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Ausnahme und Regel

Hello, Freunde der Projektion,

wenn die Welt meine Projektion ist, erfahre ich nur mich. Wenn ich ein Projektionsbuch lese, lese ich nur mich. Wenn ich meine Vorstellungen auf eine weiße Leinwand projiziere, sehe ich nur mein Bild. Wenn die Welt nur ist, was ich projiziere, bin ich die Welt, die Welt ist ich oder ich bin die Welt.

Sollte die Welt eine Schöpfung sein, ist sie meine Schöpfung. Durch Projektion habe ich sie erschaffen. Da alles von mir erschaffen wurde, gibt’s außer mir nichts. Wenn der Schöpfer der Welt Gott genannt wird, bin ich Gott.

Wenn ich erkenne, erkenne ich nur mich, denn außer mir gibt’s nichts zu erkennen. Erkennen ist Selbsterkenntnis, denn erkennend habe ich es nur mit meinem Selbst zu tun. Ein Fremderkennen kann es nicht geben, denn ein Fremdes gibt es nicht – oder es ist unerkennbar, da ich nur mich erkennen kann.

Für den gesunden Menschenverstand ist alles bisher Gesagte Irrsinn. Doch der Irrsinn ist der Kern der modernen Philosophie. Seitdem die Nationalsozialisten sich als Gesunde bezeichneten, um alle anderen als Kranke zu vernichten, ist der Begriff Gesundheit anrüchig, ja gefährlich geworden.

Bin ich gesund, weil ich mich als Maß aller Dinge setze? Ist das Gesunde vielleicht das Kranke? Dann wäre das bisher Gesagte gar nicht krank, der gesunde Menschenverstand gar nicht gesund?

Wenn normale Menschen mit Philosophie in Berührung kommen, glauben sie, in ein Verrücktenkabinett zu geraten. Alles, was sie

für gesund und normal halten, wird auf den Kopf gestellt, das Normale und Gesunde gilt als abnormal und krank. Das Absurde erscheint normal.

Credo, quia absurdum, ich glaube, weil es verrückt ist. Das Absurde ist Gegenstand des Glaubens. Die Vernunft durchschaut das Absurde und erkennt das Plausible und für jeden Nachvollziehbare.

Sollte Philosophie eine absurde Welt sein, könnte man vermuten, dass die Weisheit der Welt unter die Vorherrschaft der Gottesweisheit geraten ist:

„Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten.“

Der Satz des Kirchenvaters heißt nicht: Ich glaube, obwohl es verrückt ist. Das Obwohl wäre noch nachvollziehbar. Der Glaubende wüsste den Unterschied zwischen verrückt und normal, würde aber das Wissen opfern, um seine Seligkeit nicht aufs Spiel zu setzen. Das wäre das Opfer des Intellekts – sacrificium intellectus. Um Gott die Ehre zu geben, verleugnet der Mensch seine Denkkraft und opfert sie dem Glauben, der allein fähig ist, die höheren Weisheiten Gottes zu erfassen.

Gott lässt sich mit menschlicher Vernunft nicht erfassen. Der Glaube ist eine höhere, erleuchtete Vernunft, deren irdische Erkenntnisprobleme im Himmel aufgelöst werden. Im Himmel wird es keine Rätsel mehr geben:

„Denn wir sehen jetzt nur wie mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich völlig erkennen, wie ich völlig erkannt worden bin.“ Das ist die paulinische Erkenntnistheorie, die sich der griechischen entgegenstellt.

Was aber bedeutet es, wenn der Satz des Kirchenvaters heißt: Ich glaube, weil es absurd ist?

Solange der Mensch auf Lösung seiner Rätselfragen im Himmel hoffen kann, muss er sein Denken nicht für null und nichtig erklären. Im Himmel werden alle Rätsel aufgelöst, das menschliche Denken auf höherer Ebene rehabilitiert. Beim Weil aber wird das irdische Denken vernichtet. Durch Absurdität vernichtet Gottes Weisheit alles menschliche Denken, das rettungslos deformiert ist. Rätsel müssen nicht mehr geklärt werden, denn es gibt keine mehr. Hat Gott Recht, muss der Mensch irren.

Gott ist nicht die höhere Ergänzung und Perfektionierung des Menschen, sondern sein absoluter Widerspruch. Wahr ist, weil es dem Menschen widerspricht. Das ist das Todesurteil über das menschliche Denken.

Diese zwei Traditionsströme durchfluten das Abendland:

a) Die Vernunft des Menschen erkennt die Welt, um sein Erkenntnisbedürfnis zu stillen.

b) Die Vernunft des Menschen ist ein Verblendungsinstrument, Gottes Wahrheiten vernichten alle menschlichen Wahrheiten.

Gott und Mensch, Gott und Natur, Glaube und Vernunft, göttliche Wahrheit und menschliche Wahrheit sind für immer unverträglich. Auch im Himmel wird es keine Harmonie geben. Hegels Dialektik bleibt ohne positives Ende. Adornos negative Dialektik hätte Recht. Auf Erden wie im Himmel gibt’s kein Happy End für menschliches Erkennen.

Wenn Gott Recht hat, weil er der menschlichen Vernunft in allen Dingen widerspricht, kann der Mensch seinem Erkenntnisapparat nicht in den kleinsten Dingen vertrauen. Alles muss falsch sein, weil er es denkt. Das ist eine intellektuelle Totalamputation.

Einerseits der griechische Stolz auf menschliche Vernunft, der den Abendländer bestimmt, andererseits die absolute Negation der menschlichen Wahrheit durch Gottes übernatürliche Wahrheiten. Wie muss die abendländische Durchschnittsseele beschaffen sein, wenn sie seit 2000 Jahren mit diesem absoluten Widerspruch leben muss?

Einerseits der abendländische Stolz auf Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, andererseits sein Glaubensimperativ, diesen Stolz zu brechen und alle Vernunfterkenntnisse im Namen Gottes zu eliminieren. Je vernünftiger etwas klingt, je teuflischer muss es sein.

Wer ist Vertreter der Vernunft und Wissenschaft: Faust oder Mephisto?

„Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,

Des Menschen allerhöchste Kraft,

Laß nur in Blend- und Zauberwerken

Dich von dem Lügengeist bestärken

So hab’ ich dich schon unbedingt …“

Würde Faust den Pfad der Vernunft nicht verlassen, hätte der Teufel keine Chance, dessen Seele einzufangen und seines Wegs zu führen.

Faust ist kein Aufklärer. Er hat die Schnauze voll von kalter französischer Vernunft und Newton‘scher Naturwissenschaft, die nur mechanische Gesetze erforschen kann. Wenn schon Natur ein Uhrwerk ist, muss der Mensch auch eine deterministische Maschine sein, die man aufzieht – und dann läuft und schnurrt sie berechenbar bis ans Ende der Zeiten?

Niemals. Goethe beginnt als aufklärungsallergischer Stürmer und Dränger, der nicht aufs Rationale, sondern aufs Irrationale setzt. Was ist irrational? Das Besondere, Zufällige, Unberechenbare, Willkürliche und Unvorhersehbare: alles, was unverständlich bleiben muss. Mit einem Wort: das Absurde.

Obwohl die Stürmer und Dränger keine Freunde des Christentums waren, denken und fühlen sie noch weitgehend christlich. Die jungen Wilden wehren sich nicht nur gegen die Tugendpredigten der Kanzelredner, sondern gegen den erhobenen Zeigefinger der aufgeklärten Moral. Alles, was von außen kommt, entspricht nicht der neu erwachten Autonomie. Die jungen Kraftgenies wollen alles sich selbst verdanken.

Ist das nicht sinnvoll? Unbedingt. Dennoch beginnt hier der Weg der Deutschen in die Irre. Sie verwerfen nicht nur die Glaubensgebote, sondern auch die Direktiven der Vernunft. Ohne den kleinen Unterschied zu bemerken, dass der Glaube von oben kommt, die Vernunft aber die Stimme jedes Menschen ist. Menschsein und Vernünftigsein ist dasselbe. Vernunft ist nicht die Befehlsinstanz fremder Autoritäten sondern die innere Stimme jedes Menschen.

Indem die Deutschen alle Autoritäten vom Tisch wischen – die Franzosen, die Kirchen, den Glauben, das mechanische Weltbild Newtons –, verwerfen sie in einem Kraftakt auch die Vernunft. Alles, was aus dem Westen kommt, alles, was allgemein gültig sein will, muss beseitigt werden. Die Deutschen wollen ihren eigenen Weg herausfinden.

Hier stehen wir am Beginn des deutschen Sonderwegs. Das Deutsche kann nicht allgemein vernünftig, es muss etwas Besonderes sein. Nur, was aus dem Rahmen fällt, anderen notorisch widerspricht, was Ausnahme ist, skurril, irrational, verblüffend, wie ein vulkanisches Brausen, das niemand bändigen kann: das muss aus urdeutschen Tiefen stammen, die dem flachen Westen unzugänglich sind.

Das Irrationale kann auch nicht moralisch sein, denn Moralität ist Imperativ der Vernunft. Seit der Geburt des modernen Deutschlands aus der schroffen Abkehr vom Westen ist es die vernunftlose Unmoral, in der die Deutschen ihre unverwechselbare Eigenart erkennen. Vernunftmoral ist Kastratentum und kraftlose Feigheit:

„Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust und meinen Willen schnüren in Gesetze! Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.“ (Schiller) „Weg dann von mir Sympathie und menschliche Schonung! Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr und Blut und Tod sollen mich vergessen lehren. Dass mir jemals etwas teuer war. Glück zu dem Meister unter euch, der am wildesten sengt, am gräßlichsten mordet, denn ich sage euch, er soll königlich belohnt werden.“

Schiller‘sche Kolosse haben wir heute in Jan Fleischhauer und all jenen deutschen Brauseköpfen vor uns, die vor amoralischer Kraft nicht laufen können. Wenn alle Welt die Unmoral der Eliten kritisiert, schlägt die Stunde der neuen Stürmer und Dränger, die den Pesthauch der protestantischen Predigt hinter der Stimme der Vernunft wittern:

„Wir finden in der Steuerdebatte alles wieder, was man aus dem protestantischen Tugendmilieu kennt: der unbarmherzige Blick auf den Sünder, die Rechenschaftspflicht gegenüber Gott und Staat, die unendliche Bereitschaft zur Selbstzerknirschung. „Repräsentantinnen und Repräsentanten der SPD haben eine besondere Vorbildfunktion, der sie auch gerecht werden müssen“, erklärte ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel am Montag, als sich auch in den eigenen Reihen ein schwarzes Schaf fand. Die Vorstellung, Träger einer höheren Moral zu sein, ist allen politischen Fortschrittsprojekten eingeschrieben.“ (Jan Fleischhauer im SPIEGEL)

In ihrem privaten Leben sind die wilden Kerle überaus moralisch. Da verstehen sich hamburgische Vornehmheit und gutes Benehmen von selbst. Doch im teuflischen Staatswesen – das sie nicht als Demokratie erkennen – kann Moral niemals der oberste Wert der Gesellschaft sein. Das wäre ja wie gleichförmiges Marschieren in Nordkorea: eine totalitär gewordene Staatsvernunft. Denn wisse, authentische Moral kann nicht einstimmig sein. Sie muss immer die Ausnahme von der Regel sein.

Carl Schmitt, der NS-Sympathisant, ist ein echter deutscher Besonderheitsdenker: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.

Die Ausnahme von der Regel entspricht dem Auserwähltenstatus unter der Masse der Verdammten. Der Gläubige ist stets die Ausnahme, die Gott unter den Menschen macht, um Einzelne zu retten und die Mehrheiten zu verdammen.

„Nach der Auffassung des Sturm und Drang gibt es höhere Werte als Gesetzmäßigkeit. Das sind die großen Ausnahmen des Lebens.“ (Korff, der Geist der Goethezeit) Nietzsches Übermensch jenseits von Gut und Böse befindet sich in bester deutscher Tradition.

Dem demokratischen Ideal der Aufklärung tritt im Sturm und Drang eine neue Maxime gegenüber. Höchstes Ideal ist nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Nicht das allgemeine Gesetz, sondern der erwählte Einzelne. Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ ist eine genaue Beschreibung der Deutschen, die sich anderen Nationen nicht unterordnen, sondern das unvergleichliche Volk unter gleichgeschalteten Völkern sein wollten.

Versteht sich, dass unvergleichliche Ausnahmewesen nur unvergleichliche Verbrechen begehen konnten. Alles muss jenseits sein: jenseits von Gut und Böse, jenseits der Regel, der Normalität, jenseits von Maß und Ziel, jenseits der eigenen Begrenzung.

Merkwürdigerweise ist die Maß- und Regellosigkeit der Deutschen zum Grundgesetz des amerikanischen Neoliberalismus geworden. Nur die Besten zählen, die sich aus der grauen Masse lösen und sie meilenweit überragen. Immerhin sind beide Nationen auserwählte Gottesvölker. Mit einem kleinen Unterschied: die Amerikaner begnügen sich – in der Regel – mit wirtschaftlicher Exzellenz, die Deutschen wollen Supermänner im Abschlachten ihrer Feinde sein.

Die Amerikaner haben ein spezielles Fremdwort für ihre Einmaligkeit eingeführt: den Exzeptionalismus. Was Nietzsche mit Jenseits von Gut und Böse meint, ist für Amerikaner das Exzeptionelle. „Er bedeutet, dass die USA so toll, einmalig und einzigartig auf der Welt sei – kulturell, historisch, politisch und religiös, dass sie dort eine führende (Ordnungs-)Rolle zu spielen habe.“

Amerika hat die Besonderenrolle von Deutschland übernommen, zerstört immer mehr seine demokratische Regelhaftigkeit, um seinen alles überragenden Ausnahmestatus zu unterstreichen. Wie Vorkriegsdeutschland begründet Amerika seinen Exzeptionalismus mit der überhand nehmenden Not. In der Not ist dem Knecht Gottes alles erlaubt.

Je mehr sich Amerika von Neidern, Missgünstigen und Feinden umzingelt fühlt, umso größer die Not, umso weniger kann es mit normalen Mitteln auf die Bedrohungen reagieren. Könnten Amerikaner deutsche Choräle singen, würden sie in ihren weißen Kirchen anstimmen:

Aus tiefer Not schrei ich zu dir,

Herr Gott, erhör mein Rufen.

Dein gnädig Ohren kehr zu mir

Und meiner Bitt sie öffen.

Denn so du willst das sehen an,

Was Sünd und Unrecht ist getan,

Wer kann, Herr, vor dir bleiben?

Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gonst,

Die Sünden zu vergeben …“

Gnade und Gunst sind die theologischen Urworte für Erwählung und Besonderung der Gläubigen. Die Menschheit als fabrikartige Durchschittsware ist nicht fähig, die Gesetze Gottes zu befolgen, sondern nur die Ausnahmen, die von Gott erwählt wurden.

Der große Mensch ist die Ausnahmeerscheinung. Der große Leistungsträger ist der Milliardär. Die große Nation kann sich nicht an Normen halten, die sie anderen predigt. Gods own Country ist exzeptionell. Die EU ist eine Horde durchschnittlicher Graugänse. Die Einen sind prädestiniert, die anderen zu überwachen. Würden Europäer die Amerikaner ausspähen, wäre das eine Majestätsbeleidigung. Quod licet Obama, non licet Merkel.

Während die exzeptionelle Epoche der Deutschen in der Katastrophe endete, beginnen die Amerikaner, ihr gleiches Recht für alle zu demontieren und sich mit der Glorie des Unvergleichlichen zu schmücken. Die Rollen haben sich vertauscht, die Unvergleichlichkeit des Westens ist geblieben.

Was hat das Ganze mit Projektion zu tun? Projizieren heißt, die Welt nach dem eigenen Bilde zu bestimmen.

Die Griechen wollten die Welt erkennen, wie sie ist, ohne Prägung durch die Menschen. Projizieren wäre für sie Verfälschen gewesen.

Das christliche Abendland will nichts erkennen, was sich seiner Macht entzieht. Es bestimmt, was es erkennen will. Es erkennt nur, was es selber hergestellt und kreiert hat.

Projizieren ist herrisches Kreieren aus dem Nichts. Das war die subjektive Wendung zu Beginn der Neuzeit. Der Mensch, das neue Subjekt, betritt als Regent die Bühne der Welt. Sein projektiver Blick auf die Welt bestimmt, wie sie zu sein hat. Nach Vico kann der Mensch nur erkennen, was er selber gemacht hat. Die ungemachte Welt entzieht sich seinem Erkennen.

Er denkt, also ist er. Er schreibt der Natur vor, wie sie zu sein hat. Natur, unabhängig von ihm, ist ein unerkennbares Ding an sich. Er erschafft die Welt aus der Macht seines Ich.

Wahrheit ist nicht, was er vorfindet. Wahrheit ist, was er selbst konstruiert und fabriziert. Die Welt ist des Menschen Wille und Vorstellung. Der Mensch, das außergewöhnliche Wesen, fühlt sich als Dandy der Schöpfung, der sich keinen Regeln beugen muss.

Wie will der herrschsüchtige Pfau im Einklang mit der Natur leben?