach Schulz mit keinem Wort an. Stattdessen sprach er von der Strahlkraft Europas:

„Von Europa gehe eine Strahlkraft aus. «Je weiter man sich von Europa entfernt, desto mehr spürt man die Strahlkraft, die von der europäischen Idee ausgeht, desto mehr sind die Menschen begeistert von der europäischen Einigung», sagt Schulz. «Auf dem Maidan schwenkten sie unsere europäische Fahne.» Für Menschen auf der ganzen Welt stehe Europa für die Verteidigung der Menschenwürde. «Europa», sagt Schulz, «das ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.»“ (WELT.de)

Wenn Menschen in lebensfeindlichen Regionen dieser Welt der Strahlkraft der europäischen Idee folgen und der Verteidigung der Menschenwürde Glauben schenken, müssen sie von Glück reden, wenn sie im Vorhof des verheißungsvollen Kontinents nicht den Tod in den Fluten finden.

Martin Schulz habe den europäischen Preis nicht verdient, meint Moritz Schuller im TAGESSPIEGEL: „Wenn Schulz es ernst meinte mit all seinen Sprüchen über Legitimationsdefizite und die Nähe zu den Bürgen, dann hätte er den Karlspreis abgelehnt, weil er noch nicht sehr weit gekommen sei mit dem anderen Europa. Er hätte mit der Begründung abgesagt, dass der Zustand der Union im Moment nicht preiswürdig sei, und er selbst noch nicht genug getan habe, um den Preis zu verdienen.“

Frau Merkel hat eine neue Flüchtlingspolitik versprochen. Sie hat Wort gehalten: Europa rüstet sich, mit Waffengewalt gegen Flüchtlinge vorzugehen. Neeiin, nicht gegen die Flüchtlinge selbst. Nur gegen die Boote, die sie nach Europa bringen sollten. Was aber, wenn die Flüchtlinge schon in den Booten säßen? Sollen sie etwa über das Meer schwimmen?

Für ihre Kanonenbootpolitik gegen Menschen, die der Strahlkraft Europas nicht widerstehen können, hoffen die europäischen Politiker auf die Unterstützung eines degenerierten UN-Sicherheitsrats.

Zur Gruppe dieser Politiker gehört der deutsche Außenminister Steinmeier, der – unter Erweckung gegenteiligen Eindrucks – sich begierig anschickt, Gaucks Nachfolger zu werden. Sonst käme jemand auf die verwegene Idee, ihn als Kanzlerkandidaten der SPD vorzuschlagen. Gabriel ist schon abgetaucht. Die momentane kleine Schwäche von Merkel wird Mamas Liebling doch nicht rücksichtslos für sich ausnutzen. Bleibt also? Martin Schulz.

Der Regierung in Berlin gehen allmählich die Köpfe aus. Hohe Zeit für die Wirtschaft, das Ruder offiziell zu übernehmen, über das sie seit Merkels Inthronisierung ohnehin das Kommando führt. Grillo, übernehmen Sie!

Immer weniger ertragen die Menschen die politischen und klimatischen Verwüstungen ihrer Heimat und machen sich auf in ferne Länder. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Schwachen und Verfolgten sich nicht mehr alles gefallen lassen. Früher duckten sie sich in Ergebenheit, heute legen sie Wert auf ein menschenwürdiges Leben. Ein schlechtes Zeichen hingegen ist es, dass immer mehr Regierungen die Hilfesuchenden schon im Vorfeld abschmettern. „Es ist an der Zeit, den Flüchtlingen zu zeigen, dass sie hier nicht willkommen sind“, sagte Malaysias Vizeinnenminister Wan Junaidi Jaafar Berichten zufolge.“ (TAZ.de)

Man könne es sich nicht leisten, nett zu sein, wird in Asien wider alle asiatische Höflichkeit Klartext gesprochen. Bei uns ist die Kanzlerin immer nett, selbst dann, wenn sie die Menschen roh ins Nichts zurückstößt. Dem Klub für deutliche Ansprache gehört sie nicht an. Aber dem Klub der Mutisten. Je größer die Weltprobleme, je weniger hört man von der frommen Frau, die sich an das himmlische Motto hält: das Weib schweige in der politischen Gemeinde.

Sie tut, werkelt und merkelt. Die Macht des Wortes überlässt sie Pfarrer Gauck. So will sie es halten, so kennt sie es aus ihrer Familie. Der Mann führe das Wort, still und leise verrichte die Frau ihre untertänige Arbeit. In Deutschland sind Beruf und Herd problemlos vereinbar, besonders, wenn Politik zum Herd degradiert wird. Waschen, putzen und dem Herrn im Haus – der Wirtschaft – treulich hinterher räumen. Und immer erraten, was die Herren wollen. Am besten, bevor sie es selber wissen. Macht einen selbständigen und kessen Eindruck. Und auf den Eindruck kommt es an.

Wenn Männer versagen, müssen Frauen ran. Gemessen an der wachsenden Zahl mächtiger Frauen in aller Welt, muss es um die Männerwelt nicht sonderlich gut bestellt sein. Selbst in der FDP – das war, liebe Kinder, jene Partei mit dem kürzesten Parteislogan der Weltgeschichte: Schluss mit dem Staat, alle Macht dem Dax – kommen agile Jungunternehmerinnen nach vorne, um Hayeks Vermächtnis nicht Frau Merkel allein zu überlassen. Sollten sie ihre Partei vor dem Abgrund retten, wird der nette Herr Lindner schon dafür sorgen, dass sie nach getaner Arbeit wieder ins Glied zurücktreten.

Auch England hat seine puritanische Frostigkeit noch nicht verlernt: „Flüchtlinge gehören dorthin, wo sie hergekommen sind. Das schrieb die britische Innenministerin Theresa May am Mittwoch in einem Gastbeitrag für die Times. Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer sollen zurückgeschickt werden. Eine Quotenregelung, wie sie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz von der SPD befürwortet, lehnt May ab. «Das würde nur noch mehr Menschen ermutigen, ihr Leben zu riskieren.»“ (TAZ.de)

Wenn das keine authentische Begründung ist: Menschen müssen in den Tod geschickt werden, damit sie demselben von der Schippe springen. Solch feine Dialektik würden Hegels Nachkommen der hölzernen Pastorentochter niemals verzeihen. Im pragmatischen Empire jedoch sind Hegel‘sche Finessen weithin unbekannt.

Das Flüchtlingsproblem wird zum globalen Sicherheitsproblem. Die Schuldigen an den globalen Krisen und Kriegen sind ausfindig gemacht: es sind jene Menschenmassen, die aus unerfindlichen Gründen – vermutlich nur zum aggressiven Zweck, die Satten und Feisten zu ärgern – ihrer Heimat den Rücken kehren und einem unkontrollierten Wandertrieb folgen. Aus der europäischen Vorgeschichte wissen wir, welches Elend droht, wenn Völker ins deregulierte Wandern kommen.

„Ein UN-Mandat für eine solche militärische Intervention ist laut Kapitel sieben der UN-Charta aber nur möglich, wenn eine Gefahr für die internationale Sicherheit besteht. Und so ist in diesen Tagen allenthalben in diplomatischen Zirkeln davon die Rede, dass die nach Europa strebenden Elendsmigranten eine solche Gefahr seien.“ Schreibt Ronen Steinke in der SZ.

Flüchtlinge als Friedensbedrohung. Wenn das nicht die neue Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ist. Hochbewaffnete deutsche Kriegsschiffe kreuzen mittlerweilen auf dem Mittelmeer, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Aber nicht, um sie nach Deutschland zu bringen. Sondern um sie am nächsten italienischen Küstenort an Land zu kippen.

Die europäischen Länder mit ihren christlichen Grundwerten können sich auf keine Verteilungsquote einigen. Aus Scham werden die Quotenverweigerer in deutschen Medien nicht mal bei Namen genannt. Man ist hierzulande sehr feinfühlig mit entblößter Männermacht. Siehe 1.Mose neuntes Kapitel, Vers 18 und folgende. Bei mammonistischen Verfehlungen ist Merkel gar nicht kleinlaut, um fiskalische Sünder zu tunken. Wenn‘s aber um tätige Nächstenliebe geht, agiert sie stumm wie der hochverehrte Papa Christianorum: kein Platz in der frommen Hütte, das ist bei uns die Sitte.

Flüchtlingsströme sind schrecklicher als alle kapitalistischen Heuschrecken zusammen, sie können eine Region kahlfressen.

„Flüchtlingsströme können eine Region destabilisieren. Davon hat sich der UN-Sicherheitsrat 1991/92 überzeugen lassen, als es um den Irak und Somalia ging. Und er hat eine Argumentation geprägt, die bis heute gilt: Nicht die Flüchtlinge selbst sind die Gefahr. Sondern das Chaos, das ihre Ankunft auslösen kann.“

Die Starken müssen vor den Schwachen geschützt werden. Das war das Hauptargument der Starken in Altathen gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen, die als Despotie der Vielen und Schwachen gebrandmarkt wurden. Auch Hayek, akademischer Kammerdiener der Reichen, erlaubt keiner Demokratie, sich frech über die Monopolmacht der Superfreien zu erheben. Ist das Kapital doch scheu wie ein Reh: husch, schon ist es bei Nacht über die Grenze und im freudlosen Exil auf New Jersey gelandet.

Die Flüchtlinge sind schuld daran, dass die UN-Friedens-Charta ins Gegenteil verkehrt wurde. Wer sich unerlaubt am Wohlstand der Wohlständigen vergreift, ist ein Feind des Menschengeschlechts. Hungergründe und Todesängste vorzuschieben ist das Letzte, um sich in die reiche Villa der Europäer einzuschleichen.

„Von der ursprünglichen Idee der UN-Charta, wonach Militärmissionen nur erlaubt sein sollen, um Kriege zu beenden, ist damit nicht mehr viel übrig. „Bedrohung des Weltfriedens“ – diesen Begriff nutzen die Staaten inzwischen immer flexibler. Die Konturen dieses völkerrechtlichen Begriffs „sind inzwischen derart aufgeweicht, dass wir allmählich nicht mehr wissen, was keine Friedensbedrohung ist, solange es irgendwie grenzüberschreitende Migrationsbewegungen auslöst“, kritisiert Völkerrechtler Oeter“.

Vom Protest einiger NGOs und Völkerrechtler gegen diese Riesenverfälschung der UN-Charta hat man im gestrigen Beitrag der ARD nichts gehört. Man sah nur den pastoralen Auftritt des deutschen Außenministers. Von Lügenpresse zu sprechen, wäre unfein. Sprechen wir lieber korrekt von vorauseilender deutscher Servilität oder – laut Duden – von neugermanischer Speichelleckerei.

„Seit mehr als 20 Jahren würden Migrationsbewegungen immer mehr zu einer „Bedrohung der internationalen Sicherheit“ interpretiert, wenn auch unter wachsendem Protest von Menschenrechtlern und kleinen Ländern, die im UN-Sicherheitsrat mit wenig Einfluss ausgestattet sind.“

Jede Demokratie lebt vom Streiten und Debattieren auf der Agora. Bei Frau Merkel ist das noch nicht angekommen. Noch immer hat sie die lauernde Stummheit unter einem totalitären Regiment verinnerlicht.

Nebenbei: Böckenförde hat in der FAZ ein Plädoyer für den DDR-Rechtsstaat geschrieben. Bei seiner Definition von Rechtsstaat gäbe es kaum einen Staat in der Welt, der keiner wäre. Ein Rechtsstaat aber ist nicht nur ein Staat mit autoritär verordneten Gesetzen, sondern hat das Recht, inhumane Gesetze mit demokratischen Mitteln zu verändern. Gab es diese Möglichkeit in der DDR?

Schon Kant beging den Fehler, Rechtsstaat von Demokratie zu sondern. Ein Vernunftrecht aber braucht Vernunft. Die fällt nicht vom Himmel, wächst nicht auf Bäumen und darf durch selbsternannte Weisheit der Weisen anderen nicht verordnet werden. Sie kann nur vom Volk erdacht und erstritten werden. Sonst geschieht, was Kant an Platons philosophischem Faschismus zu Recht verwirft:

„Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ Dass aber die Könige und die Völker die Philosophen „öffentlich sprechen lassen, ist beiden zu Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich.“ (Das Volk muss die Freiheit haben, ein autonomes Rechtssystem zu entwerfen, sonst kann es keine mündige Demokratie geben.)

Merkel spricht nur in der Öffentlichkeit, wenn ihre Küchenkabinettler melden: Land unter! An die Front, Kanzlerin, um das Schlimmste zu verhüten. Hier müsste einmal die blasphemische Frage gestellt werden: wie intelligent ist eigentlich die Vorzugsschülerin des realen Sozialismus? (Wer gute Noten mit Intelligenz gleichstellt, sollte jetzt nicht mehr weiterlesen).

Sie soll witzig und schlagfertig, zudem eine gute Physikerin gewesen sein. Zeichen von nachdenklicher Intelligenz?

Physik ist eine Naturwissenschaft, Wissenschaft denkt nicht, sagte Heidegger. Naturwissenschaftler rechnen. Sie traktieren und quälen die Natur – mit Hilfe der Natur. Ein Wissenschaftler soll – nach Francis Bacon – die Natur „auf die Folter spannen, bis sie ihre Geheimisse preisgibt.“ Natur solle man „gefügig und zur Sklavin machen“, man sollte sie „unter Druck setzen“, sie „auf ihren Irrwegen mit Hunden hetzen.“ Wenn das stimmt – und wer wollte Bacon widersprechen –, war Physik das richtige Propädeutikum für die Kanzlerin, um die Deutschen „gefügig zu machen“. Mit Hilfe jener kalkulierenden Stummheit, die von sadistischen Müttern zur Bestrafung ihrer unbotmäßigen Bengel eingesetzt wird. Damit Muttern wieder mit ihnen spricht, sind die Bestraften zu allem bereit. Selbst zum ehrlosen Kotau – was sie der Mutter ihr Leben lang heimzahlen werden.

Kinder tun alles, wenn die Mutter nur wieder mit ihnen spricht. So die Deutschen unter der stummen Knute der Kanzlerin. Die den Eindruck zu erwecken sucht, als sei sie selbst bestraft, wenn sie ständig Überflüssiges quasseln muss. Der Laden muss laufen und funktionieren, das hat Merkel unter der Ägide der Planwirtschaft gelernt. Was soll da das ständige Gerede?

Also macht sie gute Miene zum ärgerlich wichtigtuerischen Demokratenspiel. Ihre Sätze sind minimale Trivialitäten, wenn nicht lächerlich hohle Phrasen. Lust an der Debatte, an der methodischen Auseinandersetzung mit ihren Untertanen lässt die Kanzlerin nicht erkennen. Jeder Satz hat den Zweck, den Fragenden zum Schweigen zu bringen. Keineswegs die Absicht, mit ihm ins Denken zu kommen.

Geschickt kann sie wie beiläufig formulieren. Das grimmige Kindchenschema ihres Vize, das postpubertierende Aufbegehren ihres einstigen Kontrahenten und sonstige männergewichtige Selbstdarstellungen sind ihr fremd. Das macht sie beim Volk beliebt – welches prompt vergisst, auch den Inhalt des Parlierens zu überprüfen. Das war der Sinn ihrer unterkühlten Rede.

Emotional weiß Merkel bis heute nicht, was eine lebendige Demokratie ausmacht. Sie fertigt ab: schnippisch, lakonisch, von betonierter Höflichkeit, leicht ungeduldig, gelegentlich ärgerlich, das Fragespiel abrupt beendend. Wer in der DDR ständig Angst haben musste, im engsten Kreise überwacht und abgeschöpft zu werden, verfällt in oberflächliches Dauerquasseln oder in strategische Zugeknöpftheit.

Ist Merkel gebildet? Vergesst ihre physikalische Fachidiotie. Bildung ist die Fähigkeit, die eigenen Interessen mit Gründen zu vertreten, Andersdenkende zu verstehen und bei Konflikten Verständigung zu suchen. Gebildet ist, wer Brücken bauen kann zwischen konträren Positionen, ohne dass ein Gesprächspartner das Gesicht verliert. Man könnte von sokratischer Hebammenkunst reden. Schrecklich die Meinung von Roland Barthes, der Mäeutik für ein Prinzip hält, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben.“ Es ist das Gegenteil von Schande, seinen Irrtum selbstbewusst einzusehen und zuzugeben. Wer nicht irren kann, kann nicht denken.

Bildung ist keine Ausbildung zum Beruf, schon gar nicht die Kompetenz, Karriere zu machen. Bildung ist auch keine Gelehrsamkeit. Sehr wohl aber die Fähigkeit, sich neugierig Wissen anzueignen, um seine Meinung zu untermauern. Bildung ist Freude am Lernen und Erkennen. Aber kein „lebenslanges Lernen“ im Dienste wirtschaftlicher Unterwerfung. Sondern Lernen als lebenslanges Denken, Überprüfen, Zweifeln, Suchen – und Finden dürfen.

Profilneurotisches Dauerzweifeln ist zur Mode der Intellektuellen geworden, die zu feige sind, Positionen zu beziehen. Wie viele Deutsche zweifelten anfänglich an Hitler, noch mehr aber an jenen, die Hitler früh durchschauten und bekämpften – bis sie, die Zweifler, über Nacht gläubige Jünger wurden? Warum? Weil Hitler Erfolg hatte. Wie schnell schwinden hierzulande die koketten Zweifel, wenn Erfolg, Ruhm und Ansehen sich einstellen.

Notwendiges, vom Zeitgeist anerkanntes Herrschaftswissen kann die disziplinierte Kanzlerin sich mühelos aneignen. Bildung aber wäre, die Berechtigung dieses Wissens so gründlich zu prüfen, dass Merkel jeden gründlichen Dialog bestehen könnte. Mit Erkenntnisgewinn für sich – und den Gesprächspartner.

Beispielsweise vertritt sie eine Hayek‘sche Ökonomie. Hat sie Hayek so gründlich studiert, dass sie ihre Gefolgschaft ausreichend begründen könnte? Was weiß sie über Aufklärung und Gegenaufklärung? Kennt sie den Unterschied zwischen autonomem Denken und heteronomem Glauben?

Ihre sich demütig gebende, theologische Arroganz hat es gar nicht nötig, sich mit solchem Bildungsgeschwätz zu befassen. Für sie besteht die Welt nur aus Glauben – und harten Fakten. Dieselbe Mischung wie beim romantischen Novalis, der seinen katholischen Enthusiasmus problemlos mit technischem Bergwerkswissen zu vereinen wusste.

Der tiefste Grund aber ihres abschreckenden Mutismus ist ein theologischer. Am Ende aller Tage wird Gott alle Menschen nicht nach Taten, sondern nach Gesinnungen und Worten richten. Wer nicht viel schwatzt, kann vom finalen Richter auch keine schlechte Zensur erhalten. Hättest du mehr geschwiegen, oh Angela, könntest du jetzt problemlos selig werden: diesen Verriss Gottes will sich die untertänige Magd ersparen.

„Ich aber sage euch, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.“

Gründlich erarbeitete Positionen zu vertreten und dennoch dialogische Brücken zu Andersdenkenden zu schlagen: das wäre die Fähigkeit vorbildlicher Demokraten. Warum gibt es in Deutschland keine Debatten? Weil Deutsche ihre Mitmenschen nach dem Prinzip beurteilen: hättest du geschwiegen, hätte ich dich für klug und weise gehalten.

Für die Deutschen ist Merkel eine kompetente und verständige Frau, weil sie ihre ausgelaugten Untertanen nicht mit lästigen Gedanken behelligt. Die Deutschen und ihre Kanzlerin: sie fordern sich nicht. Sie lullen sich gegenseitig ein in den Schlaf der Gerechten – und wenn morgen die Welt unterginge.

Mit Schweigen und Stummsein kann man keine Brücken bauen, um Dialoge zu führen und Fremde willkommen zu heißen. Belastbare Brücken sind das Nervenkostüm einer vitalen Menschheit.