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Tagesmail

Anonyme Götter

Hello, Freunde der anonymen Götter,

sahen wir tatsächlich die mächtigste Frau der Welt, verzerrten Angesichts, ächzend unter dem Marterholz, sich erniedrigend unter alle Welt, um die Größte zu bleiben von allen, auf dem Kreuzweg in der Heiligen Stadt?

Noch nicht. Aber fast. Viel fehlte nicht, als Magd Angela, nicht weit vom Papst entfernt, in Lumpen und Loden gekleidet, sich anonym unters Volk mischte, um in Niedrigkeit ihre Berufung zur Macht zu bestätigen und zu erneuern. Leibwächter müssen aus den jährlich sich wiederholenden Heiligenbildern auf Ischia – 25 Euro Tageskarte für das Thermalbad – selbstredend wegretouschiert werden. Mägde Gottes mit Bodyguards machen sich ikonografisch nicht gut.

„Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder; denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und des Name heilig ist. …“ „Denn der HERR ist hoch und sieht auf das Niedrige und kennt die Stolzen von ferne.“

BILD, die Heiligenpostille der Magd Angela, betet verzückt an:

„Wir sehen die Kanzlerin mit Basecap von „Boss“ auf dem Kopf, an ihrem Mann schlabbert eine Freizeitjacke. Die beiden könnten die Müllers, die Meiers sein. Ich mag dieses Paar. Es gibt nicht an, es protzt nicht. Es sind Menschen wie wir. Angela Merkel ist unsere Kanzlerin. Sie gilt als mächtigste Frau der Welt. Nun

hat sie Urlaub. Und ist ein Mensch wie wir.“

Gott ist Mensch geworden. Wir nähern uns wieder der Sanctification des Sündigen und Irdischen, der Heiligung der deutschen Politik. Nein, kein neuer Hitler-Vergleich – oder doch? Muss nicht jeder Deutsche sich auf der nach oben offenen Hitler-Skala überprüfen, wenn er wissen will, wie weit er Bruder Hitler in sich bewältigt hat – oder nicht?

„Herrgott, wenn doch Hitler helfen wollte.“ Auch am folgenden Tag notiert er: „Ich hoffe weiter, dass Hitler uns hilft. Ein einfacher, schlichter Mensch – wie du und ich, wird nicht nur für die Not des eigenen Volkes das tiefste Mitgefühl haben …“ So notierte John Rabe, ein gläubiger Nazi und der „Schindler von China“, in sein Tagebuch. (Stern)

Warum haben Gabriel und Steinbrück, die He-manner der SPD, nicht die geringste Chance gegen Angela? Weil sie immer die prahlenden und flegelhaften Ersten sein wollten. Doch die Ersten werden die Letzten sein. Solange Gabriel sich nicht erniedrigt und am Karfreitag in Second-Hand-Klamotten Obdachlose unter den Berliner Brücken speist und in Pilgerkleidung Abbitte tut für die Brandstiftung im Tröglitzer Flüchtlingsheim, solange kann er einpacken.

Längst hat sich die deutsche Politik durch die Magd Gottes sakralisiert. Die weltliche Politik ist vollständig in den Händen der Priester und ihrer politischen Marionetten. Wer nicht die klerikale Demutssprache, die Ikonografie des Verachteten und Allerletzten beherrscht, ist chancenlos im Vierten Reich der deutschen Macht und Herrlichkeit, die sich hinter der Maske des Gegenteils versteckt. So ließ sich einst der Zimmermannssohn aus dem niederen Volk ans Kreuz der Schande nageln, um seine Widersacher zu überwinden und zum Herrscher des Universums aufzusteigen.

Merkel mit triumphierendem Hitlerbärtchen? Das ist tagespolitischer Hass, keine Analyse. Hitler selbst war ein leidender Messias, der durch Niedrigkeit und Verachtung gehen musste, bevor sein Kreuzgang in die Auferstehung zum Führer der Deutschen münden konnte. So sah ihn Goebbels, ein gläubiger Katholik, der hinter der Niedrigkeit des erfolglosen Künstlers und bedeutungslosen Gefreiten aus dem Ersten Weltkrieg, seinen Erlöser erkannte.

„Aus streng katholischem Hause kommend, von überragender Intelligenz, studiert Goebbels Germanistik, schreibt Gedichte und Romane und sucht nach seiner großen Erfüllung, nach seiner Mission. Er liest „Mein Kampf“ und findet in Hitler seinen Messias.“

Als Hitler dem Bürgerbräu-Attentat entkommt, schreibt Goebbels in sein Tagebuch:

„Der Führer hat im Gegensatz zu früher eine halbe Stunde früher angefangen und zeitiger geschlossen. Er steht doch unter dem Schutz des Allmächtigen. Er wird erst sterben, wenn seine Mission erfüllt ist.“

Es gibt zwei Formen christlicher Politik, die sich in diametralen Formen äußern: die amerikanische Form, Verkörperung der ecclesia militans und triumphans, und die deutsche, die ihre Macht in der Geste der ecclesia patiens propagiert. Dies aber erst seit Merkels Wirtschaftsherrschaft. Zuvor war Deutschland desorientiert, zeigte German Angst und musste pro forma seine Vergangenheit bewältigen. Danach der Aufstieg zur Weltmacht, die keine sein darf, und sich doch immer mehr daran gewöhnt, bei unterlegenen Rivalen die Peitsche knallen zu lassen – stets verbunden mit dem überanstrengten Gesicht der mater dolorosa.

Obgleich die Methoden des Christentums – doppelte Wahrheit, widersprüchliche Moral – seit 2000 Jahren bekannt sein sollten, sind sie den europäischen Christen hermetisch verschlossen. Die religiöse Ignoranz trägt zum gloriosen Sieg der Pastorentochter bei, deren uneitel wirkende Symbolsprache als authentisch empfunden wird. Wohl uns, wir haben eine Kanzlerin, die persönlich im Supermarkt einkauft und sich einreiht in die Schlange vor der Kasse. (Man stelle sich Helmut Kohl oder Helmut Schmitt beim Einkaufen von Müsli vor.)

Da beide Politstile christlicher Herkunft sind, verfügen Amerika und Deutschland über gleiche Werte. Da beide aber von entgegengesetzten Auslegungen der Heilsgeschichte ausgehen, die für irdischen Menschenverstand unverträglich sind, widersprechen sich die beiden gläubigen Länder diametral. Amerika bekennt sich unumwunden zum „Exzeptionalismus“ – seiner Auserwähltheit –, während Deutschland seinen eschatologischen Platz in der Heilsgeschichte nicht finden kann.

Wie lange noch leisten die deutschen Volksmassen Widerstand gegen die auftrumpfende Großkotzerei ihrer ökonomischen Führerin? Sollte es der GROKO gelingen (auch die SPD ist längst zur christlichen Partei verkommen, beherrscht aber noch nicht das schillernde Registerspiel Merkels), ihren Glauben den Massen zu vermitteln, wird Deutschland sich der verhängnisvollen Wiederholung seiner Geschichte ein erhebliches Stück genähert haben.

Obwohl Egon Bahr weiß, dass Amerika sich als auserwählte Nation definiert, behauptet er, Amerikas Politik werde von Interessen, nicht von Werten geleitet. (TAZ)

Wer Religion in Politik transformiert, wie der Westen seit Jahrhunderten, kennt keinen Unterschied zwischen Werten und Interessen. Christliche Wertepolitik ist identisch mit dem Interesse, die Welt unter Gottes Regiment zu bringen.

Indem beide Länder sich ähnlicher werden, müssen sie auseinander driften: Nur ein Volk kann das wahre auserwählte sein. Derselbe Konflikt findet zwischen Washington und Jerusalem statt. Zum ersten Mal seit langer Zeit will die amerikanische Politik nicht länger den Anschein hinnehmen, als werde sie von Israel nach Belieben dominiert. Obama wagt den Aufstand – vermutlich nur deshalb, weil er in seiner zweiten Regierungsphase nichts mehr zu verlieren hat – gegen die Hegemonie der zunehmend ultrareligiöser werdenden israelischen Politik.

Da beide Völker sich als auserwählt empfinden, wird demnächst der Streit aufkommen, wer das wahre auserwählte Volk ist: das Urvolk oder das Volk der Moderne.

Netanjahu will die neue selbstbewusstere Politik Obamas nicht dulden und spielt den tollkühnen Glaubenshelden Klein-David gegen den amerikanischen Koloss Goliath. Wie immer, hält Merkel sich bedeckt und wartet, welche Bataillone siegen werden. Den Siegern wird sie sich unterordnen.

Netanjahu exekutiert eine ungehemmt gesinnungsrigide Religionspolitik. Die wahren Erwählten bestimmen den Kurs der Weltpolitik mit Hilfe der Weltmacht Nummer eins. Alle anderen Gojim haben sich zu fügen, Punktum. Tun sie‘s nicht, wie zu erwarten, fühlt Israel sich bestätigt als einsame und isolierte Gottesmacht, die keine Freunde auf der Welt besitzt. Ist es Netanjahu wieder einmal gelungen, alle potentiellen Freunde vor den Kopf zu stoßen, erfüllt er selbst sein Dogma, alle Welt lehne die Juden ab.

Religiöse Paranoia ist das Urproblem Israels, das die Kennzeichen einer säkularen Demokratie immer mehr abstreift und sich zu einem jüdischen Ajatollastaat entwickelt. Nur eine radikale Religionskritik könnte die säkularen Kräfte der israelischen Gesellschaft bestärken, die Übermacht der Ultras zurückzuschlagen und einzudämmen.

Gleich und gleich stößt sich ab, weshalb Netanjahu den Iran hasst wie das Reich des Bösen. Der Atomvertrag mit Teheran ist die bislang härteste Niederlage Jerusalems. Was bislang als großes Geheimnis galt – die ominöse Macht „der Juden“ – wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit als High Noon zwischen Obama und Netanjahu ausgetragen, der seine republikanischen Gesinnungsfreunde bedenkenlos nutzt, um die Autorität des Präsidenten im eigenen Land zu untergraben.

Der offene Schlagabtausch zwischen den beiden Alpha-Politikern könnte dazu beitragen, den wachsenden Antisemitismus im Lande noch mehr anzuheizen. Der Hund wagt es, sich der Vorherrschaft des Schwanzes zu entziehen. Da jede Kritik an Israel bislang als Antisemitismus eingestuft wurde, wird der Judenhass in Amerika weiter anwachsen.

Wenn‘s drauf ankomme, habe Israel keine Freunde auf der Welt, wird Netanjahu nicht müde, seinem Volk zu predigen. Dass dieses totale Misstrauen gegen die Welt auch die besten „Freunde“ Israels wie Amerika und Deutschland ins Mark treffen muss – treffen müsste, doch die beiden Staaten senken den Kopf und verstummen feige –, nimmt „David“ Netanjahu tollkühn in Kauf.

Die Bedrohung Israels durch die arabischen Nachbarn muss er ins Unermessliche extremisieren, um seine stets auf den schärfsten Ton gestimmten Rundumaggressionen gegen die ganze Welt zu rechtfertigen. Entweder ihr beugt euch meinen Direktiven – oder ich erkläre euch für Judenhasser: das ist die Dauerbotschaft Netanjahus an die Völker der Welt.

Welche Nation würde es wagen, Israel anzugreifen, wenn sie weiß, dass sie es mit Amerika aufnehmen müsste? Der Iran müsste kollektiv selbstmordgefährdet sein, wenn er auch nur im Traum daran dächte, das Heilige Land anzugreifen.

Israel befindet sich in einer absoluten Sackgasse. Seine Jugend verlässt massenweise das Land, die innenpolitische Stimmung muss zum Zerreißen sein. Alle frühen Ideale der zionistischen Gründerväter sind auf den Kopf gestellt. Kaum ein Land in der Welt mit einem schärferen Gefälle zwischen Arm und Reich. Das Land sieht keine Zukunft, ein Frieden mit den Palästinensern war mit den Ultras und Netanjahu zu keiner Zeit vorgesehen. Das ganze ehemalige biblische Land muss die zukünftige Beute des Dauerkriegs gegen die Palästinenser sein, darunter machen es die Frommen nicht. Palästinenser sind für die meisten Jahwe-Anbeter unterwertige Menschen.

Der offenbar gewordene Bankrott der Netanjahu-Regierung ist zugleich der Bankrott der deutschen und europäischen Israelpolitik. Keine Merkel-Regierung hat es gewagt, den israelischen Freunden die kleinste Kritik zukommen zu lassen, um sie vor dem drohenden Kollaps ihrer Schwarz-Weiß-Politik zu warnen. Die hiesigen Antisemiten, die sich als vasallentreue Philosemiten ausgeben, sind bis auf die Knochen blamiert.

In BILD kein einziges kritisches Wörtchen zu Netanjahu. Kann der unterschwellige Hass gegen Juden größer sein, als seine „Freunde“ sehenden Auges ins Verderben rennen zu lassen?

An Ersatzobjekten wie den griechischen Schmarotzern, den iranischen Mullahs, Putins asiatischen Horden, übt BILD schon mal seinen Antisemitismus. „Können wir den Mullahs trauen?“ Wir und die anderen. Wir sind die Guten, die anderen der Auswurf der Menschheit.  

Deutsche Journalistenverbände machen sich mitschuldig, wenn sie BILD-Vertreter nicht ächten. Der BILD-Verriss von Varoufakis war nichts als vorbereitendes subkutanes Bespeien jüdischer Klischees:

Varoufakis, der Lügner, der rotzfreche Blender. Der Schlaue, der Hochintelligente. Der Charismatiker. Der eitle Narziss. Der Emporkömmling. Der, der andere bedenkenlos übers Ohr schlägt. Der Gauner und Betrüger. Der das Blaue vom Himmel verspricht und nichts hält.

So beschimpfte einst „Der Stürmer“ die deutschen Juden. Es bedarf nur einer kleinen Umpolung der Aggressionen und aus dem Übungsobjekt Varoufakis wird eine antisemitische Drohkulisse, die sich gewaschen hat.

Diese totale Blindheit wird verkauft als Lehre aus dem Holocaust. Sie ist das pervertierte Gegenteil. Die einzige Lehre aus dem Holocaust ist Frieden, Frieden und – nochmals Frieden. Sonst nichts auf der Welt.

Frieden lässt sich nur mit peinlich genauer Befolgung der Menschenrechte erreichen. Wenn‘s gestattet ist: auch Palästinenser sind Menschen und müssen als gleichwertige Wesen respektiert werden. Von dieser Politik der Humanität ist Netanjahu weltenweit entfernt – immer gedeckt von den USA und Deutschland, die sich mit ihrer erbärmlichen Kumpanei selbst der Menschenrechtsverbrechen schuldig machen.

Merkels internationale Menschenrechtsbilanz ist verheerend. Nicht nur Griechenland und die Mittelmeerländer müssen mit sozialem Abstieg und vielen Toten dran glauben, die fehlende Solidarität mit Italien führt dazu, dass immer mehr Flüchtlinge im Mittelmeer den nassen Tod finden. Merkel verpanzert sich hinter lutherischer Grandiosität und Unfehlbarkeit: „Und wenn die Welt voll Teufel wär, so fürchte ICH mich nicht so sehr, es soll Mir doch gelingen.“

Der Iran-Deal, die mit Abstand sinnvollste Tat Obamas in seiner ganzen Regierungszeit, hätte das Potential, der ganzen Region in Nahost allmähliche Entspannung, vielleicht sogar Frieden zu bringen. Selbst der Syrienkonflikt schiene langfristig lösbar, wenn der Iran, bislang Schutzmacht Assads, in die Reihen der Völker zurückkehrte und den syrischen Despoten an die Kandare nähme. So die Meinung von Karim El-Gawhary in der TAZ:

„Die wichtigste Lehre aus diesem Kapitel der Beziehungen des Westens mit dem Iran: Die Zeiten haben sich geändert, seit die USA und Europa die Politik im Nahen Osten mithilfe ein paar verbündeter arabischer Diktatoren und Israels fast im Alleingang bestimmt haben. Heute lässt sich keine Politik mehr gegen eine der großen Regionalmächte Iran, Türkei und Saudi-Arabien durchsetzen. Das macht die Welt sichtlich komplizierter, aber vielleicht ist damit auch das letzte Kapitel des Kolonialismus zu Ende geschrieben.“

Ostern ist vorüber. Der Herr der Christen in Rom hat seine Machtansprüche – er sprach von Segen – urbi et orbi verkündet: der Stadt und dem ganzen Erdkreis.

Die wichtigsten politischen Meldungen in allen medialen Nachrichten waren Erinnerungen an ein Geschehen, das nur auf dem Boden eines erhitzten religiösen Wunschdenkens wachsen konnte. Der christliche Westen erlaubt sich eine Weltpolitik virtueller Selbstbefriedigung. Ungeheure technische und ökonomische Machtmaschinen haben den einzigen Zweck: die Botschaft eines phantastischen Erlösers der ganzen Welt aufs Auge zu drücken. Ob die Welt will oder nicht. Wer‘s wissen will: sie will nicht. Die nichtchristliche Welt verabscheut den gewalttätigen Messias der jesuanischen Zwangsbeglücker.

Warum musste Gott Mensch werden? Damit der Mensch Gott werden kann. Der fromme Abendländer ist selbst zum Gott geworden, der die alte Schöpfung vernichten muss, um eine nagelneue aus dem allmächtigen Willen des Gottesmenschen oder Menschengottes zu zaubern. Der Mystiker Eckardt spricht von der Gottwerdung in der Seele des Gläubigen:

„Gemeint ist, dass die Seele die Göttlichkeit ihrer eigenen Natur wahrnimmt und so Gott in sich selbst findet. Sie wird nicht etwas, was sie vorher nicht war, sondern erkennt das, was sie überzeitlich ist. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund des einzelnen Menschen aus und erfasst die Seele in ihrer Gesamtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweck der Schöpfung. Es handelt sich nicht um ein punktuelles Ereignis, das zum Abschluss kommt, sondern um einen fortdauernden Vorgang ohne Ende.“

Den Höhepunkt dieser abendländischen Deifikation (Gottwerdung) bildet die Philosophie Fichtes, die nur akzeptiert, was das ICH in seiner Tathandlung selbst hergestellt hat. Es gibt nichts mehr Gegebenes. Das Ich muss alles aus sich erfinden und herstellen, um seine Gottähnlichkeit zu beweisen. Der Mensch ist Gott geworden.

Als die deutschen Menschen Fichtes Philosophie in Politik verwandelten, stilisierten sie sich zu Göttern der Welt, die ihre Feinde als Teufelswesen ausrotten mussten. Die abendländische Kultur und Zivilisation sind gottähnliche Versuche, die böse gewordene erste Natur zu versenken, um Platz zu schaffen einer zweiten, die zum Paradies des Menschen werden wird.

In seinem Sohn betritt Gott in anonymer Gestalt die weltliche Bühne. In seiner demütigen Verkleidung als Mensch will er von den Menschen dennoch als unvergleichlicher Gott erkannt und anerkannt werden.

„In einem Märchen der Brüder Grimm verkleidet sich Gott als Wandersmann, geht an die Tür eines Reichen und bittet um ein Stück Brot. Man jagt ihn fort, und so geht er zum Haus gegenüber, in die Hütte eines Armen. Dort nimmt man ihn freundlich auf und teilt die dünne Suppe mit dem Fremden.“

Gott will vom Menschen in aller Niedrigkeit durchschaut werden. Die Prinzessin knallt den Frosch an die Wand – und der schöne Prinz steht vor ihr. So knallt die Menschheit den Sohn Gottes ans Kreuz – und der Auferstandene steht in seiner Majestät vor Jüngern und Frauen.

Auch hier die Trennung zwischen Männern und Frauen. Der ungläubige Thomas darf den Messias berühren, zu Maria Magdalena aber spricht der Herr in unwirschem Ton: Rühr mich nicht an. (Die von Fra Angelico gemalte Version dieser Frauenfeindschaft ist das Lieblingsbild des deutschen Expapstes.)

„Die Menschwerdung eines Gottes ist zum ersten Mal im Hinduismus erwähnt. In Hunderten von Geschichten wird berichtet, dass Shiva die Gläubigen in Menschengestalt besuche, um ihre Opferbereitschaft und ihren Glauben zu prüfen. Die Erscheinung eines Gottes in Menschengestalt ist auch in der griechisch-römischen Antike ein verbreitetes mythologisches Motiv. Beispielsweise beschreibt Homer gleich zu Beginn der Odyssee, dass Pallas Athene nach dem Ratschluss der Götter zum Haus des Odysseus eilt, wo sie mit dessen Sohn Telemach in Gestalt eines Fremden spricht, um seine Widerstandskraft gegen die Freier seiner Mutter Penelope zu stärken und damit drohendes Unrecht zu verhindern.“

Zuerst war Gott, der Mensch ein Nichts. Dann erhob sich das Nichts, machte sich zu Gott, um ein Etwas zu sein. Beide Versionen führten zur Herrschaft des Menschen über den Menschen, zur Vernichtung der Natur.

Erst wenn der Mensch den Menschen als gleichberechtigtes Wesen anerkennt, sich weder einem Gott beugen noch selbst zu Gott werden muss, wird er mit Mensch und Natur in Einklang kommen.