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Alles hat keine Zeit XLVII

Tagesmail vom 27.11.2020

Alles hat keine Zeit XLVII,

Jana aus Kassel und die lange Kette sind an allem schuld.

Angela aus Berlin ist schuldlos.

Jana ist schuld daran, dass im Jahre 2050 kaum ein Deutscher die tödlichen Hitzewellen überleben wird.

„Ändert sich nichts am aktuellen Wirtschaftssystem, werden bis 2050 bis zu 1,2 Milliarden Menschen in Regionen leben, die von tödlichen Hitzewellen betroffen sind. Die Bundesrepublik hat sich gemäß dem Pariser Abkommen verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu sein, wie es Bhutan heute schon ist. Wenn das Land weitermacht wie bisher, wird es das Ziel weit verfehlen. Was bis 2050 geschieht, in den nächsten 30 Jahren, entscheidet darüber, welche Zukunft die Menschheit hat. Deutschland braucht eine Idee, besser noch: eine Strategie, wie es unabhängig wird von diesen universellen Energiequellen. Wie es sein Stromsystem komplett aus erneuerbaren Energien speisen kann, mit welchen Anreizen Elektromobilität die Massen überzeugt; wie schnell es seine Gebäude sanieren und sie mit grüner Energie versorgen kann. Noch setzt der Staat oft die falschen Anreize, die Abgaben auf Strom zum Beispiel sind neunmal höher als jene auf Erdgas. Deutschland muss – wie alle Industrienationen – die Weichen neu stellen. Sonst wächst die Gefahr von globalen Naturkatastrophen weiter: mehr Dürren, mehr Agrarkrisen, mehr Überschwemmungen. Geschieht nichts, könnten sich die Küstenlinien bis Ende des Jahrhunderts verschoben haben. Dann lägen Hamburg oder Antwerpen womöglich unmittelbar am Meer. Und Amsterdam oder Cuxhaven hätte die Flut verschlungen.“ (SPIEGEL.de)

Es gibt nur ein Land in der Welt, das sich vorbildlich verhält, denn es ist dem Glück seiner Menschen verpflichtet: Bhutan.

„Der größte Teil seines Territoriums ist von Wald bedeckt, so garantiert es die Verfassung. Die Bäume schlucken dreimal so viel CO₂, wie in Bhutan ausgestoßen wird. Strom wird aus Wasserkraft erzeugt, Industrie gibt es kaum, dafür Ackerbau. Wirtschaftswachstum ist nachrangig, Zufriedenheit lautet die oberste Maxime im »Kingdom of Happiness«, wie sich Bhutan selbst nennt – auch in Zeiten der Pandemie, versichert König Jigme Namgyel Wangchuck: »Meine einzige Priorität ist das Wohlbefinden und Glück unseres Volkes.“

Zufriedenheit und Glück ihres Volkes sind für Angela bedeutungslos. Für sie zählen Wirtschaftswachstum und Überlegenheit im technischen und ökonomischen Wettbewerb. Industrie ist alles, Ackerbau ein notwendiges Übel. Teilnahmslos sieht sie zu, wie der Wald zerstört, der Ackerboden ruiniert wird.

Wie könnte man das Unheil verhindern? Die Rettung würde …

„… nach BCG-Rechnung knapp eine Billion Euro kosten, bis 2050 die Sektoren Energie, Transport, Gebäude und Industrie zu transformieren. Das sind 30 Milliarden Euro pro Jahr – eigentlich eine überschaubare Summe, so viel, wie die Deutschen jährlich für Tabakwaren ausgeben. Die Technologien dazu sind vorhanden. Was fehlt, ist ein Staat, der die richtigen Entscheidungen trifft.“

Angela bremst alle Rettungsmaßnahmen. Was sie in feierlichen Reden verspricht, hält sie nicht. Sie hintergeht ihr Volk mit der Begründung, bei nationalen Rettungsmaßnahmen müsse man alle mitnehmen. Da ihre Fahrlässigkeit viele Tote schaffen wird, wird sie viele Tote mitnehmen müssen. Sie selbst wird nicht mehr unter den Lebenden weilen, sodass ihre Heilige Schrift wieder einmal Recht behalten wird:

 Die Toten werden die Toten begraben.

 Angela ist an allem unschuldig.

Sollte es der Menschheit trotz allem gelingen, die Naturgefahren zu bändigen, lauern noch ganz andere Gefahren auf sie – die sie selbst verursacht hat.

„Ich meine Militäreinsätze, die Europa aufgezwungen werden, weil die Instabilität und das Chaos in anderen Teilen der Welt unsere eigene Sicherheit gefährdet. Das Problem ist, dass kein europäischer Politiker Erfahrungen hat mit dieser Form von existenzieller Bedrohung für unsere Lebensweise und unsere nationale Sicherheit. Wenn Sie den Willen eines modernen Landes brechen wollen, brauchen sie nur eine große Zahl von Präzisionsraketen und Marschflugkörpern mit konventionellen Sprengköpfen. Die sind viel billiger als ein Flugzeugträger oder ein modernes Kampfflugzeug, und Sie können die Opferzahlen des Gegners in die Höhe treiben, ohne Ihre eigenen Soldaten in den Kampf schicken und damit einer Gefahr aussetzen zu müssen. Sie nehmen den Alltag des Gegners ins Visier. Strom, Wasser, Telekommunikation, die staatliche Verwaltung, die Verteilerzentren der Supermärkte. Sie sabotieren das tägliche Leben der Menschen. Früher brauchten Sie Panzer, Bomber und Kriegsschiffe, um so viel kaputtzumachen. Heute geht das mit einer Kombination aus Raketen und Cyber. Dafür muss kein einziger Soldat irgendwo einmarschieren oder Gelände besetzen. Wenn Sie diese Kombination aus Raketen, Cyber und sozialen Medien geschickt einsetzen, können Sie jedes europäische Land mit einem Überraschungsangriff in nur 14 Tagen in die Knie zwingen. Ohne entschlossene politische Führung wird die Pandemie das Militär an die Seite drängen. Zu einer Zeit, in der die Welt so gefährlich und unsicher ist wie schon lange nicht mehr.“ (SPIEGEL.de)

Niemand stellt sich auf diese Cybergefahren ein, obgleich in allen Militärblöcken fieberhaft daran gearbeitet wird, die kybernetischen Waffen zu perfektionieren. Auch hier herrscht der Glaube an ein Schicksal, das die Menschen besiegen könnten – oder auch nicht. Wenn nicht, wäre es illusorisch, an die Machbarkeit des Schicksals zu glauben.

Zwischen der Machbarkeit aller Dinge und dem genauen Gegenteil schwankt die Menschheit. Was kommen wird, wird unvermeidbar sein. Erschaffen und vernichten wurden ununterscheidbar. Das Fortschreiten der Wissenschaft ist prometheisch und fatalistisch zugleich. Es erringt die Oberhoheit über die Welt, zusammen mit Gefahren und Problemen, die nur durch weiteres Fortschreiten und Erfinden gelöst werden könnten.

Das Gesetz des Fortschritts ist unaufhörlich wachsende Gewalt über die Natur, verbunden mit Todesgefahren für die Gattung, die nur durch ein weiteres Voranschreiten der Wissenschaft gebändigt werden könnten.

 1. Fortschritt. 2. Macht über die Natur, verbunden mit 3. unlösbar scheinenden Problemen, die 4. ein weiteres Fortschreiten erfordern. Das ist das Gesetz eines sich selbst bestimmenden Fortschritts, das sich der Regie des Menschen entzieht und unbeeinflussbar seines Weges geht.

Wissenschaft entstand als Drang des Menschen, sich der Allgewalt der Natur zu entziehen, diese zu entmachten und zu vernichten, um eine eigene und neue an ihre Stelle zu setzen. Je mehr aber der Mensch seine Träume realisiert, je mehr werden sie zu Alpträumen. Denn die Macht über die Natur wird zur Macht der Natur über den Menschen. Je gottgleicher der homo faber, je mehr wird er wieder zur Marionette nicht zu bändigender Gewalten.

Die Verschärfung der Weltpolitik war voraussehbar. Alle Völker sind verdammt, den Wettbewerb der Geschichte als Sieger zu bestehen. Dadurch wird Geschichte zur Heilsgeschichte. Der Sieger hat sich als auserwähltes Volk erwiesen. Der Sinn der Geschichte ist nicht das friedliche Miteinander der Völker, sondern der Triumph der Lieblinge Gottes über die Minderwertigen und Verdammten.

Nicht nur der Wettbewerb in Technik und Wissenschaft ist Motor des Fortschritts, sondern das Wachsen der Wirtschaft, das nur die Leistungskräftigsten auszeichnet. Erst der finale Kampf der beiden stärksten Weltmächte wird den Wettbewerb der Heilsgeschichte beenden. Diesem apokalyptischen Finale steuern wir zu.

Wer dieses Finale vermeiden wollte, müsste Fortschritt und Konkurrenz beenden. Das wäre für die Matadore der Welt Gotteslästerung. Denn Fortschritt und Wettbewerb sind nichts als die weltlichen Maskierungen einer heiligen Geschichte. Das wissen nur die Eingeweihten, weshalb man von esoterischer Heilsgeschichte reden muss. Warum attackieren Journalisten die Esoteriker? Weil sie von ihren eigenen esoterischen Zwängen ablenken wollen.

Die deutsche und europäische Politik schwankt desorientiert zwischen Amerika und China. Von Amerikas unzuverlässiger Führung wollen sie sich lösen, indem sie sich dem chinesischen Herausforderer annähern, dessen totalitäre Strukturen sie zwar kennen, aber hoffen, sich mit ihnen arrangieren zu können.

Das gelänge nur, wenn sie sich dem Pekinger Koloss unterwerfen würden. Offiziell schließen sie diese Unterwerfung aus. Doch inoffiziell trauen sie weder Amerika noch sich selbst. Was bedeutet, sie müssten solange im Niemandsland umherirren, bis einer der beiden Weltgiganten sich durchsetzen würde. Dann könnten sie sich alternativlos unterwerfen, ja, sie wären zum Kotau gezwungen.

Wer auch immer sich durchsetzen wird, eins wäre klar: die Welt würde zu einem totalitären Einheitsgebilde zusammenwachsen, dessen Allgewalt sich niemand entziehen könnte.

Beide Unheilsstränge – Klimagefahr und die Tendenz zum Einheitsstaat – würden sich nicht gegenseitig  schwächen, sondern totalitär verstärken. Entweder gibt es Endzeitkriege ohne einen klaren Sieger (in denen Europa sang- und klanglos unterginge) oder es gäbe einen Sieger, der den Globus tyrannisieren wird.

Die einzige Möglichkeit, das Ungeheure zu verhindern, wäre ein friedlicher Weltstaat aller Völker. Das will die Basis der Völker, nicht aber ihre machtversessenen Tyrannen. Entweder gelingt es den Völkern, jene zu entmachten und gemeinsam die Weltregie zu übernehmen oder die Apokalypse wird ihre Prophezeiungen erfüllen.

In Deutschland gibt es keine Debatte über die heillosen Perspektiven der Weltpolitik. Hier regiert Corona das Feld. Für die Regierenden wurde Corona zum Glücksfall. Die Epidemie – ein Klacks, verglichen mit den suizidalen Gefahren der Weltpolitik– wurde zum Ersatzspielfeld, dessen Tohuwabohu den wahren Ernst der Lage verschleiert.

Verdrängung ist Unfähigkeit, der ungeschminkten Situation ins Auge zu schauen. Stattdessen wird eine harmlose Realität benutzt, um die wirkliche Lage zu verleugnen.

Verdrängen und verleugnen sind psychische Krankheitssymptome, die nicht erkennen, was ist, sondern an die Stelle des Unheils eine harmlose Ersatzgefahr setzen. Die gesamte deutsche Politik – mit Ausnahme der FFF und ähnlicher Naturfreunde – befindet sich im Zustand eines kollektiven psychischen Defekts.

Der Corona-Wahn in allen Facetten des Selbstbetrugs soll die Menschen davon abhalten, sich den wahren und wirklichen Problemen zu widmen. Diese Gefahren sind so angsterregend, dass die Deutschen den Kopf in den Sand stecken. Der Regierung ist es gelungen, die wahren Probleme so zu verdrängen, dass die Basis ihr Versagen nicht wahrnimmt.

Mit absichtlich organisiertem Wirrwarr werden die Menschen derart in ihrem Wahrnehmungsvermögen gestört, dass sie die wirklichen Weltkonflikte nicht mehr sehen können. Angela darf nicht schuldig sein, sonst müssten alle Deutschen schuldig gesprochen werden, die sie zur unfehlbaren Mutterfigur verklärten.

Corona ist der Name des Ersatzkonflikts, Angela der des Verdrängungs- und Verleugnungsvirus.

Deutschland befindet sich im Zustand der Massenneurose, die das Individuum vor Einzelneurose schützt. Jeder soll sich in seiner Umgebung sicher fühlen, damit er nicht auf die Idee kommt, auf die Barrikaden zu steigen und die Regierung zu stürzen. Solche revolutionären Anwandlungen sind von der deutschen Geschichte nicht vorgesehen.

Weil Angela aus Berlin nicht schuldig sein darf, muss Jana aus Kassel schuldig gesprochen werden.

Was hat sich Jana zuschulden kommen lassen? Sie beging den unverzeihlichen Fehler eines Geschichtsvergleichs:

„Von dem Publizisten und Aphoristiker Johannes Gross stammt der Satz: „Je länger das Dritte Reich tot ist, um so stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Das jüngste Beispiel lieferte am Samstag eine junge Frau in Hannover. Sie trat bei einer „Querdenken“-Kundgebung auf und stellte sich als Jana aus Kassel vor. Ich fühle mich wie Sophie Scholl“, sagte sie, „da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin.“ Die Geschwister Scholl gehörten zur Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und wurden im Februar 1943 vom NS-Regime hingerichtet. Der inflationäre Rückgriff auf angebliche Lehren aus der NS-Zeit hat aus der Erinnerung an die Vergangenheit einen Steinbruch gemacht, den inzwischen alle ausbeuten. Jana aus Kassel wird leider nicht die letzte gewesen sein.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Inflationäre Vergleiche? Existieren nur in den Augen der Betrachter, die mit der Vergangenheit aufräumen wollen. Die Moderne vollendet ihr Projekt, den Menschen zu einem Augenblickswesen zu verfälschen, das sich von Kairos zu Kairos neu erfindet und keine Geschichte kennt, die ihn geprägt hätte.

„Expert:innen warnen vor Vergleichen mit dem Nationalsozialismus im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Sie verhöhnten die Opfer des Holocaust, sagte etwa der Historiker Uwe Danker dem „NDR“. Außerdem wollten Kritiker der Corona-Politik mit solchen Vergleichen nur provozieren. Danker sagte außerdem, man solle dem nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, sondern öfter über die eigentlichen Opfer der Corona-Krise reden.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Wer aus der Geschichte des NS-Reiches seine Lehren ziehen will, damit sich die Menschheitskatastrophe nicht mehr wiederholt, verhöhnt die Opfer des Holocaust? Wenn das keine wahnhafte Verkehrung der Wahrheit ist, was ist es dann?

Da hat sich eine junge Frau die Widerständlerin Sophie Scholl zum Vorbild genommen – und das soll eine unzumutbare Provokation sein? Seit wann ist Provokation als Mittel demokratischer Kritik verboten? Sokrates wäre dann zu Recht zum Tode verurteilt worden. Die Deutschen sollten aus ihrer verhängnisvollen Geschichte lernen? Wie können sie das, wenn sie sich mit ihrer Vergangenheit nicht auseinandersetzen? Vergangenheit wird zum toten Archiv.

„Verschwörungsgläubige, Rechtsextreme und Populisten haben den historischen Vergleich gekapert und zur gefährlichen Waffe im Meinungskampf umfunktioniert. Das ist kein wissenschaftstheoretisches Phänomen aus dem Elfenbeinturm, sondern eine reale Gefahr für Demokratie und Debattenkultur. Mal wird die bundesdeutsche Demokratie mit dem NS-Terror verglichen, mal mit dem SED-Überwachungsstaat. Mal ist von »Stasi-Methoden« die Rede, mal von der »Nazi-Keule«. Was genau da miteinander vergleichbar sein soll, bleibt meist unklar, und so ist es auch gewollt: Der historische Vergleich soll seine einschüchternde Wirkung unabhängig von den Fakten entfalten.“ (SPIEGEL.de)

Da ist die ganze Sündenbockhorde versammelt, an der sich die Medien vergreifen, um Angelas Unschuld zu bewahren. Wie kann der historische Vergleich gekapert werden, wenn sich sonst niemand dieses Vergleichs bedient? Was soll gefährlich und einschüchternd sein, wenn der Vergleich in allen Medien unisono verhöhnt wird? Es wird immer gigantesquer: wo sollen die Gefahren für Demokratie und Debattenkultur lauern, wenn Jana zur lächerlichen Einzelgängerin entschärft wurde? Da werden Spatzen mit Kanonen beschossen, die Führungsklassen kommen ungeschoren davon.

Was gemeint sei, bleibt unklar? Klarer kann es gar nicht sein: Jana will Widerstand leisten gegen politische Vorgänge, die sie für verhängnisvoll hält. Ist das nicht vorbildlich? Ist das nicht das Salz der Demokratie?

Einwand: Jana vergleiche Unvergleichliches, unsere Demokratie ist keine NS-Diktatur, Widerstand gegen die Corona-Politik der Regierung sei nicht zu vergleichen mit dem tapferen Widerstand der Sophie Scholl, der sie das Leben gekostet hat.

Alles richtig, alles berechtigte Einwände gegen Jana aus Kassel. Dennoch ist ihr Vergleich legitim. Vergleiche beziehen sich zumeist nur auf einzelne Punkte. Wer ein Ereignis in allen Punkten mit einem anderen vergliche, würde identifizieren, nicht vergleichen. Vergleiche sind keine Identifikationen. Müssten sie in allen Punkten identisch sein, könnte es keine Vergleiche geben. Alle Menschen und Ereignisse sind einmalig. Einmaligkeit aber bedeutet nicht, dass es keine partiellen Ähnlichkeiten zwischen den Vergleichsobjekten gibt.

Wie wär‘s, pardon, mit Verstehen? Seit BILD-Reichelt die deutsche Verstehens-„Ideologie“ in den Müll warf, folgte ihm – unglaublich, aber wahr – die Majorität seiner KollegInnen. Gegner muss man heute nicht mehr verstehen. Es genügt, wenn man sie köpft. Das reicht vom Taschendieb bis zum Schwerverbrecher. Religiös motivierte Terroristen muss man nicht verstehen, indem man ihre Religion versteht. Religion, das Fundament des Abendlands, befindet sich ohnehin außerhalb jedes Verstehens. Entweder ist man erleuchtet oder nicht.

Verstehen heißt nicht verzeihen oder für richtig halten. Das kriegen die Deutschen, die nicht genug über Hermeneutik faseln können, nicht in ihren verständnislosen Kopf. Was ich verstehe, muss ich nicht billigen. Jeder Vergleich ist anfechtbar und kritikwürdig. Wir befinden uns im Zentrum der Demokratie.

Nichts ist unverständlich an Janas Vergleich. Jedes Kind ahnt intuitiv, worum es ihr ging. Angelas Politik, festgemacht an Corona, hält sie für gefährlich und angsterregend. Ob sie zum ersten Mal Widerstand leistet, wissen wir nicht. Wenn ja, brauchte sie einen exponierten Vergleich, um sich auf die Straße zu wagen. In Deutschlands Geschichte gibt es kaum vergleichbare Aktionen oder bekannte Widerständler. Wie oft hört man, die Deutschen müssten ihre schreckliche Vergangenheit aufarbeiten. Wie kann man etwas aufarbeiten, das man unvergleichlich in den Spiegelschrank stellen soll?

„Das ist ein bisschen so, als würde dieser Artikel seine Überzeugungskraft daraus speisen, dass der Autor ungefähr so alt ist wie Jesus von Nazareth bei seiner Kreuzigung. Schließlich prangerte auch der Sozialrevolutionär Jesus Missstände an und verärgerte damit die Mächtigen ebenso wie einige seiner Mitbürger.“

So kann nur ein Christ reden, der es offenbar nicht mehr ertragen kann, dass man ihn aufruft, seinem Heiland nachzueifern:

„Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen.“ „Wenn schon ich, euer Lehrer und Herr, euch die Füße gewaschen habe, dann sollt auch ihr euch gegenseitig die Füße waschen. Ich habe euch damit ein Beispiel gegeben, dem ihr folgen sollt. Handelt ebenso!“ „Von der brüderlichen Liebe aber ist es nicht nötig, euch zu schreiben. Denn ihr selbst seid von Gott gelehrt, euch untereinander zu lieben. Und das tut ihr ja auch an allen Brüdern und Schwestern in ganz Makedonien. Wir ermahnen euch aber, dass ihr darin noch vollkommener werdet.“

Christen werden dazu angehalten, sich mit ihrem Herrn und Meister zu vergleichen. Nicht, um sich als Gottes Sohn zu blähen, sondern um dem Unvergleichlichen nachzueifern. Was kann ich von Jesus lernen? In welchen Dingen habe ich mich seiner würdig erwiesen, in welchen Dingen bin ich ein erbärmlicher Sünder?

Alle Vergleiche hinken, wenn man sie mit Identifikationen verwechselt.

„Hinzu kommt ein Ermüdungseffekt: Je häufiger der Nationalsozialismus bagatellisiert oder die friedliche Revolution instrumentalisiert wird, desto mehr schwindet die historische Sensibilität für diese Themen. Im schlimmsten Fall verkommen die beiden deutschen Diktaturen zu entkernten Worthülsen, zu beliebig einsetzbaren Kampfbegriffen ohne Wahrheitsgehalt und Vorgeschichte.“

Ständig müssen wir uns erinnern und ermahnen, unseren demokratischen Pflichten nachzukommen. Werden Pflichten dadurch bagatellisiert? Kann sich Sensibilität entfalten, wenn man etwas nur selten betreibt? Dann sollte man es mit Empathie zu seinen Mitmenschen nicht übertreiben. Für dieses Jahr genug geliebt und sensibel gewesen! Ab jetzt wird zugeschlagen.

„Jana aus Kassel brüstete sich in ihrer kurzen Rede damit, als Teil des »Widerstands« Flyer zu verteilen und Versammlungen anzumelden. Vielleicht hätte ihr jemand verraten sollen, dass Sophie Scholl all das 1943 nicht tun konnte, weil regierungskritische Reden und Demos in echten Diktaturen verboten sind. Und vielleicht hätte man ihr auch sagen sollen, dass schon eine oberflächliche Google-Recherche die von ihr beschworene Parallele zur NS-Widerstandskämpferin widerlegt: Im Gegensatz zu Jana aus Kassel war Sophie Scholl nämlich nie 22 Jahre alt. Sie starb noch als 21-Jährige unter dem Fallbeil.“

An Torheit nicht mehr zu überbieten. Sophie Scholl leistete Widerstand. Auch mit Flugblättern. Natürlich in gebotener Vorsicht, damit die Geschwister nicht vom nächsten Gauwart dingfest gemacht werden könnten. Dass Jana noch dasselbe Alter haben müsste wie Sophie Scholl, macht fassungslos.

Der Nationalsozialismus wird nicht mehr bearbeitet, sondern als Giftschatulle in den Keller verbannt. Wie kann man etwas verstehen und seine Schlüsse daraus ziehen, wenn man es nicht zum Leben erwecken darf?

Merkwürdig, in geistigen Dingen ist historisches Vergleichen verboten, in medizinischen und technischen Disziplinen soll man aus der Vergangenheit lernen:

„Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächste Seuche ausbricht. Wenn es eine Lehre gibt, die wir aus der Geschichte ziehen sollten, dann ist es die Tatsache, dass Pandemien keine Ländergrenzen respektieren, sondern global zuschlagen und jeden treffen können, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder sozialer Schicht. Deshalb müssen sie auch global bekämpft werden. Und zwar nicht mit Gewalt, sondern mit umfassender Aufklärung, Zusammenarbeit. Und mit der Einsicht, dass unsere Gesundheit kein individuelles Gut ist, sondern von anderen abhängt. Dazu aber müssen wir erst lernen, uns wirklich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das einzige, was langfristig hilft, ist Empathie. Erst wenn wir dieses Mitgefühl aufbringen, werden wir nicht nur Corona, sondern auch zukünftige Pandemien wirksam bekämpfen.“ (SPIEGEL.de)

Das Verbot historischen Vergleichens ist die Vollendung der Moderne, die den Menschen seiner biographischen Entstehung in der Vergangenheit beraubt. Gibt es keine Vergangenheit, kann es auch keine Ursachen der Gegenwart geben. Ohne Ursachen kein Verstehen und Erklären. Gegenwart wird zur irrationalen täglichen Neuerfindung, der Mensch zum gottgleichen Phantom, das sich nach Belieben aus Nichts erschafft und ins Nichts vernichtet.

Alles, was nicht perfekt ist, muss verboten werden, predigen die Meinungsführer der Gegenwart. Demnach müsste Denken verboten werden, denn wir sind alle irrtumsanfällig. Fortschritt müsste verboten werden, denn er bringt den Untergang. Mensch müsste verboten werden, denn er ist fehlbar.

Das Schreiben der Medien müsste verboten werden, denn sie schreiben einen unerträglichen Stuss. Wer vergangenheitsblind von Minute zu Minute lebt, sollte sich über die Wiederkehr des Unheils nicht wundern. Alles Unaufgearbeitete steht unter Wiederholungszwang.

Jana muss nicht identisch sein mit Sophie, um sich mit der Unvergleichlichen zu vergleichen.

Einspruch: Jana muss schuldig gesprochen werden, damit Angela verklärt werden und ihr Volk unschuldig vor Gott stehen kann.

 Intellektuelle aus Deutschland entlarven die unauslöschlichen Narben ihrer Religion:

„Gedenket nicht der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht.“

Fortsetzung folgt.