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Alles hat keine Zeit XXXVII

Tagesmail vom 02.11.2020

Alles hat keine Zeit XXXVII,

Rom droht, ein zweites Mal in den Staub zu sinken.

Was nicht bearbeitet ist, kehrt wieder. Bearbeitet ist, was vernünftig ist. Das Unvernünftige kehrt wieder als Schrecken, das Vernünftige bleibt gleich als Zyklus der Natur.

Die vom Menschen unberührte Natur ist vernünftig, weil sie vollkommen ist. Die vom Menschen berührte Natur wird unvollkommen und unvernünftig, weil der Mensch den Zyklus der Natur zerbricht und in eine unvernünftige Linie deformiert.

Eine Linie mit Anfang und apokalyptischem Ende ist eine Strecke des Unheils – die von Gläubigen Heilsgeschichte genannt wird.

Eine Heilsgeschichte, in der eine Minderheit heiliggesprochen, die gewaltige Mehrheit zum Unheil verurteilt wird, ist in Wirklichkeit eine Unheilsgeschichte, die unter dem Lügenetikett Heilsgeschichte den Menschen als Offenbarung verkündet wird.

Die Wiederkehr des Unbearbeiteten ist eine von der Natur gewährte zweite Chance, das Schreckliche zu korrigieren und in den Kreislauf der Natur zurückzukehren. Schaut her, Menschen, sagt die Natur, diese Giftherde müssen entfernt werden, sonst zerstören sie unsere Kooperation und besiegeln euer Schicksal. Ich werde zwar gerupft, ihr aber zerstört euch selbst.

Eine Strecke ist ein deformierter Kreis, der die Illusion erweckt, unendlich zu sein, obgleich er in Furcht und Schrecken ver-endet. Die christliche Moderne ist ein Illusionstheater, das technische Unendlichkeit anstrebt, in Wirklichkeit aber einem absoluten Ende entgegen steuert.

Unendliches Heil den Gläubigen, unendliche Katastrophe den Verworfenen: eine Erlöserreligion kennt keine Menschheit, sondern nur gespaltene Menschenhorden.

Eine gespaltene Menschheit kann keine einheitliche Politik entwickeln. Die Auserwählten wollen ans Ende, um das Unendliche als Preis zu gewinnen. Die Verworfenen wollen nicht glauben, dass sie Verlierer der Geschichte sind und rechnen mit ewiger Fortsetzung des Gleichen. Die Erwählten glauben nicht nur an ein irdisches Ende, sondern zugleich an eine überirdische Unendlichkeit, die sie mit technischem Fortschritt vorwegnehmen wollen.

Eine Menschheit, die sich nicht auf eine gemeinsame Zeit einigen kann, ist unfähig, eine globale Weltpolitik zu entwickeln. Auch ihre weltpolitischen Ziele sind gespalten.

Spaltende Religionen bestimmen heute das Weltgeschehen. Nie werden die Nationen fähig sein, sich auf eine Weltpolitik zu einigen, solange sie rivalisierenden Weltreligionen angehören. Bevor das spaltende Religionsproblem nicht gelöst ist, kann es keine gemeinsame Lösung der Weltprobleme geben. Solange wir nicht in den Zyklus der Natur einmünden, solange bleiben wir im verderblichen Wiederholungsmodus, der im Tode verenden muss.

Vergleichen wir uns mit Rom, dem Riesenreich der Antike, das nach strahlenden Siegen und einer „ewigen“ Herrschaftsdauer kollabierte – und in die Hände der Erlöser geriet, die alles Irdische auslöschen wollten, um dem Überirdischen entgegenzueilen.

„Unser Staatswesen ist im Himmel, von wo wir auch den Heiland erwarten“. Das war das Todesurteil der Jenseitigen über das Diesseits.

Ein religiöses Bekenntnis ist zugleich ein politisches. Der Christ fühlte sich zugleich als Mitglied einer neuen Gemeinschaft, die der bestehenden feindlich gegenüberstand als Miliz (militia) Christi. Christus, der leidende Gekreuzigte, ist in Wahrheit der Imperator der Christen, der Pantokrator (Allherrscher) des Universums. Die Taufe als sacramentum ist ein militanter Fahneneid.

In der Geschichte von der Vertreibung der Händler aus dem Tempel ist es in aller Schärfe ausgesprochen: der Streiter Gottes ist befugt, sich über jedes Gesetz hinwegzusetzen, das dem göttlichen zu widerstreben scheint. Macht ist Recht, Allmacht zerstört Menschengesetz.

Das ist die Definition des Totalitarismus. Die drei Erlöserreligionen wollen totalitäre Theokratien auf Erden errichten – oder einem totalitären Jenseitsregime entgegeneilen.

Solange sie auf den wiederkehrenden Herrn warten müssen, sind sie den irdischen Staaten zur Untertänigkeit verpflichtet. Aber nur äußerlich, innerlich sind sie Bürger des Himmelreichs. Aus dieser doppelten Zugehörigkeit leitet sich ihre Strategie gegenüber den irdischen Staaten ab:

„Solange wir in der Minderheit sind, fordern wir die Duldung auf Grund Eurer Prinzipien; wenn wir die Mehrheit haben, verweigern wir sie euch auf Grund der unsrigen.“ (Tertullian)

Das war die in alle Welt posaunte List der Christen, die Toleranz der Heiden zu benutzen, um ein intolerantes Kleriker-Regime zu installieren.

„Es war eine der größten Errungenschaften der Antike, dass sie trotz mancherlei Hindernisse, dem Ziel eines toleranten Staates recht nahe gekommen ist. Was einst der lichte hellenische Geist schon verkündet hatte, wirkte bis ans Ende der Antike nach. Und gerade die römische Kaiserzeit hat zahllosen Kulten eine Toleranz gewährt, wie sie die Welt erst seit dem Zeitalter der Aufklärung zurückerobert hat. Der jüdische Historiker Josephus rühmt es als eine der größten Segnungen der Weltherrschaft Roms, dass es allen Völkern ungestörte Freiheit der Religion und des Kultus gewährt habe. „

Diese Toleranz wurde in Frage gestellt, als eine Religionsgemeinschaft auf den Plan trat, welche für die Weltsicht einer Menschengruppe ein Monopol beanspruchte und der übrigen Menschheit das Recht auf die Betätigung ihrer Überzeugungen versagte. Es kann keine furchtbarere Kriegserklärung gegen Andersdenkende geben als die Stelle des Galaterbriefes, wo alle Religionen des Polytheismus und alle Häresien als Werke des Fleisches und seiner Gelüste erklärt werden. (Pöhlmann, Der Staat und das Christentum)

„Aber selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht. Wie wir eben gesagt haben, so sage ich abermals: Wenn jemand euch ein Evangelium predigt, anders als ihr es empfangen habt, der sei verflucht. Will ich denn jetzt Menschen oder Gott überzeugen? Oder suche ich Menschen gefällig zu sein? Wenn ich noch Menschen gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht. Denn ich tue euch kund, Brüder und Schwestern, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist.“

Das war die Vernichtungserklärung der Christen gegenüber der Welt. Für Augustin war der Gedanke einer friedlichen Gesinnung der Christen gegen Andersgläubige so unfasslich, dass er es nur als Heuchelei begreifen konnte, wenn er geäußert wurde. Der Hass der Christen gegen die Welt war derart fürchterlich, dass es der Frohen Botschaft als Staatsreligion gelang, fast die gesamte Kultur der Antike zu zerstören.

Eine Lügenmär, dass es viele christliche Märtyrer gegeben habe. Viele Christen, begierig nach dem Jenseits, drängten geradezu danach, sich anzuzeigen, um durch Selbstopferung ins Himmelreich zu kommen. Als sie endlich die Macht errungen hatten, kam, was kommen musste: die instrumentelle Demut ließ ihre Maske fallen und entpuppte sich als rasender Hass gegen Mensch und Natur. Die Welt musste rasiert werden, um den Herrn zur Wiederkehr zu zwingen. Heute ist es der technische Fortschritt, der die Welt vernichten muss, um den unzuverlässigen Herrn zum Kommen zu zwingen.

Das Ende des Römischen Reiches war eine Gewaltorgie der Erwählten gegen die heidnischen Herren der Welt. Wen wundert es, dass die Römer den Christen „Hass gegen das Menschengeschlecht“ bescheinigten. Die Heiden standen unter dem Eindruck, dass in den Abgründen der Gesellschaft sich eine Bewegung staats- und kulturfeindlicher Elemente erhob. Eine Ausrottungspolitik, die schon Tertullian als vorbildlich für das Verhalten der Christen gegen die Heiden gerühmt hat.

Es war eine „Politik der absoluten Intoleranz. War es den Christen doch völlig gewiss, dass die Cäsarenherrschaft – die nichts anderes war als die Herrschaft des Satans – in Bälde durch die Gottesherrschaft vernichtet werden würde. Wie erbaulich war es für Christen, in der „Offenbarung des Johannes“ die Zerstörung der Stadt Rom in schrecklichen Bildern beschrieben zu sehen. In der verödeten Stätte würden unreine Vögel, unreine Geister und Teufel ihr Quartier machen – während im Himmel eitel Jubel herrschen würde. Wie berauschten sie sich am schmachvollen Tod der „großen Buhlerin im Scharlachgewand“, die „trunken ist vom Blute der Heiligen“, am schrecklichen Mahl der Vögel des Himmels, die das Fleisch der Kaiser und Könige und ihrer Heere fressen, wenn sie vom Zorne Gottes erschlagen am Boden liegen.“ (ebenda)

Es war eine fast totale Vernichtung der antiken Toleranz- und Lebensfreudekultur, die durch machtberauschte Christen exekutiert wurde. Die Christen wollten Untergang, um ins Jenseits zu gelangen. Also ließen sie die damalige Welt untergehen, um ihren Abgang ins Jenseits herbeizuzwingen.

Rom hatte zwei Seiten, die konträrer nicht sein konnten. Auf der einen Seite einen Kapitalismus, der unmenschlicher nicht gedacht werden konnte, auf der anderen eine religiöse Toleranz, die für die nicht-hellenischen Nationen undenkbar war. Man könnte sagen: der römische Staat war kein ausgeklügelt Buch, er war ein Gebilde in seinem Widerspruch.

Im Konkurrenzkampf zwischen Demokratie und Wirtschaft hatte die letztere einen außerordentlichen Triumph erzielt. Dennoch gelang es ihr nicht, die partielle Humanität der römischen Eliten auszurotten. Seneca war Neros Erzieher und einer der reichsten Männer des Reiches, doch wer würde ihn einen nur trostlosen Heuchler nennen, wenn er heute seine Bücher liest?

Wie lange dauerte es, bis im Mittelalter die letzten Papyri der griechischen Philosophen in mönchischen Klöstern auftauchten und ganz allmählich das Denken der germanischen Heiden beeinflussten? Keine Gemeinsamkeiten des römischen Untergangs mit dem Untergang der Moderne?

Beide Reiche sind Schüler der Polis, in deren Bauch ein feindliches Brüderpaar um die Vorherrschaft kämpfte. Urmutter war die Freiheit – die Humanität und Machtgier gleichzeitig in die Welt setzte. Die Feindschaft der Beiden bestimmte die Grundelemente der athenischen Polis, der hellenischen und römischen Welteroberung, der Erfindung des Christentums, das, süchtig nach dem paradiesischen Jenseits, die Mängel des Diesseits nicht mehr ertrug und – statt irdische Kultur zu korrigieren – eine überirdische Phantasiewelt an den Horizont malte.

Die Sehnsucht nach dem Himmel wuchs auf dem Boden einer vollständigen Ablehnung der Erde. Die Umwertung aller heidnischen Machtwerte war nur eine instrumentelle Leidens- und Demutshaltung, in Wirklichkeit war sie eine Aufblähung weltlicher Macht in eine überweltliche, auf die Poppers Verdikt tatsächlich passte: wer den Himmel auf Erden holen will, wird eine Hölle errichten. Zwischen der Utopie griechischen Denkens und dem totalitären Himmelreich auf Erden konnte Popper (und sein Freund Hayek) nicht unterscheiden. Bis heute eine der Hauptursachen, warum eine humane Wirtschaft nicht mal in gedanklichem Umriss entworfen werden kann.

Der Christ wurde zum miles gloriosus, zum glorreichen Soldaten in allen Disziplinen einer machtgierigen Kultur. In Technik und Wissenschaft, in Wirtschaft und Naturzerstörung, in Fortschrittswahn, der das Universum mit dem Himmel gleichsetzt, in Spaltung der Menschheit in Sieger und Verlierer, in Erwählte und Verworfene.

Die Aufklärung brach die Macht der Kirchen. Aber nur teilweise. Die Aufklärung war nicht perfekt und hätte weitergeführt werden müssen. Doch die Macht des Klerus war noch immer mächtig genug, um die geringsten Schwächen der Welt zu nutzen und die Sehnsucht der Menschen – in jeder Krise, die sie für unlösbar hielten – zur Rückkehr in den väterlichen Schoß zu bewegen.

In Amerika gab es von Anfang an eine Kluft zwischen aufgeklärten englischen Gentlemen und fundamentalistischen Christen, die aber nie ausgetragen wurde. Schon gar nicht, als die Macht des neuen Kolosses bis an die Spitze der Welt führte.

Der Erfolg der neuen Weltmacht machte alle trunken: von den Aufklärern bis zu den Apokalyptikern. Die Aufklärer wurden verdrängt durch die Starken und Tüchtigen, deren Erfolgsmaximen im neocalvinistischen Credo mit denen der Frommen zusammenflossen: wer Erfolg hat auf Erden, muss ein Liebling des Himmel oder seiner irdischen Tüchtigkeit sein. Erfolg im Himmel und auf Erden wurde zum nationalen Generalschlüssel der amerikanischen Weltmacht. Der Erfolg über die deutschen Hitlerianer war die Krönung dieses Siegesrauschs auf dem Weg zur Weltmacht Nummer Eins.

Doch nichts währt ewig, zumal die verschweißten Gegensätze ihre Verkoppelung auf Dauer nicht ertrugen. Gesättigt vom Erfolg, in die Zange genommen von der Aufholjagd bislang unterentwickelter Konkurrenten, begann die Vorherrschaft zu bröckeln. Die inneren Widersprüche eskalierten, die Klassen drifteten auseinander, die Vorherrschaft des „weißen alten Mannes“ begann in Bedrängnis zu geraten.

Der soziale Ausgleich durch Roosevelts New Deal wurde an den Wurzeln zerstört, die Reichen wurden über Nacht zu Milliardären, die Jugend rebellierte. Da schlug die Stunde Hayeks und Friedmans. Margret Thatcher und Reagan, die die neuen „Freiheitsgedanken des Geldes“ bewunderten, zerstörten die sozialen Nachkriegswirtschaften. Die Konkurrenz zwischen West und Ost musste die vom Staat gefesselten Wirtschaftsmächte befreien und der Linie der Grenzenlosigkeit folgen.

Der Rausch des Erfolgs war derart überwältigend, dass alle Staaten des Westens folgten, schließlich die „unterentwickelten Staaten“, die fiebrig zum Westen aufschlossen. Da konnten selbst die sozialeren Länder nicht mehr an sich halten. Der Labour-Chef Blair folgte den Spuren seiner Vorgängerin Thatcher, der deutsche SPD-Kanzler folgte den Spuren Blairs.

Seit dem Triumph des Neoliberalismus werden soziale Vernunft und Gerechtigkeit kleingeschrieben. Die Werte der Aufklärung werden geschleift. Die Gegenaufklärung, identisch mit der Rückkehr der Menschenverachtung, hat die Weltherrschaft übernommen. Die Vernunft des Menschen reicht nicht aus, um die Gesetze der Evolution zu durchschauen. Die Geheimnisse des Marktes verschließen sich der Intelligenz des Menschen. Der Markt wird zur undurchdringlichen Macht, die der Mensch „in Demut“ hinzunehmen hat.

 Die kleinen Esoteriker auf der Straße werden an den Pranger gestellt, die Esoterik der Religion und Gegenaufklärung wird nicht mal wahrgenommen. Die populistischen Versprechungen einiger Außenseiter werden geköpft, die populistischen Verheißungen der Technik, Wissenschaft und Politik in leuchtenden Lettern an den Himmel projiziert. In Silicon Valley werden faschistische Visionen gepredigt, die aus Wettbewerbsgründen von allen Ländern übernommen werden. Die Verheißung ewigen Lebens mittels Zahlenzaubers gehört noch zur niedrigsten Phantasmagorie.

Die Losung der nüchternen und sachlichen Gegenwart lautet: „Unmögliches wird sofort erledigt, auf Wunsch wird gehext, Wunder dauern etwas länger.“ Religion, die gigantischste VT aller Zeiten, behext erneut die Gehirne. Eine geheimnisvolle Allmacht bestimmt die Geschichte, was kann uns noch passieren, wenn wir vor dem V-Gott in die Knie sinken?

Freiheit wird zur Willkür von Einzelnen, die keine Freiheit der Gesamtgesellschaft zulassen. Die Entfesselung der Einzelnen unterminiert den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das muss so sein, denn Geschichte ist die Entfaltung der Kluft zwischen Besonderen und Überflüssigen ins Unermessliche.

Im untergehenden Rom übernahm eine lebensfeindliche Religion das Steuer der Geschichte und zerstörte die letzten Reste antiker Vitalität. Wer nicht in die Katakomben der Heiligen flüchtete, um der Sucht nach irdischem Glück zu entsagen, der durfte sich auf ewige Lust des höllischen Feuers einrichten.

Und heute? Kommt ein Nichts aus der animalischen Welt, um uns aller Freuden dieser Welt zu berauben – als Heilmittel. Ein Nichts aus Wuhan zerstört den Glauben an den ungefesselten Fortschritt. Die siegestrunkene Gattung, in allen Ländern der Welt zuhause, mit allen Freuden und Lüsten auf Kosten der Natur vertraut, muss ihr Gesicht vor Scham und Schande verbergen. Die exzellentesten Wissenschaftler plappern in Rätseln, Drohungen und Widersprüchen wie Urchristen bei der Ausgießung des Heiligen Geistes:

„Sie erstaunten aber alle und waren ratlos und sagten einer zum anderen: Was soll das bedeuten? Andere aber spotteten und sagten: Sie sind voll süßen Weines.“

Die Welle muss gebrochen werden, damit die Übernatur an Weihnachten im trauten Kreis der Familie gefeiert werden kann. Natürlich dürfen die Kirchen ihre Gläubigen um sich scharen, während die weltliche Zauberflöte für ihre kindliche Einfalt büßen muss.

Der klerikale Bonus regiert die Berliner Politik, während Macron für seinen Religionskrawall schwer büßen muss. Gibt es die geringste Solidarität bei deutschen Frömmlern, die sich heimlich empören über den Blasphemiker in Paris? Nirgendwo im christlichen Europa, schon gar nicht im Lande Luthers. Oh doch: deutsche Schüler müssen ihre französischen Altersgenossen unterstützen. Die deutsche Regierung verdrückt sich feige aus der Verantwortung.

Corona hat die Weltgerechtigkeit wieder hergestellt. Nicht Eliten sind schuld an den Krisen der Welt, sondern das Volk. Folgt es nicht der schwarzen Pädagogik der Kanzlerin, wird es von der Rute Gottes bestraft. „Das Virus bestraft Halbherzigkeit“, doziert die Pastorentochter. Früher hätten die Gläubigen von einer Strafe Gottes gesprochen. Corona hat zudem die Klimagefahr beseitigt, von ihr spricht niemand mehr. So wird eine Krise benutzt, um eine andere spurlos verschwinden zu lassen.

Wie hieß das Ganze auf Mediendeutsch? Deutschland ist ein aufgeklärtes Land mit christlichem Hintergrund. Bei uns gibt es Fremde mit Migrationshintergrund und Einheimische mit Religionshintergrund.

Selbst die Kanzlerin ist eine Physikerin mit Religionshintergrund, auf den sie besonderen Wert legt – durch Schweigen. Damit folgt sie dem Vorbild ihres Heilands, der die Frage eines Nichtgläubigen dadurch beantwortete, dass er – schwieg. Niemand fragt Merkel nach ihrem Glauben, jeder ist froh, dass sie (hoffentlich) noch einen hat, um ihr deutsches Volk in den Schlaf zu singen.

In einem christlichen Land will niemand wissen, was christliche Politik ist. Ein amerikanischer Biblizist und Trump-Anhänger benötigte nur zwei kleine Sätze dazu: es kommt nichtdarauf an, wer die Macht erringt, es kommt nur darauf an, wer die wirkliche Macht über alles besitzt – und das ist Gott. Augustin wäre blass geworden über diese laizistische Präzision seiner Zwei-Reiche-Lehre. Gleichgültig, wer regiert, Gott regiert die Regierer. Das weiß die deutsche Kanzlerin und – verstummt in göttlicher Verschwiegenheit.

Weshalb sie auch keine schlüssige Politik vorzuweisen hat. Sie selbst regiert doch gar nicht. Soll sie ihren himmlischen Vater in Rente schicken?

Corona ist wie ein kollektiver Psychotest. Hinter dem Vorzeichen rationaler Rettungsmaßnahen entlarven sich die geheimsten deutschen Sehnsüchte nach völkischer Zwangsbeglückung. Der viel gepriesene mündige Demokrat ist verschwunden. Offensichtlich versteht er wieder nicht die hochkomplexe Lage, die nicht mal die Oberen verstehen.

Denen kommt eine verwirrte Bevölkerung nur entgegen. Können sie doch ihren Wirrwarr elegant mit der Begriffsstutzigkeit der Untertanen erklären. Auch die Begriffe Aufklärung und Selbstbestimmung hört man nicht in den täglichen Coronameldungen. Wer sagte nochmal: habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen? Wusste der schon etwas von Durchseuchung, erster und zweiter Welle?

Die Widersprüche obrigkeitlicher Erlasse sind kein Zufall. Sie entsprechen dem deutschen Stolz auf dialektische Widersprüche. Widerspruchsfreiheit ist langweilig und entspricht nicht dem Risikoniveau einer Porschenation.

Moralisch wollten die Deutschland nie sein. Jetzt kommt ein Nichts aus der wilden Natur und – zwingt sie dazu. Zu Hause bleiben, die Freuden der Vereinsamung kennen lernen, kein unnützes Geschwätz unter so genannten Freunden. Die Amerikaner wissen: das sind die Vorboten des Endes. Die deutschen Aufgeklärten sind über biblizistische Geheimnisse erhaben.

„Denn es wird dann eine große Bedrängnis sein, wie sie nicht gewesen ist vom Anfang der Welt bis jetzt und auch nicht wieder werden wird. Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Mensch gerettet werden; aber um der Auserwählten willen werden diese Tage verkürzt.“

Ja doch, wir werden den düsteren November überleben. Wir werden in uns gehen und alle verhältnismäßigen Maßnahmen zum seelischen Innehalten nutzen. Wissen wir doch: alles was von Oben kommt, muss Liebe sein. Sagte jener Kirchenvater, der das große Vorbild des wittenbergischen Mönches war:

„Fand es doch Augustin ganz selbstverständlich, dass der Staat die Rolle des „Hirten“ übernehme, der mit „der Geißel das verirrte Vieh wieder zur Herde treibt“, und dass er die Diebe unschädlich mache, die das Vieh auf die Seite gelockt haben“. Den Abgefallenen aber bedeutet er, dass sie sich über die Auspeitschung nicht beklagen könnten, da sie ja „mit Liebe und nicht aus Hass gegeißelt werden.“

Fortsetzung folgt.