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Tagesmail

Bergpredigt und Weltpolitik

Hello, Freunde der Bahnsteigkarte,

„Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“

Lenin kannte seine Deutschen, besonders Götz Aly und Dieter Nuhr, die schon jetzt spüren, wie der feurige Drachenatem der Umwälzung die zurückgebliebenen deutschen Lande anzüngelt. Schon sind die Intellektuellen dabei, die Bahnsteigkarten zur Revolution zu drucken, die jeder Rebell gelöst haben muss, wenn er das schnaubende Dampfross der Zeitenwende besteigen will.

Als das Netz erfunden wurde, jubelten die Digitalisten, nun komme das Reich der unbegrenzten Volksmeinung. Da hatten die Jubler das räudige Volk noch nicht gekannt. Bei dem grassieren digitales Mobbing, binäre Erregung als Selbstzweck, verbale Gewaltbereitschaft und unflätige Wörter. Die ungewaschene Meute kann nicht mal guten Tag sagen.

Dieter Nuhr hat sich der Ironie verschrieben. Was war Ironie noch mal? „Es ist ihr Ernst mit nichts. Ironie soll darin bestehen, dass alles, was sich als schön, edel anlässt, hintennach sich zerstöre und aufs Geratewohl ausgehe.“

Woher kannte Hegel die Mehrheit unserer Kabarettisten, die alles absegnen, indem sie es zum Schein durch den Kakao ziehen? Ventiliert sie, lasst ihnen Dampf ab, damit sie denken, sie hätten die maroden Verhältnisse beim Johlen überwunden. Wollten die

Hofnarren ihre königlichen Arbeitgeber etwa stürzen?

Hallo, aufwachen, wir sprachen von romantischer, nicht von sokratischer Ironie. Der Unterschied? Die erste will, dass alles gleich bleibt, die zweite ist dagegen. (BLZ-Interview von Jörg Hunke)

Götz Aly, Schulmeister aller Weltrevolutionen, lässt sich von billigem Barrikadenjubel nicht bluffen. Arabische Revolution? „Wer die Aufstände in arabischen Ländern als „Frühling“ der Freiheit glorifizierte, handelte grob fahrlässig.“ Nein, nicht mal eine anständige Opposition kann Aly erkennen: „Es war und bleibt realitätsblind, wenn viele Politiker und noch mehr Journalisten von der „DER Opposition“ faseln. Weder in Kairo noch in Bangkok, Kiew oder Damaskus gab es jemals DIE Opposition, sondern nur Agglomerationen (= Ballungen) verschiedenartiger Unzufriedenheiten.“

Unzufriedenheiten, so der deutsche Spezialist für angewandte Revolution, haben sich gefälligst in Schritt und Tritt aufzustellen und sich nicht pöbelhaft zusammenzuballen. Druck von unten? Wenn’s unbedingt sein muss – aber bitte unter Oberaufsicht weiser Männer, geduldiger Reformer und Überläufer der herrschenden Eliten.

Solange Araber und Ukrainer Alys Revolutionsbücher nicht gelesen haben, bleiben sie bahnsteigkarten-unmündig. Sind sie nicht sogar verkappte Faschisten, die täuschend echt Freiheit und Demokratie skandieren? Mann Klitschko! Kosakenfäuste allein genügen nicht. Es muss auch ein kühler deutscher Kopf dabei sein –, der Götz Aly heißt. (Götz Aly in der BLZ)

Was ist das Wort des Jahrzehnts? „Es ist doch nur Fernsehen.“ Sprach Christine Westermann bei Lanz, als sie gestern Abend über das ärgerliche Mobbing gegen den geplagten Fernsehmann plauderten und ihn zum Märtyrer der Meuten erhoben.

Pardon. Nicht ihn, sondern einen Ex-Bundespräsidenten, der unschuldig vor Gericht steht. Der arme Christian und der arme Markus, welch bittere Tage sie erleben. Sie opfern sich fürs Volk, doch Undank ist der Welt Lohn. In unterentwickelten Ländern findet die Revolution auf eiskalten Straßen und Plätzen statt, im Deutschland im beheizten TV-Studio.

Oliver Stock vom HANDELSBLATT hat nichts gegen Netzempörung, dennoch ist sie wertlos: „Das Netz lässt Meinungen zu. Das ist sein großer Gewinn. Aber es vervielfältigt sie ins Unendliche und entwertet sie dadurch. Das ist sein großer Fluch.“

Kritik ist kostbar, solange sie von wenigen erwählten Edelschreibern kommt, wenn aber das unendliche Volk sich einmischt, wird’s inflationär und wertlos. Wirtschaftswachstum muss immer unendlich sein, unendliche Massen aber sind ein Verhängnis.

Für Hajo Schumacher geht’s ohnehin um fast nichts. Außer Spesen und privaten Geschmacksfragen nichts gewesen: „Denn hier geht es nicht um große Probleme, sondern um Befindlichkeit, Geschmack und Meinung, also private Dinge, die auch mit dem ewig wiederholten Hinweis auf die Rundfunkgebühren nicht gesellschaftsrelevanter werden. Nie war es einfacher, im Minutentakt aufbrausenden Stimmungen den Anschein von demokratischer Mitbestimmung zu verleihen.“

Alfred Biolek, Altmeister der Unterhaltung, hält die Masse nicht für blöd. Was empfiehlt er? „Die Quote derjenigen, die abschaltet, ist nicht zu verachten.“ (Harry Nutt in der BLZ)

Bitte keine Aufregung im Wasserglas. Es geht doch nur um Fernsehen, es geht doch nur um Demokratie. Wie wär‘s mit Wegzappen und Abschalten: vor der Glotze – vor der Demokratie? Nach repräsentativer Volksherrschaft haben wir nun auch ein repräsentatives Bildungsfernsehen. Jeder zahlt, alles schweigt. Wer Merkel ablehnt, zappt einfach aufs Dschungelcamp.

 

Da hatte ein Chefredakteur eine phänomenale Idee. Wir brauchen einen Artikel über die Bedeutung der Religion. Wie wär‘s mit einem Experten-Interview? Über Religion wissen nur Theologen Bescheid.

Da ist er auch schon, der objektive Fachmann: er heißt Heiner Bielefeldt, ist gelernter katholischer Theologe, hat sich auf Menschenrechte spezialisiert und kennt sich aus in der großen weiten Welt.

Wenn eine Talkshow mit sechs Leuten über Religion debattiert, sitzen mindestens 7 Gottesgelehrte im Raum, inklusive jenem Atheisten, der das Loblied auf Religion am höchsten anstimmt, immer mit der koketten Bemerkung: ich persönlich bin natürlich religiös unmusikalisch.

Das Thema des Frage- und Antwortspiels klingt verheißungsvoll: Welche Rolle spielt die Religion in den Weltkonflikten? Ratet, meine Geschwister, welche Meinung der fromme Gesprächspartner vertritt?

Richtig: „Es zeigt aber auch, dass das Schlagwort „religiöser Konflikt“ der Lage nicht gerecht wird. Religion ist nie allein die Ursache. Aktuell sehe ich sie in keinem einzigen Konflikt eindeutig als der entscheidende Auslöser. Weder in Syrien noch anderswo.“ (SZ-Interview von Isabel Stettin)

Religionen spielen in Konflikten nur eine Rolle, wenn sie positive Wirkungen haben. Mögen sie hin und wieder Konflikte geringfügig verstärken, grundsätzlich können sie dazu beitragen „Brücken zu bauen und neues Vertrauen zu schaffen.“ Wenn nicht Religionen die Ursachen sind für Spannungen und Kriege zwischen den Denominationen, wer dann sonst?

Die Menschen, die Politik, der Staat, die Umstände.

Nur orientierungslose Menschen reagierten auf Hasspredigten, so Bielefeldt. Sind Hasspredigten nicht religiöse Faktoren? Ist orientierungslos soviel wie säkular? Also nur areligiöse Menschen reagieren auf Hasspredigten, weil ihnen Hass Orientierung liefert?

„Wenn der Staat durch und durch korrupt ist und nur die Interessen bestimmter Klientel bedient, müssen viele Menschen ihr Leben selbst organisieren und sich auf ihre eigenen Netzwerke verlassen. Was bleibt ihnen sonst übrig? Das kann dazu führen, dass der Blick eng nach innen gerichtet wird und vertrauensvolle Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gruppen teilweise oder vollständig zusammenbricht. In extremen Fällen entsteht so ein Klima äußerster politischer Nervosität oder gar Paranoia. Religion kann ein Faktor solcher Paranoia werden. Politische Machtkämpfe werden so scheinbar zu Konfessionskriegen.“

Merke, überall, wo es religiöse Konflikte gibt, sind es nur scheinbar religiöse Konflikte. In Wirklichkeit geht’s immer um böse Menschen und den bösen Staat, die nichts Besseres zu tun haben, als Religion zu missbrauchen, damit die Glaubenssysteme der Welt in Verruf geraten.

Überhaupt sind Ursachen immer vielfältig und ambivalent, das ist die Lieblingserklärung deutscher Professoren, die allergisch sind gegen alles Schwarz-Weiß-Denken und sich zu weltweit führenden Experten in Grauheit entwickelt haben. Ihr wissenschaftliches Credo: Im Dunkeln sind alle Katzen grau.

Eindeutige Antworten sind ein Gräuel für hochdifferenzierte, gebildete Akademiker. Nehmet irgendein brisantes Thema und schaut bei Wiki nach, was erlebt ihr? Ihr werdet mit soviel Differenzierungen und Schlagwörtern eingedeckt, dass ihr bald die Segel streicht.

Ach so, du willst nur einfache Lösungen und rechthaberische Formeln, mein Freund? Die gibt’s nur bei Sekten, Gurus und Scharlatanen.

Also auch in der christlichen Kirche, oh Pater? Denn die Prediger sagen doch immer, der Mensch ist an allem schuld, Gott wäscht seine Hände in Unschuld. Dann wäre auch die Kirche eine Sekte mit einfachen Antworten?

Mein Sohn, wer gerettet werden will, muss glauben. Wer nicht glaubt, wird sehen, wo er landet.

Vater, ist das nicht zu einfach? Du hast ganz recht, mein Sohn, es gibt nicht nur Himmel und Hölle, es gibt noch was dazwischen, nämlich das Fegefeuer. Womit die Kirche ihre hochdifferenzierte Denkweise unter Beweis gestellt hat.

Die Hauptursachen des menschlichen Elends sind nicht die Religionen, sondern die Gegner derselben: „Vieles hängt an Bildung und Aufklärungsprozessen, an Perspektiven für die Jugend, Korruption oder Nicht-Korruption.“ Das hätte Novalis auch nicht anders gesagt. Alles Elend der Moderne kommt von der Zersetzung des gläubigen Mittelalters durch Bildung und ätzende Aufklärung.

Schon hat der Professor das richtige Beispiel zur Hand, wo Religionen eine konstruktive Rolle spielten. In Sierra Leone sind Glaubensgemeinschaften die tragenden Kräfte beim Aufbau des Landes, „ein wichtiger Faktor bei der Versöhnung. Nicht nur zwischen Christen und Muslimen, auch zwischen unterschiedlichen islamischen Gruppen gibt es keine Probleme. Das ist ein ganz anderes Erfahrungsfeld von Religion in einem nach wie vor sehr schwierigen Land.“

Auf gar keinen Fall spielten Unterschiede der Religion eine Rolle. Gewiss, gelegentlich werden „zentrale Figuren der Religionsgeschichte – sunnitische Kalifen oder schiitische Imame – von der jeweils anderen Seite delegitimiert. Das kann provozieren.“ Doch insgesamt muss gesagt werden, dass es eher um Familiengeschichten geht, „um identitätsstiftende Erzählungen aus jüngerer Zeit, die Militarisierung von Identitäten. Die inhaltlichen Differenzen der unterschiedlichen Richtungen des Islam selbst tragen nicht allzu viel zur Erklärung bei.“

Und woher stammen die Familiengeschichten, die identitätsstiftenden Erzählungen, die Militarisierung der Identitäten? Wenn Gesellschaften religiös sind, ist dann nicht die ganze Gesellschaft von Religion durchdrungen? Gibt es Gläubige, deren Leben nicht von Frömmigkeit ganz und gar geprägt ist?

Religion soll das wichtigste im Leben der Menschen sein, ihr Leben aber soll von keiner Religion tangiert sein? Europa soll ein christlicher Kontinent sein, doch alle Schwierigkeiten rühren daher, dass er nicht mehr christlich ist?!

Gibt es denn Konflikte, bei denen man positive Effekte der Religion nachweisen kann? Jetzt festhalten: „Es gibt Erfolgsbeispiele. Der Nordirlandkonflikt ist nach ein, zwei Generationen einigermaßen befriedet – auch wenn hin und wieder etwas aufflackert.“

Einer der schlimmsten und hartnäckigsten religiösen Konflikte in Europa zwischen katholischen Iren und neocalvinistischen Angelsachsen soll der Versöhnungskraft der Religionen zuzuschreiben sein?

Das blanke Gegenteil ist der Fall. Weil die Macht alleinseligmachender Religionen nachlässt, konnten die uralten Wunden ein wenig zuheilen.

Im ganzen Interview ist keine Rede von der dogmatischen Struktur der Erlöserreligionen, die nach dem Motto handelten: wer nicht für uns ist, ist wider uns – und muss mit dem Schwert der Liebe gerettet werden. Die Liebesretter mit dem Schwert beriefen sich durchweg auf die gepriesene Bergpredigt:

„Wenn dich aber dein rechtes Auge ärgert, so reiß es heraus und wirf es von dir. Denn es ist dir besser, daß eines deiner Glieder verloren gehe, als daß dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde.“ Damit die Sünder nicht verloren gehen, wurden sie prophylaktisch zum Tode verurteilt.

Ach, das sind ja alles olle Kamellen. Klerikale Apologeten pflegen an dieser Stelle zu sagen: haben wir dies nicht schon ein paar mal gehört? Wenn ein neuer Band von Deschners Kriminalgeschichte des Christentums veröffentlich wird, lesen wir bei einschlägigen Feuilletonisten – und es ist schon eine große Gnade, dass sie überhaupt darüber schreiben: Nichts Neues unter der atheistischen Sonne. Die Gottlosen wiederholen sich. Im Gegensatz zu den zeitgeist-kompatiblen Theologen, die alle Dezennien eine neue Dogmatik erfinden.

Hier haben wir ein typisches Vertuschungs- und Verfälschungsprodukt über das Thema Religion vor uns. Keine einzige kritische Frage, die den Experten in Schwierigkeiten bringen könnte. Dass intolerante Erlösungsreligionen mit friedlichen Naturreligionen nichts zu tun haben, wird nicht mal erwähnt. Für Westler sind Naturreligionen kindische Steinzeitprodukte.

Kein Wörtchen über den Inhalt der monotheistischen Erlöserreligionen. Zwischen heiligen Schriften und dem Handeln der jeweiligen Gläubigen scheint es keinerlei Zusammenhänge zu geben. Über Bibel, Koran und Talmud kein einziges Wörtchen.

Welche wissenschaftlichen Methoden benutzt der Professor, um den Einfluss der Religionen nachzuweisen? Genügt das Bauchgefühl eines Rechtgläubigen, der in seinem dunklen Drange sich seines Urteils stets bewusst sein kann?

Gibt es demnächst ähnliche Interviews mit Nicht-Christen, die die Gewaltreligion des Westens mit ganz anderen Augen sehen?

Ein selbstkritischer Westler schrieb 1969: „Die Europäer möchten ihrer Geschichte, einer „großen“, mit Blut geschriebenen Geschichte, entkommen. Aber andere – viele hundert Millionen – nehmen sie erstmals auf oder kommen gerade auf sie zurück.“ (Der französische Soziologe Raymond Aron)

Ein berühmter indischer Denker, Swami Vivenakanda, beschreibt die Wirkung des christlichen Westens in drastischen Worten:

„Vergiftet vom berauschenden Wein neugewonnener Macht, furchterregend wie wilde Tiere, die den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennen, Sklaven der Frauen, von ihren Begierden übermannt, von Kopf bis Fuß von Alkohol getränkt, ohne jede Norm rituellen Verhaltens, unrein, materialistisch, von materiellen Dingen abhängig, mit allen Mitteln nach Grund und Reichtum anderer Menschen greifend, der Körper ihr alleiniges Ich, nur auf die Erfüllung ihrer Begierden bedacht – das ist das Bild des westlichen Dämons in indischen Augen.“ (Zitiert im phänomenalen Buch von Pankaj Mishra: „Aus den Ruinen des Empires“)

Ist das der Fiebertraum eines gedemütigten indischen Brahmanen – oder ein Beispiel für die Verwandlung der Bergpredigt in westliche Weltherrschaft, die alle internationalen Beziehungen bis heute vergiftet?